St. Johannes 6, 1-15 | 7. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Das klingt hier im Heiligen Evangelium ja fast wie eine Live-Reportage aus unserer Dreieinigkeits-Gemeinde: Da macht sich viel Volk auf den Weg, so schildert es St. Johannes hier. Hinter Jesus sind sie her, doch der versucht erst einmal, etwas Abstand zu gewinnen, fährt mit dem Boot über den See Genezareth und ist darum schneller als die Leute, die einmal um den halben See herumlaufen mussten. Auf einen Berg am Rande des Sees steigt Jesus und setzt sich dort erst einmal hin: Einmal etwas Ruhe von dem ganzen Trubel!

Doch die Ruhe hält nicht lange an. Jesus blickt vom Berg herab und sieht, wie sich die Menschenmassen ihm nähern. Nichts wird es mit dem erhofften freien Tag – im Gegenteil: Nun gehen die Probleme erst richtig los: „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“ Das ist schon bemerkenswert, dass eben dies die erste Frage Jesu ist: Er sieht, dass die Leute Hunger bekommen, dass sie ganz handfeste menschliche, leibliche Probleme haben. Und die packt er an, bevor die Leute selber ihn auch nur darum gebeten haben.

„Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“ – Was für eine Wahnsinnsfrage! Natürlich ließ sich dieses Problem praktisch überhaupt nicht lösen. Da gab es keine Brotfabrik in der Nähe – und selbst wenn es sie gegeben hätte: Wer hätte denn, bitteschön, das Geld für diese Massenverpflegung aufbringen sollen? 200 Silbergroschen – so viel verdiente ein Familienvater in acht Monaten. Wer konnte denn so viel Geld hier kurz mal abdrücken?

Die Jünger Jesu sehen die Lage völlig realistisch: Sie haben kein Geld, und das bisschen Essen, was einer der vielen Menschen da mitgebracht hatte, reicht erst recht nicht, um diese Menschen auch nur ein bisschen satt zu machen: „Was ist das für so viele?“

Und dann beschreibt St. Johannes hier nur noch, erklärt gar nichts, sondern schildert einfach nur, was geschieht: Jesus lässt sich die fünf Brote und die zwei Fische bringen, spricht das Dankgebet und lässt dann die gesegneten Gaben an die Massen austeilen, die sich vor ihm auf dem Gras gelagert hatten. 5000 Männer waren es allein, so berichtet St. Johannes. Rechnen wir Frauen und Kinder dazu, kommen wir noch einmal auf eine ganz andere Zahl. Jesus lässt die Gaben austeilen – und dann stellt St. Johannes im nächsten Satz ganz lapidar fest: „Als sie aber satt waren ...“ Wie das passiert ist, wie das ausgesehen hat – keine Ahnung. Ist auch gar nicht wichtig. Wichtig ist nur eins: Sie wurden alle satt – und Jesus hat dabei für die Leute so großzügig gesorgt, dass am Ende sogar noch zwölf Körbe übrigbleiben – weit mehr als das, was Jesus am Anfang gesegnet hatte.

Was die Leute, die da auf dem Gras saßen, damals genau mitbekommen haben, wissen wir auch nicht. Aber gemerkt haben sie es auf jeden Fall, dass da etwas geschehen ist, worüber man nur staunen kann. Und gemerkt haben sie auch, wer dafür verantwortlich zeichnete: Er, Jesus. So ganz richtig formvollendet können sie das, was sie bewegt, nicht formulieren, bezeichnen Jesus in Anspielung auf eine Ankündigung des Mose als „den Propheten, der in die Welt kommen soll.“ Vor allem aber wünschen sie sich, dass Jesus das nun zur Dauereinrichtung werden lässt, wollen ihn zum König machen, zum Brotkönig, wollen ihn zwingen, dieses Wunder nun in Zukunft immer wieder neu zu wiederholen. Doch da macht Jesus nicht mit: Derselbe Jesus, der sich zuvor sehr bewusst von der Volksmenge in seiner Ruhe hatte stören lassen, derselbe Jesus, der sich um das leibliche Wohl der vielen Menschen gekümmert hatte, zieht nun eine Grenzlinie, zieht sich auf den Berg zurück, verweigert sich der Versuchung, sich zum König krönen zu lassen, sich als Volksheld bejubeln zu lassen. Die Speisung der 5000 findet kurz vor dem Passahfest statt, so betont es St. Johannes hier. Der, der sich da auf den Berg zurückzieht, befindet sich auf dem Weg nach Jerusalem, dorthin, wo er schließlich sein Leben in den Tod geben wird als das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Das soll, das darf in allem Jubel niemals untergehen.

