Prediger 12, 1-8 | Mittwoch nach dem 19. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Seit letztem Jahr habe ich eine Brille. Und in den letzten Monaten brauche ich sie auch immer häufiger, weil ich merke, dass meine Arme immer kürzer werden und ich immer häufiger kleinere Schrift gar nicht mehr lesen kann, auch wenn ich sie noch so weit von mir entfernt halte. Es ist ganz klar: Ich kann nicht mehr so gut sehen wie vor 20 Jahren – und ich weiß genau: Daran wird sich zu meinen Lebzeiten aller Voraussicht nach auch nichts mehr ändern. Im Gegenteil: Ich kann froh sein, wenn ich meine jetzige Lesebrille noch eine Weile behalten kann, wenn sich meine Augen nicht noch weiter verschlechtern. Ja, mein Körper baut allmählich ab; ich bin nicht mehr der Jüngste; in gut sieben Jahren werde ich mit 60 dann schon alle möglichen Angebote für Senioren in Anspruch nehmen können – und ich wäre natürlich froh, wenn ich dazu dann auch überhaupt noch gesundheitlich in der Lage wäre.

Um das Altwerden geht es in der Predigtlesung des heutigen Abends, um das Altwerden, das, wie Joachim Fuchsberger mit Recht formuliert hat, nichts für Feiglinge ist. Ja, das ist eine sehr passende und sehr wichtige Lesung in dieser Woche des 19. Sonntags nach Trinitatis, in der es ja darum geht, dass Christus uns an Leib und Seele heil macht. Doch die Verheißung des christlichen Glaubens besteht nicht darin, dass ein Christ ewig jung bliebe und selbst im hohen Alter von allen Zipperlein verschont bliebe. Auch der gelähmte Mann, von dessen Heilung das Heilige Evangelium dieses Sonntags berichtet und das wir eben nun noch einmal gehört haben, hat irgendwann wieder auf seinem Bett gelegen und konnte sich nicht mehr bewegen, hat irgendwann auch einmal sterben müssen. Und das Gleiche gilt für den Lazarus, von dessen Auferweckung wir vor einigen Wochen im Heiligen Evangelium gehört hatten.

Wir bauen im Alter ab, vor uns liegen Jahre, von denen wir sagen werden: „Sie gefallen mir nicht“, so schildert es uns der Prediger hier in unserer Abendlesung. Ach, wie wunderbar poetisch vermag die Heilige Schrift hier an dieser Stelle das Älterwerden zu beschreiben – so, dass sich sicher so einige heute Abend hier in unserer Mitte auch mit ihren Erfahrungen darin wiederfinden werden. Da ist von den Hütern des Hauses die Rede, von den Händen, die im Alter anfangen zu zittern, dass einem manches schneller aus der Hand gleitet und sich dies auch in unserer Handschrift widerspiegelt. Ach, wie gut, dass wir heute so viele Hilfsmittel haben, ach, wie gut, dass heute auch viele Senioren auf dem Computer zu schreiben gelernt haben! Von den Starken, die sich krümmen, spricht der Prediger weiter, also von den Beinen, die im Alter nicht mehr so schnell den Weg vorwärts finden wie zuvor, erst recht, wenn sie ein Gewicht zu tragen haben, das man sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte so angefuttert hat. Und dann spricht der Prediger so schön von den Müllerinnen, die müßig stehen, weil es so wenige geworden sind, also von den Zähnen, die einem im Laufe der Jahre abhandenkommen. Wie gut, dass es heutzutage Gebisse gibt – und doch: Der Weg dorthin ist kein anderer als der, den der Prediger hier so treffend beschreibt. Von denen, die finster werden, die durch die Fenster sehen, spricht der Prediger weiter, also von den Augen, die sich allmählich eintrüben, was auch heutzutage durchaus nicht immer so einfach durch Operationen behoben werden kann. Und dann kommen die Ohren dran, die immer weniger zu hören vermögen, wie wenn eine Tür sich schließt oder das Klappern einer Mühle leise wird. Umgekehrt merkt so mancher, der schwerhörig ist, dann nicht, wie sich seine Stimme hebt, wie sie immer lauter wird, weil er es selber nicht mehr mitbekommt, wie weit er seine Umgebung an seinen Gesprächen teilhaben lässt. Man muss nur einmal sonntags vor dem Gottesdienst in so mancher Kirche sitzen; da kann man das dann mitunter sehr anschaulich erfahren.

Und wie aktuell ist die Beobachtung, dass es mit dem Alter immer schwerer wird, einen ansteigenden Weg noch zu gehen, wie man Höhenunterschiede wahrnimmt, die man früher gar nicht bemerkt hat. Mir ist das früher gar nicht aufgefallen, dass die Südendstraße von der S-Bahn her Richtung Kirche ansteigt, bis mich einige ältere Gemeindeglieder darauf aufmerksam gemacht haben.

