Erste Fastenpredigt über Personen aus der Passionsgeschichte: Judas | Mittwoch nach Invokavit |
Pfr. Dr. Martens

Um es noch einmal zu betonen: Die christliche Fastenzeit hat nichts mit dem Ramadan zu tun. Wir begehen diese Zeit nicht, weil wir damit einem göttlichen Gesetz folgen, wir begehen sie nicht, weil wir ansonsten fürchten müssten, in der Hölle zu landen. Und erst recht geht es in der christlichen Fastenzeit nicht darum, dass wir tagsüber nichts essen oder trinken dürften und dafür abends nach Sonnenuntergang umso reichlicher das Versäumte nachholen. Sondern alles, was wir als Christen in der Fastenzeit tun oder worauf wir verzichten, hat nur einen Sinn und nur ein Ziel: Dass uns Christus immer lieber und wichtiger wird, dass sich uns sein Leiden und Sterben immer tiefer ins Herz prägt, dass wir immer klarer erkennen, dass wir niemals durch unsere eigenen Bemühungen, unseren eigenen Verzicht, unsere eigene Frömmigkeit selig werden, sondern allein durch das, was er, unser Herr Jesus Christus, für uns getan und erlitten hat. Und genau diesem Ziel sollen auch die Fastenwochengottesdienste dieses Jahres, sollen auch diese Fastenpredigten dienen. Um Personen aus der Passionsgeschichte soll es darin jeweils gehen. Doch wenn wir uns mit ihnen befassen, wollen wir dies unter dem Gesichtspunkt tun, wie sich in ihnen und in ihrem Geschick der Kreuzweg unseres Herrn selber widerspiegelt. Und so sollen uns gerade auch diese Personen helfen, immer besser zu verstehen, was das Kreuz unseres Herrn für uns und unser Leben bedeutet.

Beginnen wollen wir heute mit Judas. Wir haben eben im Heiligen Evangelium von ihm gehört. Zwei Fragen bewegen uns immer wieder, wenn wir an Judas und seinen Verrat denken: Warum hat er das gemacht – und wie passt dieser Verrat des Judas mit Gottes Heilswillen zusammen?

Unfasslich und immer wieder neu erschütternd ist es zu bedenken, dass ausgerechnet einer der zwölf Jünger Jesu, einer derer, die Jesus für seinen Dienst ausgesucht hatte, ihn, seinen Herrn verraten hat. Ja, in der wegen des Passafestes völlig überfüllten Stadt Jerusalem hätten die Feinde Jesu ihn sicher nicht gefunden, wenn sie nicht diesen Insider-Tipp von Judas bekommen hätten, ja, wenn dieser sie nicht direkt zu ihm geführt hätte draußen in den Garten Gethsemane. Warum hat Judas das gemacht? Seit fast 2000 Jahren zerbrechen sich Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche darüber den Kopf. Hier im Heiligen Evangelium wird nur kurz davon berichtet, dass Judas nach dem Geld gefragt hat, das er im Fall eines Verrats als Lohn bekommen würde. Doch wir greifen sicher zu kurz, wenn wir Judas nur als geldgierigen Menschen abstempeln würden, der für Geld eben nicht nur seine Großmutter verkaufen, sondern auch Jesus verraten würde. Dagegen spricht seine Reaktion, die uns St. Matthäus später im Heiligen Evangelium schildert, dass Judas völlig verzweifelt ist, als er mitbekommt, dass Jesus zum Tode verurteilt worden ist. Damit hatte er offenbar überhaupt nicht gerechnet – und das Geld, das er für seinen Verrat bekommen hat, will er darum auch nicht mehr behalten. Wäre Judas nur geldgierig gewesen, ihm hätte alles andere egal sein können. Und dass Jesus nach seinem Verrat zum Tode verurteilt würde, war doch eigentlich auch zu erwarten und keine Überraschung.

Warum hat Judas also Jesus verraten? Seine Verzweiflung zeigt, dass er offenbar erwartet hatte, dass nach der Verhaftung Jesu etwas anderes passieren würde. Erahnen können wir, dass Judas wohl immer noch der Hoffnung anhing, Jesus würde seinen Herrschaftsanspruch als König in Jerusalem politisch durchsetzen, würde endlich anfangen, die Römer aus dem Land zu treiben. Erahnen können wir, dass Judas Jesus offenbar eine ganze Menge zutraute, dass er aber den Eindruck hatte, er müsste bei Jesus wohl ein wenig nachhelfen, damit der endlich zeigt, was er draufhat. Spätestens bei seiner Verhaftung musste er doch wohl zur Revolution aufrufen. Und dann muss Judas diese Pleite miterleben, muss erfahren, dass sein Plan nicht aufgegangen ist, muss mit zusehen, dass der in den Tod geht, den er doch gar nicht in den Tod schicken wollte, den er nur für seine Wünsche und Zwecke gebrauchen wollte.

