Philipper 4, 4-7 | Vierter Sonntag im Advent | Pfr. Dr. Martens

Es ist schon eine ganz besondere Stimmung, die in diesen Tagen und Wochen in unserer Gemeinde herrscht – eine Stimmung so ganz anders als die, die wir ansonsten zumeist in unserer Umgebung erleben. Diejenigen, die heute Morgen hier in der Kirche sitzen, sind zumeist nicht gezeichnet vom Vorweihnachtsstress, von der Hetze von einer besinnlichen Weihnachtsfeier zur anderen, von der Jagd nach Weihnachtsgeschenken für die gesamte Verwandtschaft und Bekanntschaft. Diejenigen, die heute Morgen hier in der Kirche sitzen, planen in aller Regel keine großen Feierlichkeiten am kommenden Donnerstag und den folgenden Tagen, kein großes Familienfest, plagen sich nicht unbedingt mit dem Gedanken herum, wie denn nun die Gans Ende dieser Woche am besten zubereitet wird. Nein, diejenigen, die heute Morgen hier sitzen, fiebern in aller Regel nicht gespannt der Bescherung am Heiligen Abend entgegen. Ich werde die meisten heute nach dem Mittagessen noch einmal auf Farsi darauf aufmerksam machen müssen, dass wir diese Woche merkwürdigerweise am Donnerstagnachmittag und Donnerstagabend hier Gottesdienste haben werden und dass sie gut daran tun, möglichst noch mal vor Donnerstag einkaufen zu gehen, weil ab Donnerstagnachmittag die Geschäfte erst mal geschlossen sind.

Nein, kein Vorweihnachtsfieber herrscht heute Morgen hier bei uns – eher eine Mischung aus freudiger Erleichterung und Sorge. Da gibt es diejenigen unter uns, die in den vergangenen Wochen und Monaten hier in Deutschland eingetroffen sind und erst einmal froh und erleichtert sind, dass sie es geschafft haben, dass sie hier sind, dass sie vielleicht sogar schon die Zusage erhalten haben, hier in Berlin für die Dauer ihres Asylverfahrens bleiben zu dürfen. Da gibt es diejenigen unter uns, die sich in diesem Jahr so sehr in der Gemeinde engagiert haben und nun am Ende dieses Jahres erleichtert feststellen, dass so vieles gelungen ist, was wir uns am Anfang dieses Jahres kaum hätten vorstellen können, dass kein einziges Gemeindeglied bisher in diesem Jahr abgeschoben worden ist, dass wir finanziell in diesem Jahr über die Runden gekommen sind, dass die Bauarbeiten vorangekommen sind, ja, dass es uns als Gemeinde überhaupt gibt. Aber da ist dann zugleich auch die Sorge, die ich in diesen Tagen in Gesprächen immer wieder vernehme: Wie soll es hier in unserer Gemeinde nun noch weitergehen? Wie sollen wir diesen Zustrom von neuen Taufbewerbern noch weiter bewältigen? Wie können wir es überhaupt noch schaffen, hier in dieser so groß gewordenen Gemeinde menschlich noch beieinander zu bleiben? Und manche fragen eben auch: Wie soll der Pastor das eigentlich alles noch arbeitsmäßig schaffen?  

Und eben auf diesem Hintergrund fangen die Worte unserer heutigen Epistel noch einmal ganz neu an zu leuchten. Denen unter uns, die schon länger Christen sind, sind diese Worte so vertraut, dass wir oft kaum noch hinhören, weil wir sie schon allzu gut zu kennen glauben. Doch in Wirklichkeit sind diese Worte so hochaktuell, können uns helfen, eine Gemeinde zu werden und zu bleiben, die ganz aus dem Advent ihres Herrn lebt.

„Der Herr ist nahe!“ – so ruft es der Apostel den Christen in Philippi, so ruft er es auch uns zu. „Der Herr ist nahe!“ – Wir wissen es doch eigentlich genau und haben es doch zugleich so dringend nötig, dass uns das wieder ganz groß vor Augen gemalt wird. Denn wenn wir in diesen Tagen und Wochen an die Entwicklungen in unserer Gemeinde denken, da mögen wir alles Mögliche vor Augen haben, aber nicht unbedingt als erstes, dass der Herr nahe ist. Dass der Herr nahe ist, heißt ja ein Doppeltes: Es heißt zum einen: Wir gehen dem Tag der Wiederkunft unseres Herrn entgegen. Und das, was wir jetzt auch hier in unserer Mitte erfahren, ist ein starkes, deutliches Erinnerungszeichen, das uns hinweist auf das Kommen des Herrn. Wohl noch nie in der Geschichte der Kirche haben so viele Muslime den Weg zu Jesus Christus gefunden wie in diesen beiden letzten Jahrzehnten. Allen Völkern soll das Evangelium verkündigt werden – und siehe, es geschieht eben auch hier in unserer Mitte! Und dass der Herr nahe ist, bedeutet zum anderen, dass er hier und jetzt in unserer Mitte gegenwärtig ist, wenn wir sein Wort hören, wenn wir sein Mahl feiern. Er, Christus, ist nahe; er ist es, der seine Kirche in unserer Mitte baut.

