St. Johannes 16,23b-33 | Rogate | Pfr. Dr. Martens

Zu den ersten Worten, die ich auf Farsi gelernt habe, gehört das Wort oder der Ausdruck „natarß“ – Fürchte dich nicht, habe keine Angst! Es ist kein Zufall, dass ich gerade dieses Wort sehr schnell gelernt habe, nicht nur, weil es eine häufige Formulierung in der Bibel ist, sondern vor allem, weil ich mit solcher Angst, mit solcher Furcht hier in unserer Arbeit in Steglitz tagtäglich konfrontiert werde, ja, selber diesen Zuspruch immer wieder dringend nötig habe.

„Natarß“ – das bedeutet ja nicht: Hab dich nicht so, reiß dich zusammen, ist alles nicht so schlimm! Sondern „natarß“, das bedeutet: Jawohl, da gibt es genug, was dir tatsächlich Angst macht, was dich tatsächlich in Furcht versetzt – aber du bist mit dieser Angst nicht allein. Da gibt es einen, der dich in dieser Angst und dieser Furcht anspricht und dich zu trösten vermag, der dir mit seinem Wort, mit seiner Stimme Frieden zu schenken vermag, jawohl, mitten in deiner Angst.

Genau darum, Schwestern und Brüder, geht es auch im Heiligen Evangelium dieses Sonntags. Da sagt Christus, unser Herr, nicht: Wer ein richtiger Christ ist, wer einen richtig starken Glauben hat, der hat keine Angst, der kennt keine Furcht. Nein, sagt er nicht. Er sagt das Gegenteil: „In der Welt habt ihr Angst.“ Jawohl, er weiß, wie es seinen Jüngern geht, in was für einer Lage sie sich befinden:

Er kennt sie, die Menschen in unserer Gemeinde, die Woche für Woche, ja mitunter beinahe Tag für Tag hierher kommen mit einem gelben Brief in der Hand, in dem ihnen ihre Abschiebung angekündigt wird, ihre Abschiebung in Länder, in denen sie inhaftiert werden, obdachlos sein werden, gefoltert werden, in ihre Heimat zurückgeschickt werden, wo ihnen als getauften Christen die Todesstrafe droht. Ja, in der Welt habt ihr Angst, wie wahr!

Christus kennt sie, die Menschen in unserer Gemeinde, die sich abends nicht in ihr Zimmer im Asylbewerberheim zurücktrauen, weil sie dort von muslimischen Mitbewohnern belästigt und bedroht werden. Christus kennt sie, die Menschen in unserer Gemeinde, die traumatisiert sind von ihren Erfahrungen mit den Geheimdiensten in ihrer Heimat und nun auch hier in der ständigen Angst leben, bespitzelt zu werden, in der ständigen Angst, dass ihren Angehörigen in der Heimat etwas zustoßen könnte, wenn der Geheimdienst erfährt, dass sie sich hier haben taufen lassen. Christus kennt sie, die Menschen in unserer Gemeinde, die keine Nacht durchschlafen können, weil sie selbst in ihren Träumen noch von den entsetzlichen Erinnerungen verfolgt werden, die hinter ihnen liegen. Ja, in der Welt habt ihr Angst, wie wahr!

Und Christus kennt auch die anderen Menschen hier in unserer Gemeinde, diejenigen, die Angst haben, dass ihnen die ganzen Entwicklungen hier bei uns über den Kopf steigen, die nicht mehr wissen, wie wir hier den ganzen Ansturm eigentlich noch bewältigen sollen. Er kennt die Menschen hier in unserer Gemeinde, die Angst haben vor dem Neuen und Fremden, das sie hier in unserer Kirche seit einiger Zeit erleben. Er kennt die Menschen, die einfach ganz nüchtern rechnen und feststellen, dass das alles doch nicht mehr lange gut gehen kann, dass wir hier zu wenig Platz und noch weniger finanzielle Mittel haben. Ja, in der Welt habt ihr Angst, wie wahr!

Als Christus damals die Worte unserer heutigen Predigtlesung sprach, da stand auch gerade ein gewaltiger Umbruch für seine Jünger an – viel gewaltiger noch als das, was wir nun gerade hier in unserem Pfarrbezirk erleben. Er, Christus, kündigt an, dass er nun schon bald für seine Jünger nicht mehr zu sehen sein wird, dass er diese Welt verlässt. Kein Wunder, dass auch dies Ängste bei den Jüngern auslöst, Ängste, verlassen zu sein, Ängste davor, wie es nun weitergehen soll. Christus nimmt diese Ängste ernst, er spielt sie nicht herunter, kanzelt seine Jünger nicht wegen ihrer Ängste ab, ja, kanzelt uns nicht ab, Gott sei Dank!

