Römer 11, 25-32 | 10. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Vor kurzem las ich ein interessantes Interview mit dem aus Syrien stammenden Politikwissenschaftler Bassam Tibi. Er berichtet von dem weit verbreiteten Antisemitismus, den er gerade unter vielen arabischsprachigen Flüchtlingen wahrnimmt und den er von seiner eigenen Sozialisation in Syrien noch allzu gut von früher kennt. Da erzählt er beispielsweise von einem Gespräch mit einem arabischen Asylbewerber, der sich verständlicherweise darüber beschwert, dass sein Asylverfahren so lange dauert. Seine Begründung dafür: „Die Juden sind schuld.“ Als Tibi ihn fragt, was denn die Juden mit dem deutschen Asylverfahren zu tun haben, antwortet er: „Hast du nicht gesehen, hier in Göttingen gibt es eine Judenstraße und da sitzen sie und regieren die Stadt.“

„Die Juden sind schuld.“  Es gibt nicht wenige in unserer Gemeinde, die mit solchen Sätzen, mit solchen Gedanken auch aufgewachsen sind und sie immer und immer wieder gehört haben. Während wir hier in Deutschland nach den Verbrechen des Dritten Reiches, gottlob, in unserem Reden über „die Juden“ wenigstens ein ganzes Stück weit sensibler geworden sind, wird Menschen auch im Iran immer wieder das Klischee von den bösen Juden eingeprägt, bis hin zur Holocaust-Karikaturenausstellung in Teheran in diesem Jahr. Das ist nicht einfach, sich von solchem Denken zu lösen, von dem man sein ganzes Leben lang beeinflusst war.

Doch wer Christ werden will, wer die Heilige Schrift als Gottes Wort ernst nehmen will, der kann in diesem Denken nicht verharren, der kann kein Feind der Juden sein und ihnen alle Schuld der Weltgeschichte zuschieben. Genau so macht es uns der Apostel Paulus in der Epistel dieses heutigen Sonntags deutlich. Da geht es ihm ganz um Israel, um sein geliebtes jüdisches Volk, es geht ihm um die Rettung Israels, um die Rettung seiner Brüder und Schwestern. Ja, vergessen wir nicht: Die ganze Bibel ist ein jüdisches Buch, geschrieben von lauter Juden. Die Juden sind sicher nicht an allem schuld, wohl aber daran, dass wir unsere Bibel haben und in ihr lesen und aus ihr zuhören können. Und noch mehr macht Paulus uns hier deutlich: Das Schicksal von uns Christen und das Schicksal der Juden sind unlöslich miteinander verbunden; was Paulus uns hier über „die Juden“ sagt, das betrifft uns alle miteinander ganz unmittelbar. Um dreierlei geht es Paulus hier:

  • um Gottes Treue
  • um Gottes Erbarmen
  • um Gottes Wege

I.

Das geht dem Paulus so richtig an die Nieren: Da sendet Gott seinen Sohn Jesus Christus zuerst und vor allem zu seinem jüdischen Volk als seinen Messias, auf den es doch so lange gewartet hatte. Und dann wollen so viele aus diesem Volk von ihrem Messias, von Gottes größter Liebeszuwendung zu seinem Volk, schlicht und einfach nichts wissen. Wie kann das sein? Nein, das kann doch gar nicht möglich sein, dass Gottes Geschichte mit seinem Volk ausgerechnet an dem Punkt enden soll, wo sie an ihr eigentliches Ziel kommt! Es kann doch nicht sein, dass die ganze Geschichte des Alten Testaments, dass all die Versprechen, die Gott seinem Volk gegeben hat, am Ende doch umsonst waren, keine Bedeutung mehr haben sollten!

Nein, das kann in der Tat nicht sein, so macht es Paulus hier deutlich: Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Wenn Gott etwas versprochen hat, wenn Gott etwas geschenkt hat, dann nimmt er das nicht einfach wieder zurück, weil die, die er berufen hat, die er beschenkt hat, ihn enttäuschen, mit diesen Gaben, mit dieser Berufung nicht in der richtigen Weise umgegangen sind. Auch die Weigerung Israels, Jesus als den verheißenen Messias anzuerkennen, kann und wird Gott nicht dazu veranlassen, wieder rückgängig zu machen, was er seinem Volk zugesagt hat. Gott hat sein Volk Israel zu seinem geliebten Volk erklärt – und dabei bleibt es; das ist unumstößlich. Auf Menschen kann man sich nicht unbedingt verlassen. Doch auf Gott und sein Versprechen ist hundertprozentig, ja tausendprozentig Verlass. Und darum ist und bleibt Israel von Gott erwählt, von Gott geliebt, nicht, weil es sich das verdient hat, sondern schlicht und einfach weil Gott es so will.

Daran, dass Gott so stur an seinen Gaben, an seiner Berufung festhält, hängt auch für uns alles. Da hat Gott auch uns in der Heiligen Taufe zu Gliedern seines Volkes berufen, hat uns mit aufgenommen in die Gemeinschaft seines erwählten Volkes. Da hat Gott auch uns mit seinen Gaben beschenkt in der Taufe – und macht es immer wieder, wenn er uns einlädt, hier im Gottesdienst mit ihm zu feiern. Und da stelle man sich nur einmal vor, Gott könnte und würde das wieder rückgängig machen, was er uns hier verspricht und schenkt! Man stelle sich das nur mal vor, was das bedeuten würde, wenn Gott sagen würde: Okay, dieser Mensch ist getauft – aber jetzt hat er in seinem Leben so oft mein Wort nicht ernstgenommen, hat meine Einladung so oft abgelehnt, hat sich so oft meiner Liebe verschlossen: Jetzt gilt mein Versprechen in der Taufe nicht mehr; jetzt ist dieser Mensch nicht mehr mein Kind, nun rechne ich ihm doch wieder die ganzen Sünden an, die ich ihm in der Vergangenheit vergeben habe! Man stelle sich das nur mal vor, was das bedeuten würde, wenn Gott so wieder von seinem Wort, von seinem Versprechen abrücken würde, wenn wir eben doch nicht sicher sein könnten, ob Gott nicht morgen schon wieder ganz anders zu uns steht, als er es uns heute zugesagt hat!