Wie eine Live-Reportage aus unserer Dreieinigkeits-Gemeinde klingt das hier, was wir eben im Heiligen Evangelium gehört haben. Natürlich bin ich nicht Jesus. Aber ich kann ihn schon gut verstehen, dass er sich einfach mal ein bisschen zurückziehen wollte von der Menschenmenge, dass er einfach auch mal ein bisschen Ruhe haben wollte.

Ja, das ist natürlich auch eine Versuchung für die Kirche heute, sich einfach nur zurückzuziehen auf den Berg, für sich zu bleiben, vielleicht gar vor den Leuten wegzulaufen. Dafür gibt es jede Menge frommer und auch ganz praktischer Gründe, Kirche nur für sich zu sein, das eigene fromme Ich zu pflegen, die Vorzüge einer kleinen Gruppe zu genießen.

Doch Jesus ermutigt uns hier, einen anderen Weg zu gehen, sich nicht bloß mit sich selber zu beschäftigen, sondern hinzuschauen auf die Menschen, die da kommen, die etwas brauchen, ja, sich von ihnen stören zu lassen, sich von ihnen das eigene Programm durcheinanderbringen zu lassen. Jesus ermutigt uns hier, hinzuschauen, was diese Menschen brauchen, was für Nöte sie haben. Und diese Nöte scheinen erst einmal gar nicht unbedingt sehr geistlich zu sein: Hunger haben die Menschen, die zu uns kommen, Hunger, ja, mitunter auch einfach danach, hier einmal gemeinsam essen zu können. Aber ihr Hunger reicht eben noch viel weiter. Am letzten Sonntagabend kam hier ein iranischer Flüchtling bei uns an. 50 Tage war er von Griechenland unterwegs gewesen zu Fuß. Ich lud ihn ein, bei uns zu übernachten, erzählte ihm, dass er hier bei uns natürlich auch etwas zu essen bekommt. Doch er antwortete: Ich will hier gar nichts essen und trinken – ich will einfach nur irgendwo sein, wo ich keine Angst mehr haben muss, wo ich einfach nur weiß: Hier bin ich beschützt.

Ja, da kommen sie zu uns angeströmt in großen Scharen: Menschen mit Hunger nach Leben, Menschen mit ganz elementaren Bedürfnissen, Menschen, die Angst davor haben, weiter wie ein Fußball von einem Land ins andere gekickt zu werden. Nein, sagen wir nicht: Das ist doch nicht die Aufgabe der Kirche, sich um diese Menschen zu kümmern! Jesus hat damals am See Genezareth auch nicht einfach nur eine Predigt gehalten und dann die Leute wieder weggeschickt. Von einer Predigt ist hier noch nicht einmal die Rede, nur von seinem ganz praktischen Einsatz zur Linderung der Not dieser Menschen. Jesus sieht, was dran ist, und ergreift die Initiative.

Wir sind nicht Jesus, das ist klar. Und darum geht es uns angesichts der vielen Menschen, die da kommen, wohl eher so wie Philippus und Andreas: Wir sehen die Probleme, die da auf uns zukommen, Probleme, die so riesig sind, dass wir sie selber überhaupt nicht bewältigen können. Immer mehr Menschen kommen und benötigen unsere Hilfe, damit sie nicht aus Deutschland abgeschoben werden in Länder, in denen ihnen unmenschliche Behandlung, Folter und Tod droht. Wie sollen wir das alles noch bewältigen? Heute Abend müssen wir wieder zwei Brüder ins Kirchenasyl aufnehmen, um sie davor zu bewahren, in ein Land abgeschoben zu werden, in dem sie bereits zuvor gefoltert worden waren. Das kostet Geld, das kostet Kraft, und von beidem haben wir so wenig: Was ist das für so viele?

