Jesaja 56, 1-8 | Mittwoch nach dem dritten Sontag im Advent | Pfr. Dr. Martens

Wie soll es nun bloß weitergehen mit uns? Das war eine entscheidende Frage, die sich die Juden, die aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem zurückgekehrt waren, stellten. Was für eine Gestalt sollte unser Zusammenleben in Jerusalem nun wieder haben, wer sollte alles mit dazugehören zu dem Volk Gottes, dem Gott auf so wunderbare Weise noch einmal eine neue Zukunft geschenkt hatte, mit der eigentlich kaum noch einer gerechnet hatte? Früher war das alles ganz einfach gewesen: Das Volk wuchs immer weiter dadurch, dass die jüdischen Familien viele Kinder bekamen, die den Fortbestand der Gemeinschaft des Volkes Gottes sicherten. Doch nun waren sie noch einmal in einer anderen Situation: Längst nicht alle derer, die im Exil in Babylon gelebt hatten, waren auch tatsächlich nach Jerusalem zurückgekehrt; sicher ging der Riss auch durch so manche Familie hindurch. Das war vermutlich nicht viel anders als bei unseren russlanddeutschen Familien, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Möglichkeit bekamen, wieder in ihre alte Heimat Deutschland überzusiedeln: viele taten es, andere taten es nicht – und bis jetzt gibt es auch in unserer Gemeinde so manche Familie, deren Angehörige zum Teil noch in Russland und Kasachstan oder der Ukraine und zum Teil in Deutschland leben.

Ja, wie sollte die Zukunft des Volkes Gottes nun in Jerusalem aussehen? Sollte man dort nur unter sich bleiben, darauf hoffen, dass man den eigenen Bestand mit biologischen Möglichkeiten sichert, oder sollten sich für das Volk Gottes noch einmal ganz neue Perspektiven ergeben?

Von solchen neuen Perspektiven ahnten die zurückgekehrten Juden in Jerusalem wohl kaum etwas – bis Gott selbst zu ihnen durch den Mund seines Propheten sprach und ihnen geradezu Unglaubliches ankündigte:

Zunächst einmal kündigt Gott seinem Volk das Kommen seines Heils an – ja, sein eigenes Kommen, mit dem er Heil und Gerechtigkeit verbindet. Diejenigen, die nach Jerusalem zurückgekehrt sind, sollen sich nicht einfach in den bestehenden Zuständen einrichten, sondern ihren Blick immer wieder nach vorne richten, darauf, dass Gott noch viel Größeres für sie vorhat. Und auf diesem Hintergrund des Kommens Gottes öffnet Gott nun die Türen seines Volkes in einer Weise, wie es bis dahin unvorstellbar gewesen war. Zwei Gruppen spricht er ganz konkret an, die künftig auch ihren Platz im Volk Gottes haben sollten: die Eunuchen und die Ausländer, die Fremden.

Ja, das ist etwas, was wir uns heute kaum noch vorstellen können, dass es damals in vielen antiken Kulturen üblich war, Männer zu kastrieren, damit sie keine Familie gründen konnten und ihre Loyalität zwischen ihrem Arbeitgeber und der Familie aufteilten. Eunuchen nannte man diese Männer, „Verschnittene“, so übersetzt es Martin Luther. Eunuchen wurden durchaus höhere Positionen anvertraut; sie galten eben als besonders loyal und zuverlässig. Der Finanzminister von Äthiopien, von dem die Apostelgeschichte berichtet, war beispielsweise solch ein Eunuch. In Israel jedoch gab es diese Praxis nicht; im Gegenteil: Es gab sogar Gesetzesbestimmungen, wonach Eunuchen vom Besuch des Tempels, von der Zugehörigkeit zu Gottes Volk ausgeschlossen waren. Ein richtiges Mitglied des Volkes Gottes war natürlich verheiratet und hatte Kinder – wer dabei nicht mitmachte, hatte in Gottes Volk nichts verloren.

Und dann waren da die Fremden, die Ausländer. Ganz klar war es bis dahin gewesen: Nur wer zum jüdischen Volk von Geburt an dazugehörte, nur wer jüdische Eltern hatte, konnte auch zu Gottes auserwähltem Volk gehören. Mitglieder anderer Völker mussten draußen bleiben – so war es auch im Aufbau des Tempels klar erkennbar, wo es einen Vorhof der Heiden gab, den Bereich, in dem diejenigen bleiben mussten, die nicht zum jüdischen Volk gehörten. Weiter ins Innere des Tempels durften sie nicht.

Doch nun lässt Gott seinem Volk durch seinen Propheten unfassliche Worte verkündigen: Menschen sollen den Zugang zu Gottes Volk, zu Gottes Tempel erhalten, die bisher völlig davon ausgeschlossen waren: Eunuchen sollen künftig zu Gottes Volk gehören, wenn auch sie Gottes Bund festhalten, wenn auch sie den Sabbat halten. Ja, sie sollen sogar die Möglichkeit bekommen, dass ihr Name der Nachwelt erhalten bleibt durch Erinnerungsinschriften im Tempel. Die biologische Fortpflanzung soll nicht mehr die einzige Möglichkeit sein, dass Menschen auch nach ihrem Tod noch in Erinnerung behalten werden. Und genau das Gleiche gilt für die Fremden, die Ausländer. Wenn auch sie sich dem Gott Israels zuwenden, in seinen Bund eintreten, seinen Sabbat halten, dann sollen sie vollen Zugang zum Inneren des Tempels erhalten, dann sollen sie vollwertige Glieder des Volkes Gottes werden. Denn Gott hat sich vorgenommen, zu seinem Volk immer noch mehr Menschen zu sammeln.

