St. Johannes 5,39-47 | 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

„Haben Sie die Bibel schon ganz durchgelesen? Warum haben Sie das noch nicht getan? Dann wüssten Sie, dass die ganze Bibel voll von Blut und Gewalt ist!“ Solche Äußerungen von Anhörern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lese ich immer wieder in den Protokollen der Anhörungen von ehemals muslimischen Flüchtlingen, die nun Christen geworden sind. Ja, wie kommt ein Asylbewerber bloß dazu, den friedlichen Koran, der voll von Barmherzigkeit und Vergebung ist, gegen ein solch blutrünstiges Buch wie die Bibel einzutauschen?

Und da sitzt der Asylbewerber da in seiner Vernehmung und sieht, wie der muslimische Dolmetscher eifrig mit dem Kopf nickt: Jawohl, so ist es, warum hast du das bloß gemacht? Und er versteht die Welt nicht mehr: Da hatte er in seinem Leben immer wieder erfahren, wie Menschen mit Berufung auf den Koran gefoltert, ausgepeitscht und getötet wurden, weil sie nicht getan hatten, was der Koran von ihnen forderte. Da hatte er in seinem Leben erfahren, dass die Worte Christi so ganz andere waren als die, die er in seiner bisherigen Religion kennengelernt hatte. Und nun sollte mit einem Mal alles genau andersherum sein? Kannte er die Bibel vielleicht wirklich zu wenig?

Schwestern und Brüder, wenn wir solche Diskussionen um den christlichen Glauben in den Anhörungen des Bundesamtes erleben oder nachlesen, dann merken wir bald, wie aktuell die Worte unserer heutigen Predigtlesung sind. Da geht es nämlich genauso um einen Streit um die Bibel, um das rechte Verständnis der Bibel wie heute auch. Da hatten die Zuhörer Jesu ihn damals mächtig unter Druck gesetzt, hatten ihm gar mit der Tötung gedroht, weil er sich angeblich nicht an das Sabbatgebot gehalten und einen gelähmten Menschen am Sabbat geheilt hatte, ja weil er behauptet hatte, Gott sei sein Vater. Und nun reagiert Jesus hier in den Versen unserer heutigen Predigtlesung. Nein, er versucht nicht bloß, sich gegen die Anschuldigungen, die gegen ihn gerichtet wurden, zu verteidigen, sondern er macht seinen Zuhörern genau umgekehrt deutlich, dass sie offenkundig überhaupt nicht verstanden hatten, wovon sie redeten, ja, dass sie die Bibel selber überhaupt nicht verstanden hatten, auf die sich doch beriefen. Dreierlei macht Christus seinen Zuhörern damals, macht er auch uns heute deutlich:

Die Heilige Schrift     - zeugt von Christus

                                    - führt zu Christus

                                    - wird nur verstanden mit Christus

I.

„Wie heißen die beiden Söhne von Adam und Eva? Was hat der eine mit dem anderen gemacht? Und wie können Sie das mit der Behauptung vereinbaren, es gehe im christlichen Glauben um Liebe?“ – So las ich es gerade neulich wieder in einer Anhörungsniederschrift. Was für eine unsinnige Argumentation! Als ob die Tötung Abels durch Kain eine Handlungsanweisung für die Christen sei, dass sie einander auch den Kopf einschlagen sollten! O nein, die Geschichte von Kain und Abel zeigt eben so deutlich, wie die Sünde sich nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies immer weiter ausbreitet, was für furchtbare Auswirkungen die Trennung von Gott hat – und wie verloren wir Menschen wären, wenn Gott nicht eingegriffen, nicht einen Retter gesandt hätte. Ja, das ganze Alte Testament weist über sich selber hinaus, weist hin auf eben diesen Retter Jesus Christus, so behauptet es Christus hier selber: „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt.“ Nein, ich lese die Heilige Schrift gerade nicht richtig, wenn ich sie als eine Anleitung zum richtigen Handeln verstehe, durch das ich mir selber einen Platz im Himmel sichern kann. Die Heilige Schrift ist keine Bildergalerie von vorbildlichen Menschen, an denen wir uns ein Beispiel nehmen sollen. Sondern sie macht uns auf viele verschiedenen Weisen deutlich, dass wir ihn, Christus, brauchen, ja, dass eben dies Gottes Plan ist: Uns Menschen durch ihn, Christus, zu retten.