Und schließlich nennt der Prediger dann auch zunächst in Bildern und am Ende auch ganz unverblümt das Ende des Abbaus des Menschen im Alter: Es ist der Tod, mit dem alle Lebensfunktionen des Menschen enden, mit dem auch all das, was jetzt noch bei uns zu funktionieren scheint, einmal endgültig seinen Dienst aufgeben wird.

Doch der Prediger belässt es nicht nur bei dieser schönen Beschreibung der Lasten des Alters. Er verbindet damit auch eine Mahnung und einen Ausblick. Die Worte, die er hier schreibt, richtet er ausdrücklich an junge Menschen, an Menschen in der Jugend ihres Lebens. Sie können sich gar nicht vorstellen, dass es in ihrem Leben einmal anders sein könnte, dass sie einmal nicht mehr schnell laufen, nicht mehr alles sehen, alles hören können. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es heißt, in seinem Leben eingeschränkt zu sein, große Menschenmengen nicht mehr als geiles Event anzusehen, sondern als Anstrengung, der man sich am besten so bald wie möglich entzieht. Doch der Prediger stellt den jungen Menschen nicht nur das Alter vor Augen, das vor ihnen liegt, nein, ausdrücklich sagt er: Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend! Genau das ist nämlich die eigentliche Gefahr, wenn man jünger ist, dass man denkt, man könne einfach alles selber, dass man gar nicht mehr wahrnimmt, dass alles, was man hat und ist, Gabe und Geschenk Gottes des Schöpfers ist.

Der Prediger sagt eben nicht: Versuche jetzt so viel wie möglich in deinem Leben mitzunehmen, versuche, so viel wie möglich Spaß zu haben, bis die Jahre kommen, deren Spaßfaktor nicht mehr so umwerfend ist! Nein, er ermahnt die Jüngeren dazu, nie zu vergessen, dass sie alles, was sie haben und sind, Gott verdanken, dass jeder Tag, den man erleben darf und an dem man gesund ist, ein großes Geschenk des Schöpfers ist, für das man gar nicht dankbar genug sein kann. Ja, um Dank geht es in der Tat immer wieder, dass ich ja nicht auf die Idee komme zu meinen, ich könnte mich ja immer noch mal mit dem lieben Gott befassen, wenn ich älter werde und nichts Besseres mehr zu tun habe. Du weißt nicht, was für Möglichkeiten du später noch haben wirst, den Weg zu Gott in sein Haus zu finden – erst recht, wenn du es nicht in jüngeren Jahren eingeübt hast! Ach, wie erschütternd ist es für mich immer wieder, in Pflegeheimen Menschen zu erleben, die ihren Schöpfer offenkundig schon in ihrer Jugend vergessen hatten und schließlich am Ende ihres Lebens auf ihn überhaupt nicht mehr ansprechbar sind! Und wie beglückend ist es umgekehrt, Menschen im Alter zu erleben, die vielleicht schon vergessen haben, wie sie selber heißen, und die dann doch bei der Hauskommunion noch die ganze Sakramentsliturgie mitsingen, die ihnen aus ihrem Leben so vertraut geblieben ist! Ja, denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend!

Denke an ihn, denn du wirst ihm einmal begegnen – das ist das andere, was der Prediger hier deutlich macht. Mit dem Tod ist nicht einfach alles aus. Dein Schöpfer wird dich einmal danach fragen, was du aus deinem Leben gemacht hast, ja, welche Bedeutung er, dein Schöpfer, in deinem Leben gespielt hat. Dass der Geist wieder zu Gott zurückkehrt, wie es der Prediger hier formuliert, ist eben nicht einfach ein natürlicher Prozess, der alle Menschen nach ihrem Tod im Himmel landen lässt. Der Horizont des Predigers bleibt hier noch begrenzt. Wir wissen heute mehr als der Prediger, wissen um ihn, Jesus Christus, der für unsere Schuld am Kreuz gestorben ist, damit wir einmal in Gottes letztem Gericht bestehen können. Wir wissen um Jesus Christus, der für uns auferstanden ist, damit der Tod für uns nicht einfach nur das Ende eines Abbauprozesses ist, sondern die Tür zu Gottes neuer Welt, in der einmal alle Schwachheit endgültig von uns abfallen wird.

Ja, auch der Abbau des Alters bekommt von daher noch einmal einen ganz neuen Sinn: Er lehrt uns Menschen noch einmal neu, dass wir uns eben nicht aus eigener Kraft den Himmel verdienen können, dass nicht unser menschliches Tun uns rettet. Der Abbau des Alters lässt uns neu lernen, dass wir wirklich ganz und gar allein aus Gnade, ganz ohne unsere Mitwirkung und unser Tun selig werden. Gott geb’s, dass wir diese mitunter auch so schwierige Lektion in unserem Leben lernen, dass uns Christus je länger desto lieber in unserem Leben wird. Ja, wie gut, wenn wir mit dieser Lektion schon in unserer Jugend in unserem Leben begonnen haben und beginnen! Dann bleibt unser Leben nicht hohl und leer, nicht eitel, dann werden wir am Ende einmal Christus in seiner ganzen Herrlichkeit schauen dürfen – ganz ohne Brille! Amen.

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