1. Mose (Genesis) 22,1-13| Judika | Pfr. Dr. Martens

Alles, was er hatte und was ihm in seinem Leben lieb geworden war, hatte er zurückgelassen: Seine Familie, sein Haus, sein Auto, seine Freunde, seine Heimat. Alles hatte er zurückgelassen, weil er Christ geworden war, weil die Botschaft von Jesus Christus sein Herz so bewegt hatte, dass er nicht mehr davon lassen konnte. Alles hatte er zurückgelassen, weil sein Leben in Gefahr war, weil er in einem Land lebte, das die, die sich von der Staatsreligion abwandten, mit dem Tode bedrohte. Mühsam, beschwerlich war der Weg gewesen, auf dem er hierher nach Deutschland gekommen war. Die schlimmen Erlebnisse, die er auf diesem Weg durchleiden musste, verfolgten ihn immer noch nachts bis in seine Träume hinein. Aber dann war er schließlich hier in Deutschland angekommen, konnte nun endlich seinen Glauben in Freiheit praktizieren, konnte sich nun endlich taufen lassen. Nun schien alles gut zu sein – in einem Land, das doch versprach, dass man in ihm seinen Glauben frei leben könne. Ja, wie dankbar war er Gott, dass er ihn letztlich doch so gut geführt hatte.

Doch dann erhielt er eines Tages den dicken gelben Brief: Du sollst wieder zurück in die Heimat, stand darin. Wir glauben dir nicht, dass du wirklich ein Christ bist. Wir glauben, dass es dir nicht schwerfallen wird, deinen Glauben in deiner Heimat wieder zu verleugnen. Und dann bist du auch keiner Gefahr ausgesetzt. Ich – kein Christ? Er konnte es nicht fassen: Warum hatte er denn sonst seine Heimat verlassen? Warum hatte er denn alles aufgegeben und sein Leben riskiert? Und nun sagte ihm ein Land, das sich mitunter immer noch gerne als christlich bezeichnete, er könne ja wieder seinen Glauben als Muslim praktizieren; hier in Deutschland habe er nichts zu suchen. Was für ein Land ist das, fragte er sich – ja, mehr noch: Was für ein Gott ist das, der mich alles aufgeben lässt, was ich besaß – und mir am Ende dann auch noch die Zukunft raubt, mir alles nimmt, was er mir doch scheinbar schon so fest geschenkt hatte? Was für ein Gott ist das, der nicht einschreitet, wenn Menschen bitteres Unrecht widerfährt, der mit mir nur noch zu spielen scheint? Ja, Schwestern und Brüder, solche Verzweiflung erlebe ich in meiner Arbeit in unserer Gemeinde mittlerweile fast jeden Tag.

Ja, ich kann diese Fragen nur allzu gut verstehen. Sie gehen auch mir immer wieder durch den Kopf: Da schickt uns Gott all diese wunderbaren Menschen; wir dürfen erleben, wie sie im christlichen Glauben fest verwurzelt sind – und dann will er uns so viele davon wieder nehmen, nur weil ein Staat sich anmaßt, Entscheidungen zu treffen, bei denen er bei weitem seine Kompetenz überschreitet und Menschen Unrecht zufügt? Was spielt denn da Gott für ein Spiel mit uns?

Solch eine Geschichte wird uns auch in der alttestamentlichen Lesung dieses Sonntags erzählt: Da hatte der Abraham auf Gottes Ruf hin alles verlassen, was er hatte: Seine Familie, sein Haus, seine Heimat, hatte auf alle Sicherungen verzichtet im Vertrauen darauf, dass Gott seine Verheißungen an ihm wahrmachen würde. Menschlich gesprochen war es Irrsinn gewesen, was Gott da von ihm erwartet hatte – und auch, was er ihm versprochen hatte: Einen Sohn im hohen Greisenalter. Doch Abraham hatte Gott vertraut – und durfte erleben, dass Gott sein Versprechen an ihm wahrmachte: Gott schenkt ihm doch noch einen Sohn, den Isaak, den, der seinem ganzen Leben nun einen Sinn gab, der ihm Zukunft und Hoffnung versprach. Was für eine Freude für Abraham! Nun schien am Ende alles gut zu werden!