Christus selber sprach damals natürlich erst einmal nur vom Alten Testament. Ja, so macht er deutlich, auch das ganze Alte Testament ist ein Christusbuch, ist ein Buch von mir. Und nur so könnt ihr das Alte Testament, könnt ihr die ganze Bibel richtig verstehen, wenn ihr wisst, dass ich, Christus, der Schlüssel bin. Die, die sich mit ihrem vermeintlichen Bibelwissen so aufspielen, haben immer wieder so herzlich wenig von dem verstanden, was sie als scheinbar sichere Erkenntnis vor sich hertragen. Und das gilt eben nicht nur für so manchen Anhörer beim Bundesamt mit seinem religiösen Halbwissen; das trifft auch eine heutzutage so weit verbreitete Haltung in vielen christlichen Kirchen: Ich erinnere mich noch daran, wie unser früherer Bischof Jobst Schöne vor einigen Jahren ein Vorwort zu einer Sonderausgabe der Lutherbibel verfassen sollte, das der Einführung in die Bibel dienen sollte. Und in diesem Vorwort schrieb er, dass wir Christen das Alte Testament von Christus her verstehen – also nichts Anderes als eben dies, was Christus hier selber in unserer Predigtlesung behauptet. Doch diese Behauptung stieß beim Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland auf große Empörung: So etwas könne man doch heute nicht mehr sagen, das sei nicht mehr die Haltung der Evangelischen Kirche, dass das Alte Testament ein Christusbuch sei. Ja, der Widerspruch gegen die Worte Christi, er zieht sich bis heute quer durch die Kirche hindurch. Doch da, wo das Alte Testament nicht als Christusbuch verstanden wird, wo man vielleicht gar meint, dieses Buch nur noch als Sammlung unverbindlicher Glaubenserfahrungen vergangener Zeiten verstehen oder sogar ganz aus dem Kanon der Heiligen Schrift entfernen zu können, da wird man ihm gerade nicht eher gerecht, da kommt man ihm gerade nicht näher, sondern verschließt sich seinem eigenen Sinn, so zeigt es der, der bald darauf seinen Zuhörern erklärt: Ehe Abraham war, bin ich. Er ist und bleibt die Mitte der ganzen Heiligen Schrift, das eigentliche Thema, um das es geht. Keinen Abschnitt der Heiligen Schrift haben wir recht verstanden, solange wir nicht wahrgenommen haben, in welcher Beziehung er zu Christus steht, in welcher Weise er auf ihn hinweist.


II.

Doch die Heilige Schrift zeugt nicht nur von Christus, sie führt auch zu Christus. Was uns hier in unserer Predigtlesung beschrieben wird, ist die völlige Verschlossenheit von Menschen gegenüber Christus, ist das damit verbundene Missverständnis der Heiligen Schrift. Menschen wollen nicht zu Christus kommen, sie wollen sich nicht vom Wort Gottes überführen und zu Christus führen lassen. Ja, das ist etwas, was wir immer wieder erleben, nicht nur in so mancher Anhörung, sondern in so manchem Gespräch, das wir mit anderen Menschen, gerade auch mit so vielen Deutschen führen. Sie wollen nicht, und wenn man nicht will, dann findet man auch tausend scheinbar gute Gründe dafür, weshalb man nicht zu Christus will, warum man sich dem Leben verweigert, das er schenken will.

Doch Christus macht deutlich: Dadurch, dass man sich ihm verweigert, von ihm nichts wissen will, wird man gerade nicht frei, sondern gerät in andere Abhängigkeiten. Wer nicht Christus und Gott, seinen Vater, ehrt, der unterwirft sich so leicht dem, was alle andere denken und machen, lässt sich so leicht von Mehrheitsmeinungen beeinflussen und bestimmen. Ja, wer nicht Christus und Gott, seinen Vater, ehrt, der orientiert sich in seinem Leben so leicht an dem, was andere über ihn denken, ob sie ihn gut finden. Und wer nicht Christus und Gott, seinen Vater, ehrt, der läuft dann so leicht falschen Propheten nach, die in Wirklichkeit nur ihre eigenen Wünsche und Phantasien zum Besten geben und sich eben gerade nicht auf Jesus, gerade nicht auf Gott selber berufen können. Ja, ganz kurz fasst Christus hier zusammen, was die Kluft ausmacht, die den christlichen Glauben vom Islam trennt: Die Ablehnung Jesu Christi als Gottes Sohn und die Anerkennung Mohammads als Prophet Gottes sind und bleiben eben zwei Seiten derselben Münze.