Wie hochaktuell ist das, was Gott seinem Volk hier im Buch des Propheten Jesaja verkündigen lässt, auch für uns hier in unserer Gemeinde! Ja, ganz direkt sprechen auch uns diese Worte des Propheten heute an.

Sie lenken zunächst einmal unseren Blick nach vorne, gerade jetzt in dieser Adventszeit: „Mein Heil ist nahe, dass es komme“, so verkündigt es auch uns der Herr. Alles, was wir hier in unserer Gemeinde tun und bedenken, soll immer unter diesem Vorzeichen, unter dieser Überschrift stehen. Niemals kann und darf es darum gehen, dass wir uns hier in unserer Gemeinde einfach gemütlich einrichten, als ob alles so bleiben könne, wie es war, als ob wir die Zukunft unserer Gemeinde auch nur irgendwie im Griff hätten! Nein, wir gehen dem wiederkommenden Christus entgegen; alles, was wir tun, sollen wir stets in seinem Licht bedenken: Wenn Gottes Heil tatsächlich auf uns zukommt, was bedeutet das dann für unser Tun, für unsere Entscheidungen hier in der Gemeinde? Ja, dieser Blick nach vorne kann uns vor so manchem kleinkarierten Denken bewahren!

Und dann schauen wir auf die Menschen, die Gott damals in seinem Volk mit dabei haben wollte, die er auch heute mit dabei haben will. Da sind zunächst einmal die Kinderlosen, diejenigen, deren Leben seine Erfüllung nicht in der Gründung einer eigenen Familie, nicht in der Erziehung der eigenen Kinder gefunden hat. Wie viele dieser Menschen haben wir auch hier in unserer Gemeinde, mich selber ja durchaus eingeschlossen! Wie gut, dass es bei Gott nicht nur einen richtigen Lebensentwurf gibt, dass Menschen die Erfüllung ihres Lebens gerade auch dadurch finden können, dass sie in der Familie Gottes ihren Platz finden, sich dort mit ihren Gaben einbringen! Ja, natürlich ist es schön und richtig, wenn Menschen heiraten und Kinder bekommen; natürlich ist es wunderbar, dass wir hier bei uns in der Gemeinde so viele Kinder haben und immer mehr dazukommen. Aber du kannst Gott auch auf andere Weise dienen, auch ohne eigene Kinder, kannst dir von Gott in seinem Haus auch auf andere Weise deinen Platz zuweisen lassen! Wie tröstlich, wie aktuell ist das, was Gott hier durch seinen Propheten verkündigen lässt, auch für uns!

Und dann sind da natürlich auch noch die Fremden, die Ausländer, die nach Gottes Willen in seinem Volk ihren Platz finden sollen und dürfen. Natürlich dürfen wir nicht den Fehler machen, aus dem deutschen Volk nun mit einem Mal Gottes auserwähltes Volk zu machen, in dem nun auch Iraner und Afghanen ihren Platz finden. Die Vorrangstellung des jüdischen Volkes, sie bleibt bestehen – und wenn nun so viele Iraner und Afghanen in unsere Gemeinde kommen, dann sollten wir niemals vergessen, dass ihre Vorfahren schon zu einer Zeit Christen waren, als wir hier in Deutschland immer noch Thor und Donar verehrt hatten. Aber dass Gott möchte, dass sein Haus zu einem Bethaus für alle Völker wird, das ist doch auch für uns so aktuell. Gott möchte nicht, dass nur Menschen aus einem Volk sich in seinem Haus versammeln. Auch und gerade Menschen, von denen man sich früher gar nicht vorstellen konnte, dass sie je zu diesem Haus kommen würden, sollen in ihm ganz zu Hause sein, nicht bloß als Glieder zweiter Klasse. Was uns zusammenschließt, ist nun nicht länger das Halten des Sabbat. Was uns zusammenschließt, ist die gemeinsame Taufe, ist die gemeinsame Teilhabe am Leib und Blut des Herrn im Heiligen Mahl, die Teilhabe an dem einen Opfer, das Christus für uns am Kreuz von Golgatha dargebracht hat. Und da spielt es dann in der Tat keine Rolle, ob diejenigen, die hier am Altar knien, aus Deutschland oder den USA, dem Iran, dem Irak, aus Syrien, Afghanistan oder Pakistan kommen. Wichtig ist einzig und allein, dass sie durch die Taufe in Gottes Bund aufgenommen worden sind. Ja, Gott will Menschen aus allen Völkern in seinem Volk sammeln – so hat er es schon im Alten Testament angekündigt, und so erfüllt er es nun auch hier in unserer Mitte.

Und Gott hat eben noch ein Versprechen auf Lager: „Ich will noch mehr zu der Zahl derer, die versammelt sind, sammeln.“ Ja, das will er ganz offenkundig, so können wir es hier bei uns bezeugen. Seine Planungen sind noch einmal ganz andere als unsere. Er sammelt, denn sein Heil ist nahe. Wer wollte ihn daran hindern? Amen.

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