Doch dann wird diese Freude, diese Hoffnung, ja die ganze Zukunft, die Abraham besaß, von keinem Geringeren als von Gott selbst in einigen wenigen Augenblicken zerstört: Gott meldet sich erneut bei Abraham – und fordert von ihm Unfassliches: Seinen Sohn soll er schlachten und opfern, ihn, den einzigen, ihn, den Abraham so unendlich lieb hat. Was für ein Irrsinn: Gott selber will ihm wieder nehmen, was er ihm einst versprochen und geschenkt hatte. Ja, was ist das für ein Gott?

Und Abraham – der macht tatsächlich, wozu Gott ihn auffordert: Er steht früh auf, macht seinen Esel fertig, nimmt zwei Knechte und seinen Sohn Isaak mit – nicht zu vergessen das Brennholz, das man für ein Brandopfer brauchte. Drei Tage lang sind sie unterwegs – was für eine irrsinnig lange Zeit für Abraham! Die Heilige Schrift beschreibt hier nicht die Gefühle des Abraham; wir können sie ohnehin nur ansatzweise ahnen, können etwas ahnen von der Verzweiflung des Abraham, der nicht nur seine ganze Zukunft opfern soll, sondern dabei auch noch seinem Sohn etwas vorspielen muss – erst recht, als der auch noch anfängt zu fragen, wo denn das Opfertier sei. „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ Was ist das – einfach nur eine Ausrede, oder vielleicht doch ein verzweifelter Glaube gegen allen Augenschein?

Und dann kommen sie schließlich auf dem Berg an, auf dem nach Gottes Willen Isaak nun geschlachtet werden soll. Gleichsam in Zeitlupe beschreibt die Heilige Schrift, was nun geschieht: Wie Abraham dort den Altar baut, wie er das Holz darauf legt, wie er seinen Sohn Isaak festbindet und oben auf den Altar legt, wie er seine Hand ausreckt und das Messer umfasst, um seinen Sohn zu schlachten. Und dann, in der allerletzten Sekunde fährt Gott dazwischen, ruft den Abraham bei seinem Namen, fordert ihn auf, genau das nicht zu tun, was zu tun er ihm kurz zuvor noch geboten hatte. „Nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Und dann sieht der Abraham einen Widder hinter sich im Gebüsch und opfert ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

Nein, Schwestern und Brüder, das ist keine Geschichte, bei der man am Ende einfach nur aufatmet: Ende gut, alles gut. Diese Geschichte hat nicht einfach ein Happy End. Es bleibt zutiefst beklemmend, was Abraham hier erfährt. Er muss erleben, wie Gott sich vollkommen zu widersprechen scheint, wie nichts mehr von seiner Liebe, ja auch von seiner Zuverlässigkeit mehr zu gelten scheint. Er muss erleben, wie Gott schweigt auf dem langen Weg zum Berg Morija, wie sich sein Angesicht immer mehr zu einer Fratze zu verformen scheint. Alles, wirklich alles scheint Gott ihm aus der Hand zu reißen, scheint sein Leben ganz und gar zu zerstören. Was für eine furchtbare Erfahrung, die Abraham hier macht – und was für eine furchtbare Erfahrung muss es nicht weniger auch für Isaak gewesen sein!

Ja, was Abraham hier erlebt, geht noch einmal über alles hinaus, was wir in unserem Leben erfahren müssen: so direkt zu erleben und zu erfahren, dass Gott selber das Opfer des einzigen Sohnes verlangt, das ist so furchtbar, dass man es kaum beschreiben kann. Und doch: Wie gut ist es zugleich, dass die Heilige Schrift gerade auch diese Erfahrung des Abraham schildert! Wie gut, dass sie selber hier nichts schönredet, nichts verharmlost oder auflöst.

Ja, in dieser Geschichte können wir uns wiederfinden, wenn auch wir die Erfahrung machen, dass Gott uns alles zu nehmen droht, was für uns schon so festzustehen schien. In dieser Geschichte können sich die wiederfinden, denen Gott auch alle Zukunftsperspektiven zu nehmen scheint. In dieser Geschichte können sich die wiederfinden, die mit Abraham zusammen auf dem langen Weg unterwegs sind, die erfahren, wie sich dieser Weg endlos hinzuziehen scheint, wie Gott einem im Laufe der Zeit noch die letzten Hoffnungen, an die man sich geklammert hatte, zerstört.

