Jesaja 57,15-19 | Mittwoch nach Kantate | Pfr. Dr. Martens

Das klingt am Anfang unserer Predigtlesung ja fast wie ein Zitat aus dem Koran: So spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist. Gott der ganz Große, der, der alle menschlichen Dimensionen sprengt – das ist ja alles natürlich auch nicht falsch. Gott ist kein Gartenzwerg, den man irgendwo in der Ecke seines Lebens aufbauen und irgendwo hin und herschieben kann, wie es einem passt. Gott ist wirklich Gott, der Schöpfer des Universums, in dessen Nähe wir eigentlich vergehen müssten, ja, vor dem wir mit unserem Leben niemals bestehen könnten. Ganz klar, davon hat auch der Koran eine Ahnung, ja, das ist eigentlich die Botschaft des Korans schlechthin.

Doch da, wo der Koran eigentlich schon wieder aufhört, fängt die Heilige Schrift, fängt er, der lebendige Gott, jawohl, der Hohe und Erhabene, erst gerade an. Denn er, der Hohe und Erhabene, macht uns deutlich, wo er zu finden ist, ja, wo er wohnt. Er gibt uns allen Ernstes eine Meldeadresse an, unter der wir ihn erreichen können. Ich wohne in der Höhe, sagt Gott, jawohl, das ist klar, und im Heiligtum – ja, das ist schon ungewöhnlicher, aber das Wort könnte man immer noch auf das himmlische Heiligtum, den Himmel beziehen. Aber dann fährt Gott fort: „und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind“. Gott wohnt bei den Menschen, quartiert sich gleichsam bei ihnen in der WG ein – doch nein, nicht einfach allgemein bei „den Menschen“, sondern bei denen, die zerschlagenen Geistes sind, bei denen, die ganz kaputt sind, weil sich alle ihre Zukunftshoffnungen zerschlagen haben, weil sie den Eindruck haben, dass Gott sie verlassen hat, weil sie leiden unter den Folgen ihrer Schuld und ihres Versagens, weil sie überhaupt nicht mehr erkennen können, wie es bei ihnen weitergeht. Da wohnt Gott, da zieht er ein, da lässt er sich finden. Nicht bei denen, die immer nur gut drauf sind, die keine Probleme haben, sondern bei den Kaputten, bei den Verzweifelten, oder, mit den Worten des Heiligen Evangeliums dieser Woche: bei den Mühseligen und Beladenen.

Und so dürfen und sollen wir also damit rechnen, dass er, der Hohe und Erhabene, allen Ernstes auch hier bei uns wohnt, in der Mitte unserer Gemeinde, in der es so viele Menschen mit zerschlagenen Herzen gibt, in der es so viele Kaputte gibt, die einfach nicht mehr weiter wissen. Gott – ganz nahe bei uns?! Schwestern und Brüder, wir haben uns vielleicht sogar an diese Botschaft schon so sehr gewöhnt, dass wir gar nicht mehr auf die Idee kommen, darüber zu staunen, was das eigentlich bedeutet. Einige Kapitel vorher im Jesajabuch berichtet der Prophet Jesaja, dass er den Herrn selber gesehen habe – auf einem hohen und erhabenen Thron. Und was war seine Reaktion, als er so mit der Gegenwart Gottes konfrontiert wurde? Er schrie auf: Weh mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen! Gott in der Nähe zu haben, ist nicht einfach automatisch etwas Nettes oder Schönes, das müsste eigentlich unseren Tod bedeuten.

Und nur auf diesem Hintergrund können wir eigentlich zu ahnen beginnen, wie unfasslich das ist, was Gott seinem Volk hier in den Worten des Propheten mitteilt: Gott sagt: Jawohl, ich war zornig über mein Volk, und ich hatte allen Grund dazu, zornig zu sein, mich von ihm abzuwenden. Denn sie wollten nichts von mir wissen, hatten sich ihrerseits doch längst von mir abgewandt, hatten ihr Herz an alle möglichen anderen Dinge gehängt, statt an mich. Doch dann erklärt Gott: Ich will nicht für immer über mein Volk zürnen, ich will es nicht weiter strafen. Und was führt er als Grund dafür an? Haben sich die Menschen, die zu seinem Volk gehören, gebessert, haben sie sich Mühe gegeben, nun doch ein besseres Leben zu führen? Haben sie vielleicht doch auch so viele gute Werke getan, dass sie damit ihre Sünde aufwiegen könnten? Sind sie vielleicht doch einfach so nett, dass Gott am Ende doch nicht lange böse über sie sein kann? Nein, nein und noch einmal nein!