Doch wir können uns diese Gedankenspiele sparen, Gott sei Dank! Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Das gilt für Israel, und das gilt auch für uns. Was Gott dir in der Taufe zugesagt hat, was er dir in der Heiligen Beichte verspricht – das gilt, das wird gelten in alle Ewigkeit.


II.

Ein Zweites können wir aus Gottes Umgang mit Israel entnehmen: Gottes Ziel ist die Rettung Israels, ist sein Erbarmen, das Israel gilt, aber eben nicht Israel allein, sondern allen.

Zu den Koranversen, die die Frömmigkeit vieler Muslime gerade im Iran in besonderer Weise geprägt haben, gehört die Aussage in Sure 19, dass Allah alle Menschen ohne Ausnahme erst einmal in die Hölle befördern wird und dann einige besonders Fromme von dort wieder herausholen wird. Was für eine furchtbare, deprimierende Aussicht, nach dem Tod sowieso erst einmal und vielleicht gar auf Dauer in der Hölle zu landen! Was für eine erschreckende Vorstellung von einem Gott, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Menschen, die er geschaffen hat, am Ende erst einmal alle zu braten!

Wie völlig anders ist das, was wir hier von St. Paulus in unserer Epistel erfahren! Gottes Ziel ist auch und gerade für Israel, das jetzt so gar nichts von Christus wissen will, die Rettung: Ganz Israel wird gerettet werden! Und am Ende unserer Epistel geht Paulus sogar noch einen Schritt weiter: Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Gott gibt selbst Menschen, die von ihm nichts wissen wollen, ja die sich von Christus abgewandt haben, nicht auf, will ohne Zweifel, dass doch auch diese Menschen nicht verloren gehen, sondern gerettet werden. Das gilt für Israel, das gilt für eure Verwandten im Iran und Afghanistan, das gilt auch für die Gemeindeglieder, die sich wieder von Christus abgewandt haben.

Nein, das bedeutet nicht, dass Menschen nicht doch am Ende verlorengehen können. Und es bedeutet auch nicht, dass Menschen an Christus vorbei selig werden könnten, weil sie ja so nette, anständige Menschen waren. Nirgendwo gibt Paulus auch nur den kleinsten Hinweis, dass wir ohne Christus, durch unsere guten Werke, durch unser anständiges Leben in den Himmel kommen könnten. Doch Paulus hat es ja am eigenen Leibe erfahren, wie Christus dazu in der Lage ist, von einer Sekunde auf die andere aus einem Feind Christi einen Apostel zu machen. Und das, was Paulus  erfahren hat, das traut er Christus auch in Bezug auf all die Menschen zu, die wie er nichts von Christus wissen wollten oder auch jetzt noch wissen. Christus ist dazu in der Lage, Herzen von Menschen selbst und gerade dann noch zu verwandeln, wenn wir denken, dass das doch gar nicht mehr geht. Denn eines ist doch klar: Gottes Ziel ist die Rettung der Menschen, nicht ihr Verderben. Ihm sollen und dürfen wir sein geliebtes Volk Israel in unserer Fürbitte anvertrauen genauso wie unsere eigenen Familienangehörigen, genauso wie die Menschen, die einmal hier am Altar zu Hause waren und sich jetzt wieder von Christus abgewandt haben. Wo wir mit unseren Möglichkeiten, sie zu erreichen, an Grenzen stoßen, sind die Grenzen bei Christus noch längst nicht erreicht.


III.

Die Wege, auf denen Christus seine Ziele erreicht, mögen allerdings in unseren Augen immer wieder als Umwege erscheinen. Doch auch scheinbar Widersinniges kann Gott gebrauchen, um Menschen in seine Gemeinschaft zu führen und zu retten. Da wollen Mullahs mit aller Gewalt die Geltung des Islam bei allen Menschen in ihrem Land durchsetzen, treiben eben damit so viele Menschen aus ihrem Heimatland – und treiben damit zugleich so viele Menschen direkt in die Arme von Jesus Christus. Ja, natürlich wäre es schöner, wenn Menschen nicht erst diese widersinnigen Erfahrungen machen müssten. Aber Christus kann eben auch aus dem Wirken von Mullahs noch Heil und Leben für Menschen entstehen lassen. Ja, Unglaubliches bewirkt er, führt Menschen in seine Gemeinschaft, die früher nicht im Traum damit gerechnet hätten, einmal Christen zu werden. Nur staunen können wir über diese Wege unseres Herrn. Denken wir daran auch und gerade, wenn wir über das jüdische Volk sprechen. Gott hat auch und gerade für dieses sein Volk einen Plan, den er auch durch alle Irrungen und Wirrungen zum Ziel führen wird. Und das gilt auch für alle Wege deines Lebens, so unsinnig und irrsinnig sie auch erscheinen mögen. Noch bleibt vieles ein Geheimnis. Doch wenn Christus wiederkommen wird, dann werden wir nur noch staunen – darüber, wie er uns in unserem Leben geführt hat, und darüber, was er mit Israel einmal machen wird und auch mit Menschen, die wir vielleicht schon völlig abgeschrieben hatten. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Amen.

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