Höre es also genau, was Gottes Wort dir hier verkündigt. Paulus schreibt nicht: Die Kapazitätsgrenze der Gemeinde ist nahe; er schreibt nicht: Das Ende der Geduld der Gemeindeglieder ist nahe. Und er schreibt auch nicht: Der Zusammenbruch des Pastors ist nahe! Sondern er lenkt unseren Blick auf die tiefste Realität, die all das bestimmt, was hier in unserer Gemeinde geschieht: Der Herr ist nahe! Er kommt, um eine neue Welt zu schaffen – und jetzt ist Erntezeit, Zeit, in der Menschen gesammelt werden zum Leben in dieser neuen Welt. Wenn wir das nicht wahrnehmen, greifen wir viel zu kurz in all unseren Überlegungen über die Zukunft unserer Gemeinde. Und wir greifen eben auch viel zu kurz, wenn wir in diesen Überlegungen immer wieder nur darauf bedacht sind, was wir tun müssen, wie wir denn nun die Zukunft unserer Gemeinde am besten sichern können. Der Herr ist nahe! Das ist die Realität, die unsere Gemeinde bestimmt, das ist der Grund für alles, was hier in unserer Mitte geschieht. Jesus ist nicht bloß eine religiöse Verzierung unserer Gemeinde; er ist und bleibt der lebendige Herr. Ja, glauben wir allen Ernstes, das würde ohne Folgen bleiben, wenn sich immer wieder so viele Menschen hier um unseren Altar scharen, um den Leib und das Blut des Herrn zu empfangen? Wir feiern hier doch kein Gedächtnismahl! Nein, der Herr ist nahe! Wir werden noch staunen, was dieser nahe Herr auch in Zukunft in unserer Mitte bewirken wird.

Und von daher gilt der Ruf des Apostels eben auch uns: „Sorgt euch um nichts!“ Es ist vielleicht ganz hilfreich, daran zu erinnern, dass der Apostel Paulus diese Worte in einem Gefängnis schrieb, gezeichnet von Verhören und von Folter, nicht wissend, ob er bald schon hingerichtet werden oder noch einmal in die Freiheit entlassen werden würde. Paulus schreibt seinen Brief nicht in einem Liegestuhl an einem schönen Pool in der Karibik; er schreibt ihn nicht, weil er sein Leben völlig im Griff, völlig durchgeplant hätte, weil er alle Risiken des Lebens abgesichert hätte. Der einzige Grund dafür, dass wir uns um nichts, wirklich um gar nichts zu sorgen brauchen, ist die Nähe des Herrn.

„Sorgt euch um nichts!“ – Genau das haben wir in unserer Gemeinde in diesem Jahr in so vielfältiger Weise immer wieder erfahren dürfen. Unser naher Herr hat uns in diesem Jahr in unserer Gemeinde auf so wunderbare Weise geführt, uns immer wieder genau zur richtigen Zeit gegeben, was wir brauchten, hat uns in unserem Kleinglauben immer wieder beschämt. Ja, er hat in der Tat viel, viel besser für uns gesorgt, als wir dies mit all unseren Sorgen, ja mit all unseren Anstrengungen je hätten erreichen können. Und er hat uns zugleich auch gelehrt, ihm zu vertrauen, dass er uns führt, auch wenn wir den Weg selber kaum erkennen können. Ich habe, ehrlich gesagt, auch keine Ahnung, wie wir all die praktischen Herausforderungen, vor die wir nun gerade in diesen letzten beiden Monaten gestellt worden sind, auch nur irgendwie bewältigen sollen. Wenn ich dienstags eine knallvolle Kirche voller Taufbewerber vor mir sehe, dann frage ich mich natürlich auch, wie das in der Zukunft alles funktionieren soll, wie wir die alle auch noch unterbringen sollen. Ja, natürlich ist es nicht falsch, wenn wir uns darüber auch Gedanken machen. Und doch gelten die Worte des Apostels auch uns: „Sorgt euch um nichts!“ Nein, Paulus sagt: Sorgt euch etwas weniger intensiv, sorgt euch nicht um jede Kleinigkeit. Er sagt: Sorgt euch um nichts! Das wollen wir jetzt auch einfach mal ernst nehmen, uns nicht von der Sorge treiben lassen, auch wenn wir scheinbar dazu Grund genug hätten. Christus weiß, was er tut – das soll uns reichen.

Danksagung ist von daher immer wieder angesagt, neben allen Bitten und allem Flehen, das gewiss auch in unseren Gebeten seinen festen Platz haben kann und soll. Aber bevor wir bitten, und erst recht bevor wir uns sorgen, wollen wir Christus immer wieder zuerst und vor allem danken für die Wunder, die er in unserer Mitte geschehen lässt, für die Menschen, die er uns geschenkt hat, für die Möglichkeiten, die er uns geschenkt hat, seine gute Botschaft zu verkündigen. Und dann kommt alles andere, wenn wir erst einmal bedacht haben, was Christus schon für uns getan hat. Dann werden wir auch wissen, wie wir in der rechten Weise beten und flehen!

Ja, was Christus an uns und in unserer Mitte tut, das ist höher als alle Vernunft, das übersteigt unser Verstehen und Planen, auch all unsere Einwände und Zweifel. Mit seinem Frieden umhüllt er uns, lässt uns immer wieder neu geborgen in ihm leben. Frieden – Aramesh: Ach, wie oft habe ich von Gliedern unserer Gemeinde gehört, dass sie eben dies in der Gegenwart unseres Herrn hier im Gottesdienst erfahren. Dieser Friede reicht weiter; es ist ein ganz anderer Friede als der, den ich mir irgendwo in einem Yoga-Studio holen kann. Es ist der Friede, den Christus dadurch gestiftet hat, dass er unsere Sünde und Schuld am Kreuz auf sich genommen hat. In diesem Frieden darfst du auch heute wieder nach Hause gehen, ja, dieser Friede ist es, den die Engel über den Feldern von Bethlehem besungen und bejubelt haben. Ganz gleich, wie wir uns auch fühlen mögen, ganz gleich, in was für einer Stimmung wir auch sein mögen, ganz gleich, was uns auch durch den Kopf gehen mag: In diesem Frieden bleibst du geborgen, bleibt unsere Gemeinde geborgen – heute und an jedem neuen Tag. Amen.

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