Jesaja 44, 21-23 | Mittwoch nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Zurzeit tobt hier in Berlin an der Humboldt-Universität in der Fakultät für Evangelische Theologie ein heftiger Streit. Professor Notger Slenczka, der Sohn meines Doktorvaters, hat die These veröffentlicht, dass das Alte Testament eigentlich nicht mehr in den Kanon der christlichen Bibel hineingehört, sondern von uns genauso behandelt werden sollte wie die Apokryphen – laut Martin Luther gut und nützlich zu lesen, aber nicht der Heiligen Schrift gleichgestellt. Wie kommt Professor Slenczka junior zu dieser doch recht erstaunlichen These? Er sagt: Heute behauptet doch kein Theologieprofessor mehr, dass das Alte Testament ernsthaft etwas mit Jesus Christus zu tun hat. Das Alte Testament ist nur Ausdruck einer vorchristlichen Gotteserfahrung, die dann im Neuen Testament noch einmal ganz neu und anders formuliert worden ist. Gegen diese These von Notger Slenczka hat sich nun einiger Widerspruch erhoben – doch dieser Widerspruch ist in der Regel nicht sehr überzeugend, denn diejenigen, die ihm widersprechen, gehen eigentlich zumeist auch selber von dieser Voraussetzung aus, dass das Alte Testament in Wirklichkeit gar nicht von Jesus Christus spricht, sondern wirklich nur ein jüdisches Buch ist, mehr nicht.

Nun haben wir eben eine Lesung aus dem Alten Testament gehört – ausgerechnet in der Woche des Trinitatisfestes! Müssten wir nun nicht auch ehrlicherweise sagen: Was wir da gehört haben, ist die Beschreibung einer jüdischen Gotteserfahrung, aber die hat letztlich doch mit uns, mit unserem christlichen Glauben, erst recht mit dem Bekenntnis zum Dreieinigen Gott nichts zu tun?

O nein, genau das Gegenteil ist richtig. Wir haben diese Worte gehört in der Gewissheit, dass hier nicht bloß irgendein Prophet seine persönliche Gotteserfahrung, seine persönlichen Vorstellungen von Gott zum Besten gegeben hat. Sondern wir haben sie gehört in der Gewissheit, dass es der lebendige Gott selber ist, der damals durch den Mund des Propheten zu seinem Volk Israel gesprochen hat und der kein anderer ist als der Vater Jesu Christi. Das Alte Testament gehört in die christliche Bibel, weil in ihr derselbe Gott spricht wie im Neuen Testament – und das heißt nun in der Tat: weil in ihr derselbe Dreieinige Gott spricht wie im Neuen Testament. Wir erfahren hier in unserer Predigtlesung nicht bloß etwas darüber, wie sich Menschen vor 2500 Jahren Gott vorgestellt haben, sondern wir erleben mit, wie Gott sich seinem Volk vorstellt – und damit schließlich nun auch uns.

Viele Menschen denken ja, wenn sie hören, dass von der Dreieinigkeit Gottes geredet wird, dass das irgendein komplizierter Gedanke ist, etwas ganz Abstraktes, womit man als Normalsterblicher eigentlich gar nichts anfangen kann, ja, worauf man als Normalsterblicher in seinem Glauben auch ganz gut verzichten kann. Doch in Wirklichkeit geht es im Bekenntnis zum Dreieinigen Gott um eine ganz einfache Botschaft: Gott ist kein ferner, unerreichbarer Gott, kein Gott, der nur für sich bleiben will und zu seinen Geschöpfen eigentlich keinen näheren persönlichen Bezug hat. Sondern Gott ist Liebe, und in dieser Liebe sehnt er sich danach, seine Geschöpfe, die sich von ihm entfernt hatten, in seine Gemeinschaft zurückzuholen. Das ist die Geschichte, die uns im Neuen Testament erzählt wird – und genau diese Geschichte vernehmen wir nun auch hier in den Worten unserer Predigtlesung: Gott hat zu seinem Volk eine innige persönliche Beziehung, spricht zu ihm voller Liebe: „Du bist mein Knecht!“ – Das klingt für uns erst einmal so, als ob Gott Israel damit klein machen will. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: „Knecht“ bedeutet hier so viel wie „Schutzbefohlener“. Es bedeutet: Ich bin für dich verantwortlich, ich sorge für dich. Wie wunderbar! Der Schöpfer des ganzen Universums erklärt, dass er eine ganz persönliche Beziehung zu einer Gruppe von Menschen hat, die ihre Heimat verlassen mussten und nun bereits seit vielen Jahren in Asylbewerberheimen im heutigen Irak hausten, eine persönliche Beziehung zu Menschen, die angesichts ihres Lebensschicksals allmählich zu dem Ergebnis zu kommen schienen, dass Gott sie wohl doch vergessen haben dürfte.

