St. Lukas 16, 19-31 | 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Die Religion ist das Opium des Volkes oder gar Opium für das Volk, so haben es Karl Marx und Lenin behauptet. In der Religion werden die Menschen auf ein besseres Jenseits vertröstet; das schläfert sie hier ein, hindert sie daran, sich hier und jetzt gegen die bestehende Ungerechtigkeit aufzulehnen.

Trifft diese Analyse von Marx und Lenin nicht in der Tat ganz genau auf das Heilige Evangelium dieses Sonntags zu? Statt sich mit anderen Armen zusammenzutun und in das Haus des reichen Mannes einzudringen, bleibt der arme Lazarus einfach bei ihm draußen vor der Tür liegen, unternimmt nichts gegen diese offenkundige Ungerechtigkeit, wartet darauf, dass er irgendwann einmal in Abrahams Schoß zu liegen kommt. Billige Vertröstung auf das Jenseits statt Aufruf zur Veränderung der Verhältnisse – lässt sich so zusammenfassen, was Jesus uns hier erzählt?

Es lohnt sich jedenfalls, sehr viel genauer hinzuschauen. Und dann werden wir feststellen, dass wir mit der Analyse von Marx und Lenin überhaupt nicht zu erfassen vermögen, was Jesus hier verkündigt. Der schläfert gerade nicht ein, sondern will im Gegenteil gerade aufwecken, und zwar noch viel gründlicher aufwecken, als es Marx und Lenin wahrzunehmen vermochten.

Zunächst einmal erzählt uns Jesus hier eine wirklich krasse Geschichte, ganz ungeschminkt, einfach nur schockierend: Da lebt ein Mensch ein Luxusleben in schicken Klamotten und offenkundig in einer ebenso schicken Villa – und direkt draußen vor seiner Tür liegt ein Armer, von schwerer Krankheit gezeichnet, der nur einen Wunsch hat: sich von den Abfällen des Reichen ernähren zu dürfen. Ob ihm dieser Wunsch erfüllt wurde, lässt die Erzählung offen. Wie krass ist das denn: Ein reicher Mensch lässt einen armen direkt vor seiner Haustür liegen, verschließt sich seiner Not, lebt weiter, als ginge ihn das Schicksal dieses Armen nichts an!

Ein Märchen? Eine böse Karikatur, die uns Jesus hier vor Augen stellt? O nein, Schwestern und Brüder! Da hält uns Christus, unser Herr, in der Tat in seinem Wort einen Spiegel vor Augen, in dem wir, Gott geb’s, erkennen können, wie beklemmend aktuell das ist, was Christus uns hier schildert: Reiche Menschen drinnen – arme Menschen draußen, und die reichen tun alles, um die Tür für die armen verschlossen zu halten, lassen sie einfach draußen liegen: Selber schuld, ist doch nicht unser Problem, die sollen uns nicht stören. Wie viele dieser Lazarusse sind in den vergangenen Monaten bei ihrem Versuch, über das Meer in das Haus Europa zu gelangen, ums Leben gekommen, wie viele wurden kaum, dass sie dort angekommen waren, wieder zurückgeschickt, wie viele werden zu dieser Stunde in Lagern unseres angeblich so christlichen Abendlandes nicht viel anders behandelt als der Lazarus hier in unserer Geschichte! Man muss den reichen Mann, von dem Jesus hier berichtet, ja sogar noch in Schutz nehmen: Der kannte den armen Lazarus wenigstens persönlich, konnte ihn schließlich mit seinem Namen bezeichnen. Und er hat es wenigstens ausgehalten, ihn dort vor seiner Tür liegen zu lassen! Wie oft wird dagegen in unserem Land über die Lazarusse vor unserer Tür geredet, ohne dass die, die über sie reden, sie überhaupt kennen würden, und wie oft ertragen wir es noch nicht einmal, diese Lazarusse hier bei uns liegen zu lassen, versuchen alles, um sie von ihrem Lager vor unserer Tür irgendwo hin zu deportieren, wo sie für uns nicht mehr zu sehen sind!

Nein, der Lazarus vor der Tür des reichen Mannes war nicht dazu in der Lage, selber etwas an seinem Schicksal zu ändern; hingeworfen lag er da, so heißt es hier wörtlich. Ob uns das passt oder nicht: Es gibt Menschen, die einfach nur vor unserer Tür liegen, darauf angewiesen sind, dass wir etwas für sie tun, weil sie selber längst vor die Hunde gegangen sind. Und ob uns das passt oder nicht: Jesus macht diese Menschen zu einem Thema seiner Verkündigung, nicht nur hier, sondern an so vielen Stellen gerade im Lukasevangelium, ja, mehr noch: Er setzt unseren Umgang mit diesen Menschen in Verbindung mit unserem ewigen Geschick. Wer sich der Not der Lazarusse vor seiner Tür verschließt, wer sich mehr darum sorgt, dass er ja nichts von dem abgeben muss, was er besitzt, als darum, wie es dem Lazarus vor der Tür geht, der muss sich nicht wundern, wenn er am Ende seines Lebens feststellen muss, dass ihm all sein Besitz doch nichts genützt hat, dass er schließlich sein Leben doch verfehlt hat. Nein, Jesus will uns hier ganz sicher nicht einschläfern, will uns im Gegenteil ganz heftig aufrütteln, dass wir ja nicht über die Lazarusse unserer Tür hinwegblicken oder mit lauter guten Argumenten begründen, warum es für uns einfach nicht möglich ist, dass wir uns um sie kümmern. Der reiche Mann stellt es erst zu spät fest: Nur für sich selber leben zu wollen, ohne die Armen, nur im eigenen Vorteil sein Gutes zu suchen, das ist nicht der Himmel, sondern diese selbstgewählte Isolation stellt sich am Ende als die Hölle heraus.