Aber er lässt uns in diesen Ängsten eben nicht allein. Ein Doppeltes sagt er uns in unseren Ängsten zu: Zunächst einmal gewährt er uns einen Schutzraum, in den wir uns mit unseren Ängsten bergen können: „Das habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt.“ Er, Christus selber, ist dieser Schutzraum, in ihn dürfen wir uns immer wieder flüchten und bergen, nein, nicht bloß irgendwie in Gedanken, nicht bloß so, dass wir uns irgendwie selber Mut zusprechen. „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm“, so erklärt es Christus seinen Jüngern ganz konkret. Jedes Mal, wenn du hierher an den Altar kommst, wenn du mit deinem Mund den heiligen Leib und das heilige Blut deines Herrn empfängst, begibst du dich in diesen Schutzraum Jesus Christus, darfst es jedes Mal neu beten: „In deine heiligen Wunden verberge ich mich.“ Und hier in diesem Schutzraum schenkt dir Christus Frieden, aramesh, unendlich mehr als nur ein gutes Gefühl, nein, die Gewissheit, so mit ihm, Christus, verbunden zu sein, mit ihm, Christus eins zu sein, dass uns das hindurchträgt durch alle Ängste, dass sich diese Gemeinschaft schließlich doch als tragfähiger erweist als alles, was uns bedroht und uns das Fürchten lehrt. „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden“, ich habe sogar den Tod besiegt, ja, selbst der kann euch nicht schaden, kann euch nicht aus meiner Gemeinschaft reißen. Wie gut, dass wir diese Erfahrung immer wieder gemeinsam machen dürfen hier am Altar, ganz gleich, wie viel oder wie wenig Deutsch wir auch verstehen mögen, dass wir hier vom Altar immer wieder in Frieden weggehen dürfen, eins mit ihm, unserem Herrn!

Und eben darum soll der Gottesdienst, soll die Feier des Heiligen Mahls im Zentrum allen Lebens in unserer neuen Dreieinigkeits-Gemeinde stehen, wollen wir hier immer wieder Zuflucht finden in den Ängsten, die uns so sehr quälen und uns zu schaffen machen, wollen wir hier immer wieder Zuflucht finden, wenn wir erfahren, wie uns Menschen und Behörden kaputt machen und uns die Luft zum Leben zu nehmen drohen. In mir dürft ihr Frieden haben, so ruft es uns Christus zu.

Und noch einen anderen Weg weist uns Christus in unseren Ängsten: Den Weg des Gebets. Das ist für so viele unserer neuen Gemeindeglieder eine ganz besondere Entdeckung gewesen, wie wunderbar es ist, so direkt und unmittelbar mit Gott, dem Vater sprechen zu können im Namen Jesu Christi. Unser Beten als Christen hat eben nichts zu tun mit dem muslimischen Namas, mit dem Sprechen von Formeln in einer fremden Sprache, zu denen das Herz selber gar keinen Bezug hat. Beten dürfen wir zum Vater, der uns hört, der uns versteht, der uns gibt, was für uns am besten ist. Beten dürfen wir zum Vater gerade auch in unseren Ängsten, dürfen erfahren, dass unser Vater nicht weit weg ist, nicht der große ferne Gott, sondern der Gott, der uns lieb hat, wie es Christus hier ausdrücklich betont.

„Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei“ – so ermutigt Christus uns alle, die so deutlich erfahren, dass sie in dieser Welt Angst haben. Bittet, ja, euch soll eine Freude geschenkt werden mitten in aller Angst, mitten in allem Leid, die nicht von dieser Welt ist, eine Freude, von der dann auch andere etwas mitbekommen, die uns hier in unserer Gemeinde erleben.

„Bittet, so werdet ihr nehmen!“ – Ja, so und nicht anders wollen und werden wir auch an die Aufgaben herangehen, die nun in unserer neuen Gemeinde vor uns liegen. „Bittet, so werdet ihr nehmen!“ Bittet darum, dass hier in unserer Gemeinde immer noch mehr Menschen zum lebendigen Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn, geführt werden! Bittet darum, dass wir ja niemals auf die Idee kommen zu meinen, jetzt wäre es genug! Bittet darum, dass Gottes Heiliger Geist uns in dieser großen Gemeinde im Frieden zusammenleben lasse und der böse Feind keine Macht an uns findet! Bittet darum, dass wir die logistischen Probleme hier in unserer Gemeinde lösen können, dass wir die Menschen, die zu uns kommen, immer noch irgendwie unterbringen können! Bittet darum, dass uns auch weiter die Kraft und die Möglichkeit geschenkt werden, Schwestern und Brüder durch Kirchenasyle vor der Abschiebung zu bewahren! Bittet darum, dass diejenigen, die in unserer Gemeinde schon getauft sind, auch weiter dabei bleiben, auch und gerade dann, wenn sie nach ihrer Anerkennung der Alltag einholt! Bittet für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hier in unserer Gemeinde, dass sie unter der Last der Aufgaben nicht zusammenbrechen! Ja, bittet vor allem auch für mehr Arbeiter in der Ernte, die hier bei uns so sehr angewachsen ist! Bittet um offene Herzen und Hände zur Unterstützung dieser Erntearbeit! Bittet um liebevollen Umgang miteinander hier in unserer Gemeinde! Und bittet dann schließlich auch für den Pastor dieser Gemeinde, dass ihm immer wieder neu die Kraft geschenkt wird, die er für seine Arbeit hier braucht, dass er Menschen auf dem Weg zu Jesus Christus ja nicht im Wege stehen möge!  

Ja, bittet in allem darum, dass bloß niemand in unserer Mitte die Türen für Menschen schließen und verrammeln möge, die zu uns kommen! Bittet darum, auch wenn Christus uns die Konsequenzen vor Augen stellt: Bittet, so werdet ihr nehmen – ja, manchmal auch so viel, dass man es mit allen Händen, die man hat, gar nicht mehr greifen kann! Und doch – wer es hier in unserer Gemeinde miterlebt, wird es bestätigen können: Was Christus uns hier schenkt, ist Freude, große Freude – ja, wenn man in die Gesichter derer schaut, die in Christus den Frieden gefunden haben, dann ahnt man schon etwas von der Freude der neuen Welt Gottes, von der vollkommenen Freude! Natarß! Amen.

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