Doch was macht dieser Gott, der scheinbar kein Interesse mehr an seinem Volk hat? Er erklärt: Israel, ich vergesse dich nicht! Er, der lebendige Gott, wirbt um die Liebe seines Volkes, will sein Volk trösten, ermutigen, aufrichten. Ja, so ist er, der lebendige, dreieinige Gott, der Gott, an den wir glauben: Er möchte, dass wir dies eine immer wissen: Er vergisst sein Volk, er vergisst auch uns nicht, ganz gleich, wie unser Lebensschicksal auch aussehen mag.

Und dann fügt er noch etwas hinzu, was entscheidend wichtig ist, damit wir ihn, den lebendigen Gott, recht verstehen können: Er weiß, was das entscheidende Problem von uns Menschen ist, das wichtigste Problem, das unbedingt gelöst werden muss: Es ist unsere Sünde, unsere Trennung von ihm, dem lebendigen Gott. Es ist unsere Sünde, die wir nicht verschwinden lassen können, die wir nicht aufwiegen können mit unseren guten Werken, mit irgendwelchen Opfern, die wir bringen. Die klebt an uns, so zäh, dass es für uns völlig unmöglich ist, uns ihrer zu entledigen. Und sie verschwindet natürlich erst recht nicht dadurch, dass wir sie ignorieren, verdrängen oder schönreden. Sie bleibt und würde uns für immer getrennt von ihm, dem lebendigen Gott, leben lassen, wenn es nur auf uns ankäme, auf das, was wir in Ordnung bringen können. Doch was wir nicht können, das kann er, der lebendige Gott, ja mehr noch: Er kann es nicht nur, er will es auch, und was er will, das tut er auch: „Ich tilge deine Missetat wie eine Wolke und deine Sünden wie den Nebel.“ Was für ein unglaublich schönes Bild, das Gott hier gebraucht! Das haben wohl die meisten von uns schon einmal erlebt: Man fährt durch eine dicke Nebelsuppe, sieht kaum die Hand vor Augen – doch mit einem Mal bricht die Sonne durch, und in kurzer Zeit ist der Nebel völlig verschwunden, ist nichts, aber auch gar nichts mehr von ihm zu sehen. Er ist einfach weg, weil die Sonne ihn aufgelöst hat. Genau das macht Gott, macht er, der dreieinige Gott, mit uns: Er tilgt unsere Sünden wie den Nebel, ja, das macht er auch jetzt gleich wieder, wenn du ihm, der Sonne Jesus Christus, begegnest hier am Altar, wenn er mit seinem Leib und Blut in dir Wohnung nimmt und so hell in dir strahlt, dass alle Schuld und alles Versagen deines Lebens in diesem Licht verschwinden, sich in nichts auflösen.

Und so ruft es Gott nicht allein dem Volk Israel, ruft er es auch dir zu: Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich! Komm in meine Gemeinschaft, lass dich von mir bescheinen, beschenken, umfangen! O nein, das ist keine vorchristliche Gotteserfahrung, das ist Wort des lebendigen Gottes auch an dich.

Und wenn du vielleicht doch noch meinen solltest, das seien Worte, die nur den Israeliten damals galten, dann höre sie, die letzten Worte unserer Predigtlesung: Was Gott an Israel getan hat, das soll die ganze Welt zum Jubeln und zur Freude bringen, der Himmel und die Tiefen der Erde sollen jauchzen. Er, der lebendige Gott, ist nicht bloß eine vorderasiatische Regionalgottheit, sondern der Herr und Schöpfer der ganzen Welt, des ganzen Universums. Er hat die Welt, er hat die Menschen geschaffen, er setzt alles daran, sie in seine Gemeinschaft zurückzuholen, er vergibt ihnen und tröstet sie mit den Worten seiner Liebe. Ja, so gibt er sich seinem Volk Israel und auch uns heute Abend zu erkennen: Er, der ewig dreieinige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

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