Ja, Menschen verschließen sich immer wieder dem Anspruch Christi, weil sie ahnen, dass das sonst ihr ganzes Leben durcheinanderbringen könnte, wenn sie diesen Anspruch anerkennen würden. Und doch geschieht es eben dennoch immer wieder, dass Menschen, die von Christus nichts wussten, mit ihm nichts anfangen konnten, schließlich doch den Anspruch Christi als Wahrheit ihres Lebens anerkennen, dass sie bekennen, dass Jesus wirklich und wahrhaftig Gottes Sohn, ihr Retter ist. Nein, solchen Glauben kann sich kein Mensch selber aus den Rippen leiern; solchen Glauben vermag allein das Wort Gottes selber zu wirken, das Augen und Herzen zu öffnen vermag, das Menschen tatsächlich zu Christus, in seine Gemeinschaft zu führen vermag, das Menschen damit zum ewigen Leben zu führen vermag.

Und wenn Menschen der Heiligen Schrift auch noch so leidenschaftlich widersprechen – gegen ihre Kraft kommen sie am Ende doch nicht an, können nicht verhindern, dass das Wort der Heiligen Schrift Menschen doch immer wieder zu Christus führt. Ach, wie viele Beispielgeschichten dafür könnten allein die, die heute hier im Gottesdienst sitzen, hierzu berichten!


III.

Klartext redet Christus, unser Herr, hier in unserer heutigen Predigtlesung, Klartext, der uns hilft, besser zu begreifen, wer er, Christus, ist, und was die Heilige Schrift für uns bedeutet. Und zu diesem Klartext gehört auch die Aussage, „dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.“ Das ist offenkundig ganz entscheidend für Christus, entscheidend auch dafür, wie wir mit der Heiligen Schrift umgehen. Christ zu sein, an Christus zu glauben, bedeutet eben dies, dass Christus in uns lebt, dass Gottes Liebe in uns lebt. Das ist nicht bloß ein schöner Spruch, sondern das ist eine Wirklichkeit, die wir immer wieder erfahren, wenn wir den Leib und das Blut Christi im Sakrament empfangen. Da lebt Christus in uns, da nehmen wir Gottes Liebe leibhaftig in uns auf – und eben so fangen wir überhaupt erst an, die Heilige Schrift richtig zu erfassen, in eben dieser Gemeinschaft mit Christus, der mit seiner Liebe in uns lebt.

Ich kann natürlich die Heilige Schrift auch als religionsgeschichtliches Dokument der Antike sezieren und alle möglichen Hypothesen über sie aufstellen. Doch einen wirklichen Zugang zur Heiligen Schrift gewinne ich eben nur dadurch, dass ich sie von der Begegnung mit Christus im Heiligen Mahl her lese, dass ich sie lese als jemand, der den lebendigen Christus immer wieder als Realität in seinem Leben erfährt. Dann erst beginnt sich der Inhalt der Heiligen Schrift wirklich zu erschließen, erst dann geht uns auf, was die Heilige Schrift, was Christus wirklich meint. Und so können wir die Heilige Schrift eben immer wieder nur in der Gemeinschaft der Kirche lesen, in der Gemeinschaft des Glaubens mit anderen Christen, die auch schon vor uns die Schrift gelesen und ausgelegt haben. Diese Christen helfen uns, bei Christus zu bleiben, uns in der Lektüre der Heiligen Schrift immer wieder ganz auf ihn auszurichten.

Schwestern und Brüder, es ist schön, wenn ihr im Laufe eures Lebens auch einmal die ganze Schrift durchlest. Doch das ist nicht die Voraussetzung dafür, dass ihr mit Recht Christen genannt werden könnt. Denn in jedem Teil der Heiligen Schrift leuchtet derselbe Christus auf, auf den doch alle Bücher der Heiligen Schrift hinweisen und zu dem sie hinführen. Und darum ist die Heilige Schrift immer wieder auch nicht mehr als bloß ein Instrument, ein Instrument mit einer klaren Aufgabe: Hauptsache, ihr erkennt Christus, Hauptsache, ihr findet in ihm das Leben! Hauptsache, ihr bleibt bei ihm! Möge euch eben dazu die Lektüre der Heiligen Schrift immer wieder helfen! Amen.

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