Ja, was ist das für ein Gott, so mögen wir fragen. An diesem Gott könnte man in der Tat irrewerden, gar keine Frage. Ja, letztlich gibt es nur eins, was uns davor bewahren kann, uns von diesem Gott nur noch abzuwenden, der so unerklärlich, so grausam zu sein scheint:

Wir haben in der Geschichte miterlebt, wie Gott im letzten Augenblick noch eingreift, im letzten Augenblick das Opfer des Sohnes doch noch verhindert. Viele, viele hundert Jahre später wird ein Nachkomme Abrahams und Isaaks auch wieder gebunden, ja, mehr noch: festgenagelt an das Holz. Es ist nicht irgendein Nachkomme Abrahams, es ist der eine, der zugleich der einzige Sohn des Vaters ist, der einzige Sohn Gottes selber. Und Gott – der greift nicht ein, selbst als sein Sohn schreit: Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Gott selber erleidet die Schmerzen Abrahams, erleidet die Schmerzen all derer, denen sich der Himmel völlig verdunkelt zu haben scheint. Gott greift nicht ein, lässt zu, dass sein einziger Sohn am Kreuz stirbt – an unserer statt.

Wir sind der Isaak, der im letzten Augenblick ausgetauscht wird gegen den Widder, gegen dieses Tier, das an Isaaks statt geopfert wird. Wir sind der Isaak – festgebunden, unfähig, uns selber zu retten, und dann eben doch verschont, gerettet, weil Gott uns ausgetauscht hat, weil er seinen Sohn für uns hat sterben lassen, damit wir leben können, leben in Ewigkeit.

An diesen Gott, dem wir so wichtig sind, dass er seinen einzigen Sohn für uns sterben lässt, will ich mich halten, wenn ich ansonsten so gar nichts von ihm zu verstehen scheine. An seinen Sohn Jesus Christus, an sein Kreuz will ich mich halten, wenn ich die Wege so gar nicht begreifen kann, die er mich führt. Wenn mir Gottes Angesicht nur noch als Fratze erscheint, will ich in das Gesicht des Gekreuzigten blicken, der dort am Kreuz hängt – aus Liebe zu mir, der dort am Kreuz hängt, um mir eine Lebensperspektive zu schenken, die über alles Unrecht dieser Welt, ja selbst über den Tod hinausreicht bis ins Leben der Auferstehung.

Im Islam ist die Geschichte von dem Opfer Abrahams die Grundlage für das wichtigste religiöse Fest des Jahres, das Opferfest während des Pilgermonats. Überall auf der Welt schlachten Muslime an diesem Tag Tiere und erinnern damit daran, dass Abraham nicht seinen Sohn geopfert hat, sondern stattdessen ein Tier. Doch eben damit zeigen sie, dass sie das Wichtigste nicht wahrgenommen und verstanden haben: das Opfer des einen Sohnes, das alle anderen Opfer für immer überflüssig macht. Wir müssen keine Tiere mehr opfern, wir müssen uns erst recht nicht selbst in die Luft sprengen, um auf diese Weise ins Paradies zu gelangen. Nicht Isaak oder Ismael feiern wir, wenn wir diese Geschichte hören, auch nicht Abrahams starken Glauben. Wir feiern ihn, unseren Gott, der sein letztes, entscheidendes Wort gesprochen hat, als er seinen Sohn für uns dahingegeben hat. So furchtbar diese Geschichte auch ist, die wir heute gehört haben – sie ist am Ende doch eine Christusgeschichte, eine Geschichte, die uns besser verstehen lässt, was auf dem Kreuz von Golgatha tatsächlich passiert ist.

Halten wir uns darum immer das Kreuz vor Augen, wenn wir noch unterwegs sind auf einem Weg, den wir nicht verstehen können. Gott will nicht unser Verderben, Gott will, dass wir leben, ewig leben. Und er lässt uns auf diesem Weg auch jetzt schon nicht ohne Stärkung: Der, der am Kreuz gestorben ist, reicht uns schon hier und jetzt seinen Leib und sein Blut, die Wegzehrung auf dem Weg zum Ziel. Gott mag uns in unserem Leben eine Menge abverlangen, mag uns immer wieder bis an unsere letzten Grenzen führen. Doch am Ende ruft er uns dann eben doch beim Namen, lässt uns aufatmen in alle Ewigkeit. Dafür, ja eben dafür hat Gott seinen Sohn nicht verschont. Amen.

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