Unfasslich ist es eigentlich, was Gott hier als Begründung dafür anführt, dass er sein Volk nicht länger strafen, es nicht vernichten will: Es ist nämlich keine andere Begründung als allein die, dass Gottes Liebe ihn selber überwältigt, dass er es einfach nicht ertragen kann, mitzuerleben, wie sein Volk mit seiner Abwendung von ihm vor die Hunde geht: „Sie gingen treulos die Wege ihres Herzens. Ihre Wege habe ich gesehen – aber ich will sie heilen.“ So verkündigt es Gott. Aber ich will sie heilen – nichts, aber auch gar nichts hat sein Volk zu dieser Sinnesänderung Gottes selber beigetragen. Es verharrt in seiner Sünde, auf seinem falschen Weg. Aber Gott gibt nicht auf, macht sich daran, sein Volk von dem Weg, der ins Verderben führt, abzubringen: „Ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen; sonst würde ihr Geist vor mir verschmachten und der Lebensodem, den ich geschaffen habe.“ Das ist Gottes Logik der Rettung: Er belohnt nicht die Bemühungen seines Volkes, sondern er erklärt, dass er gleichsam gegen sein eigenes Erbarmen nicht ankommt: Wenn er sieht, wie sich sein Volk zugrunde richtet mit seiner Sünde, muss er doch etwas unternehmen, muss er doch anfangen zu heilen.

Und wie Gott heilt, das hatte er gerade wenige Kapitel zuvor sehr eindrücklich geschildert, hatte schon damals im Alten Testament seinem Volk die Gestalt des Knechtes Gottes vor Augen gestellt, hatte seinem Volk verkündigen lassen: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Ja, durch ihn, Christus, hat Gott seine ganz große Heilungsaktion begonnen, hat er den Frieden geschaffen, der allein der wahre Friede ist: Der Friede im Verhältnis zwischen ihm, Gott, und den Menschen, der Friede, der bis heute hier in jedem Gottesdienst verkündigt und ausgeteilt wird: Ja, der Friede des Herrn sei mit euch allen!

Und das hat Auswirkungen, so lässt es Gott hier seinem Volk verkündigen: „Ich will sie heilen und sie leiten und ihnen wieder Trost geben und denen, die da Leid tragen, will ich Frucht der Lippen schaffen.“ Gott heilt, die zerbrochenen Herzens sind, er nimmt Schuld weg, schenkt Trost und Hoffnung da, wo scheinbar überhaupt keine Zukunftsperspektive besteht, lässt Menschen selbst im Leid noch getröstet singen.

„Frucht der Lippen“ – ja, wir sind in der Woche des Singesonntags Kantate, in der es um diese Frucht der Lippen, um den Lobpreis Gottes geht. Und in der heutigen Predigtlesung haben wir erfahren, warum wir so viel Grund zum Singen haben, auch und gerade dann, wenn wir in unserem Leben eigentlich ganz unten sind, kaputt und zerschlagen. Denn Gott will nicht, dass wir endgültig kaputt gehen, er will uns erst recht nicht wegen unserer Sünde vernichten. Er will uns aufrichten durch seine Gegenwart, ja auch heute wieder, wenn wir nun gleich den heiligen Leib und das heilige Blut unseres Herrn empfangen. Da erfahren wir es wieder aufs Neue, wie gut wir es haben, dass uns Gott so nahe kommt und dass diese Nähe für uns nicht den Tod, sondern das Leben bedeutet, da wird uns das Heilmittel, die Medizin der Unsterblichkeit geschenkt, der Friede, den wir selber niemals schaffen können. Da werden wir getröstet und aufgerichtet, dass wir danach wieder fröhlich mit Simeon singen können: Herr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast. Ja, Friede, Frieden, denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der HERR; ich will sie heilen. Darum singen wir Christen, darum ist das Singen ein Markenzeichen von uns Christen. Denn Gott kommt zu uns, um uns zu heilen, jawohl, er, der auferstandene Herr, der Gottes Zorn endgültig auf sich genommen hat. Ja, eben darum haben wir es als Christen so gut, dass wir es nicht für uns behalten können. Da kann man tatsächlich nur noch singen. Amen.

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