Ja, aufrütteln möchte uns Jesus mit dieser Geschichte, dass wir ja nicht auf die Idee kommen, anhand unseres Wohlbefindens, anhand unseres Bankkontos feststellen zu können, wie Gott zu uns steht. Es gibt kaum etwas, was so unbiblisch ist wie die Behauptung, Gott würde einen Menschen, der an ihn glaubt, für seine Glaubenstreue und sein Engagement mit Gesundheit und Reichtum belohnen. Nicht der Reiche kommt hier in der Geschichte in den Himmel, sondern gerade der Arme, der, der allen Grund dazu gehabt hätte festzustellen, dass Gott ihn wohl doch nicht liebt, dass Gott ihn wohl doch verworfen hat. Reichtum ist nicht ein Ausdruck von Gottes Wohlgefallen, sondern im Gegenteil eine Hürde auf dem Weg ins Reich Gottes, so macht es Jesus in seiner Verkündigung immer wieder klar. Reichtum verhärtet so leicht die Herzen von Menschen, sodass es schon immer wieder eines besonderen Wunders bedarf, wenn Gott dennoch auch Menschen, die viel besitzen, vor dieser Verhärtung bewahrt, sie davor bewahrt, ihr Herz an ihr Geld und ihren Besitz zu hängen. Und das gilt im Übrigen auch für frühere Lazarusse. Das haben wir eben auch in unserer Gemeinde schon wiederholt erlebt, dass Menschen, kaum dass sie aus der Position des Lazarus herausgekommen waren, kaum dass ihnen geholfen worden war, ihr Gutes im Leben auch nur noch darin suchen, möglichst schnell und viel Geld zu verdienen, möglichst dicht an den reichen Mann hier in unserer Geschichte heranzukommen!

Wo finden wir uns also nun selber in dieser Geschichte wieder? Sind wir der reiche Mann, der sein Herz vor dem Lazarus vor seiner Tür verschließt? Gott geb’s, dass wir uns jedenfalls mit solch einer Rolle nicht einfach zufriedengeben! Oder sind wir der Lazarus, der vor der Tür liegt? Ja, wir haben in der Tat nicht wenige solcher Lazarusse in unserer Gemeinde, Menschen, die aus eigener Kraft nicht mehr dazu in der Lage sind, aufzustehen und weiterzumachen. Vor unserer Tür brauchen sie jedenfalls nicht zu liegen; das erste und mindeste, was wir für sie tun können, ist, ihnen wenigstens die Tür zu öffnen, ja, uns ihnen dann auch zuzuwenden. Und damit kommen wir dem eigentlichen Knackpunkt dieser Erzählung näher:

Wir sind eben noch nicht tot, unser Schicksal ist nicht schon besiegelt wie das des reichen Mannes. Wir haben noch die Möglichkeit, Gottes Wort zu hören wie die Brüder des reichen Mannes damals in der Geschichte auch. Nutzen wir diese Möglichkeit, denken wir daran: Es gibt auch für uns die Möglichkeit des „zu spät“! Hören wir aufmerksam, was Gottes Wort uns gerade auch zum Thema „Geld und Besitz“ zu sagen hat! Hören wir, was Gott von uns im ersten aller Gebote erwartet: ihn selber ganz an die erste Stelle in unserem Leben zu setzen und das, was er uns in seinem Wort sagt. Und hören wir dann eben auch, was uns Gottes Wort über unsere Rettung zu sagen hat: Nein, wir kommen nicht in den Himmel, weil wir genügend von unserem Besitz abgegeben haben, wir kommen nicht in den Himmel, weil wir uns mit genügend Kraft für das Schicksal der Armen und Flüchtlinge in unserem Land eingesetzt haben! Dass wir einmal im Reich Gottes gemeinsam mit Abraham feiern werden, ist und bleibt immer ein völlig unverdientes Geschenk, das Christus uns selber bereitet hat, als er unsere Sünde und Schuld, die Strafe für unsere Eigensucht am Kreuz auf sich genommen und weggetragen hat – ein Geschenk, zu dem wir nicht mehr beitragen können als der arme Lazarus damals auch.

Und dieses Hören auf die Heilige Schrift, auf Gottes Gesetz und auf sein Evangelium, das verändert unsere Herzen, so macht es uns Jesus in dieser Geschichte deutlich. Was alle kommunistischen Umerziehungsversuche nie erreicht haben und nie erreichen werden, das schafft Gott mit seinem Wort: Dass Menschen anders leben, wirklich umkehren und ein neues Leben führen, ein Leben, das nicht mehr auf den eigenen Vorteil ausgerichtet ist, sondern dem Lazarus vor der Tür an diesem eigenen Leben Anteil gibt.

Nein, Gottes Wort ist kein Opium, es schläfert uns nicht ein, sondern macht uns im Gegenteil noch schmerzempfindlicher. Aber es tröstet und heilt zugleich, bewahrt uns damit zugleich vor Resignation und Gleichgültigkeit. Hört darum auf dieses Wort, lasst euch von ihm zur Umkehr rufen, zum Bekenntnis eures Versagens und zum Empfang der Vergebung! Und lasst euch von diesem Wort dann immer wieder neu die Augen für die Lazarusse vor unseren Türen öffnen; ja, tut euren Mund dann auf für die Stummen, für die, die wie Lazarus selber keine Stimme haben! Noch ist es nicht zu spät für euch! Amen.

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