Nein, es macht in der Tat keinen Sinn, mit dem Finger auf Judas zu zeigen und den Kopf darüber zu schütteln, was er damals mit Jesus gemacht hat. Auf uns selber sollen wir vielmehr schauen und bedenken: Jesus ist ausgerechnet von jemand verraten worden, der ihm ganz besonders nahestand. Judas war in derselben Position, in der wir heute auch sind. Fragen sollen und wollen wir uns daher: Stehen wir auch in dieser Versuchung, Jesus in unserem Leben zu verraten? Stehen wir auch in der Gefahr, nicht an seiner Seite zu bleiben, sondern die Seite zu wechseln – wenn uns das etwa irgendwelche Vorteile schafft oder wenn unser Leben mit Jesus nicht so läuft, wie wir uns das wünschen und vorstellen? Und wie viel Geld reicht bei uns aus, dass wir für Jesus keine Zeit mehr haben, dass anderes mit einem Mal wichtiger wird als er? Es mag ja sein, dass wir Jesus nicht ganz so billig verkaufen wie Judas – aber kennen wir das vielleicht doch auch, dass der Blick aufs Geld wichtiger wird als der Blick auf den gekreuzigten Christus? Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Stehen wir vielleicht auch in der Gefahr, unsere Wünsche und Vorstellungen auf Jesus zu projizieren, ihn nur dann als unseren Herrn anzuerkennen, wenn er uns diese Wünsche und Vorstellungen erfüllt? Ich glaube an Jesus, wenn er mich wieder gesund macht, wenn er mir den Aufenthalt in Deutschland schenkt, wenn er mir ein gutes Gefühl schenkt. Und wenn nicht? Lassen wir ihn dann auch so fallen, wie Judas Jesus fallen gelassen hat? Glauben wir nur an einen selbstgebastelten Wunsch-Jesus oder an den wirklichen Jesus, der gerade nicht immer unseren Wünschen entspricht, der uns gerade nicht den Weg des Erfolgs, erst recht nicht den Weg der Gewalt weist, sondern den Weg der Liebe, die auch zum Leiden bereit ist? Mögen wir uns von Judas wieder neu daran erinnern lassen, wie wichtig es ist, dass wir uns an den wirklichen Jesus halten, an sein Wort, das uns in seine Nachfolge ruft, ja in seine Kreuzesnachfolge!

Und dann ist da noch die andere Frage danach, wie denn nun der Verrat des Judas und der Heilsplan Gottes zusammenpassen. Wollte Gott denn, dass Judas Jesus verrät, konnte der Judas von daher gar nicht anders, als diesem Willen Gottes zu folgen? Jesus selber spricht dieses Thema am Abendmahlstisch an: Nein, niemals ist Sünde Gottes Wille – und weh dem, der mit seiner Sünde nicht den Weg zur Vergebung durch Jesus Christus findet! Aber Gott kann eben auch die Sünde eines Menschen gebrauchen, um seinen Heilsplan durchzuführen. Genau dafür ist das Kreuz Jesu das allerbeste Beispiel: Gott kann selbst noch aus Sünde Heil wirken, Heil für alle Welt.

Von daher ist mir der Judas immer wieder ein großer Trost. Ich stehe ja auch in der Nachfolge des Amtes, das damals dem Judas übertragen worden ist. Und ich ahne und weiß darum, wie oft ich diesem Amt nicht gerecht werde, wie oft ich versage und schuldig werde. Schrecklich wäre es, wenn diese Schuld und dieses Versagen das letzte Wort hätten, wenn von meiner Schuld und meinem Versagen das Heil oder Unheil anderer Menschen abhinge. Doch Gott hat auch heute, genau wie damals, Möglichkeiten, aus Schuld noch Gutes werden zu lassen, Versagen von Menschen zum Heil zu wenden. Darauf vertraue ich in meinem Dienst; das bewahrt mich davor, wie Judas damals zu verzweifeln, wenn ich wieder einmal sehe, was ich mit meinem Tun und Reden angerichtet haben mag. Und das gilt natürlich nicht nur für Pastoren. Das gilt für uns alle, dass wir Gott immer wieder darum bitten dürfen, dass er aus unserer Schuld und unserem Versagen noch Gutes entstehen lässt, dass er uns als seine Werkzeuge gebraucht nicht bloß wegen, sondern oft genug auch trotz all dessen, was wir selber reden und tun.

Gott kann aus Bösem noch Gutes entstehen lassen. Genauso können es gerade auch unsere Geschwister aus dem Iran bezeugen. Ja, richtig böse ist das, was das iranische Regime dort tut, nicht zuletzt auch mit den Christen, die dort so sehr verfolgt werden. Doch Gott gebraucht die Untaten des dortigen Regimes, um Menschen dadurch die Augen zu öffnen für die frohe Botschaft von Jesus Christus, die so ganz anders ist als der Islam, den die Menschen dort erleben. Gott treibt durch die Untaten von Menschen andere Menschen in die Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus, lässt mit jedem Tag, an dem das Regime gegen Christen dort vorgeht, umso mehr Menschen zum Glauben an ihren Herrn Jesus Christus finden. Und so wollen wir darauf vertrauen, dass auch durch all das Schreckliche, was so viele unserer Brüder und Schwestern zurzeit in den Heimen unserer Stadt und unseres Landes erleben, Gott noch Gutes zu wirken vermag – Gutes für sie selber und für andere. Wie das aussehen wird, das weiß ich selber auch noch nicht. Aber wissen dürfen wir: Gott kann es tun – und er wird es tun.

Blicken wir darum in allem Versagen und in allem Schmerz über die Untaten anderer immer wieder auf das Kreuz: Dort sehen wir ihn, unseren Herrn, der auf diese und keine andere Weise uns retten wollte. Blicken wir immer wieder auf das Kreuz: Dort allein liegt unsere Hoffnung, wenn wir selber nur unsere Schuld und unser Versagen sehen. Gott hat all dies auf ihn gelegt – und wird seinen Heilsplan durchsetzen: bei uns und auch in aller Welt. Wie gut, dass wir daran gerade auch durch Judas erinnert werden! Amen.

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