Ja, wir stehen da vor diesen Menschen wie die Jünger damals vor dieser Menschenmasse auch. Geht gar nicht, können wir nicht, überfordert uns alles – völlig klar! Aber wir sind es eben nicht allein. Da haben wir ihn eben auch bei uns wie damals die Jünger auch – ihn, unseren Herrn. Der zieht auch heute keine große Show ab mit Laser und Slow Motion. Der sagt einfach: Lasst die Leute sich lagern – und sei es auch nur auf Matratzen mitten auf unserer Baustelle. Und dann spricht er den Segen und beauftragt uns, die Leute zu versorgen. Und was dann geschieht, können wir selber eigentlich auch gar nicht erklären. Nein, wir können es nicht erklären, was in den letzten zwei Jahren hier passiert ist. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir gesagt: Das geht gar nicht, das können wir gar nicht schaffen. Doch Jesus sagt: Lasst die Leute sich lagern. Und dann sollen und dürfen wir ihnen dienen in ihrer Not, und wir stellen fest: Es passieren Wunder über Wunder, ganz im Verborgenen, nicht gleich so, dass sie ins Auge springen. Aber wir erfahren es immer neu: Unser Herr ist am Werk. Und gerade da, wo wir selber überhaupt nicht mehr weiterwissen, da öffnet er Wege, sorgt dafür, dass wir unseren Dienst hier weiter versehen können, obwohl wir letztlich nicht erklären können, wie das möglich ist.

Vergessen wir es niemals: Es ist nicht unser Unternehmen, das wir hier in dieser Kirche betreiben. Es ist Christus, der als der lebendige Herr in unserer Mitte ist. Genau das sollen und dürfen wir in jedem Gottesdienst wieder neu uns einprägen lassen, wenn wir uns von ihm, Christus, hier an seinen Tisch rufen lassen, wenn wir hier in jedem Gottesdienst dies unfassliche Wunder erfahren dürfen, dass er selbst uns in den unscheinbaren Gaben von Brot und Wein seinen heiligen Leib und sein heiliges Blut reichen lässt. Christus spricht seine Worte – und es geschieht: Er selbst ist in den Gestalten von Brot und Wein leibhaftig gegenwärtig, stillt damit unseren Hunger nach Leben noch einmal viel tiefer, als wir dies mit aller Sozialarbeit jemals könnten.

Und vergessen wir es von daher auch niemals: Ja, es ist wichtig, dass wir uns um die dringende leibliche und seelische Not der Menschen kümmern, die zu uns strömen. Ja, es ist wichtig, dass wir dies tun, auch wenn die Leute nicht vorher schon ein formvollendetes Glaubensbekenntnis gesprochen haben, wenn sie von uns vielleicht wirklich nur ganz praktische Hilfe erwarten. Aber niemals sollen wir den Eindruck erwecken, als ob das alles sei, was sie von uns bekommen können. Niemals sollen wir den Eindruck erwecken, als würden wir hier nur bieten, was die Menschen selber gerne haben wollen. Jesus hat noch mehr zu bieten als Brot, als die ganz alltäglichen Wunder, die er in unserer Mitte geschehen lässt. Er ist und bleibt vor allem das Lamm Gottes, das auch für unsere Schuld sein Leben am Kreuz opfert. Das sollen, das dürfen wir niemals in unserer Arbeit verschweigen, darauf wollen wir immer wieder verweisen, dazu immer wieder einladen. Ja, Gott geb’s, dass Christus dieses größte aller Wunder auch weiter immer wieder in unserer Mitte vollbringt: Dass Menschen die Augen geöffnet werden und sie erkennen: Dieser Jesus ist nicht bloß ein Prophet, er ist der Retter der Welt, ja, er ist mein Herr und Gott, mein Heiland. Amen.

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