St. Lukas 15, 1-10 | 3. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Eines haben der Herr Christus und ich miteinander gemeinsam: Wir sind beide dauernd am Suchen. Immer wieder passiert es mir, dass ich ein bestimmtes Papier benötige, auf dem etwas Wichtiges steht. Ich weiß: Ich hatte es doch irgendwo an einen ganz bestimmten Punkt gelegt – ich muss mich nur daran erinnern, dann finde ich es schon. Und in der Tat: Auch wenn mein Schreibtisch nicht immer diesen Eindruck erweckt: Immer wieder wird mir das große Glücksgefühl zuteil, dass ich nach mehr oder weniger langem Suchen tatsächlich fündig werde, wieder in der Hand halte, was ich zuvor schmerzlich vermisst hatte. Ja, ich kann sie gut verstehen, die Freude der Finder, von der unser Herr Jesus Christus im Heiligen Evangelium dieses Sonntags spricht.

Wenn der Herr Christus dauernd am Suchen ist, hat das nun allerdings ganz andere Gründe als diejenigen, die mich immer wieder dazu veranlassen, mich auf die Suche zu begeben: Er sucht nicht, weil er ein so unordentlicher Mensch wäre, weil er so schusselig wäre, dass er sich nicht mehr genau daran erinnern kann, wo er was hingelegt hat. Christus sucht nicht nach Akten und Papieren; er sucht nach Menschen. Und im Unterschied zu Akten und Papieren sind die dazu in der Lage, sich von sich aus selbstständig zu machen, wegzugehen, sich zu verirren, sodass man tatsächlich hinter ihnen her sein muss, um sie am Ende wieder einzusammeln. Darum allein muss Christus sich auf die Suche begeben, weil Menschen nicht in seiner Nähe bleiben, sondern woanders hingehen, von wo aus sie nicht mehr die Möglichkeit haben, einfach zu ihm zurückzukehren. Und noch etwas unterscheidet das Suchen unseres Herrn Jesus Christus vom Durchwühlen der Papierberge in meinen beiden Arbeitszimmern: Ich suche dort, weil ich etwas für mich will, weil ich es dringend nötig habe, diese Akten und Papiere in der Hand zu halten. Den Akten und Papieren selber ist es einigermaßen egal, wo sie liegen, unter welchem Stapel anderer Blätter sie sich verbergen. Wenn Christus sich auf die Suche begibt, dann macht er das nicht, weil er sich davon einen Vorteil für sich erhofft, weil er das für sich braucht. Er macht es einzig und allein aus Sorge um die, die er sucht, weil er weiß, wie dringend die es nötig haben, gefunden zu werden.

Und damit, Schwestern und Brüder, sind wir nun schon längst mitten drin im Heiligen Evangelium dieses Sonntags: Von einem Hirten erzählt Jesus, der hundert Schafe hat. Tagsüber laufen die Schafe frei herum, damit auch jedes Schaf genügend Futter finden kann. Aber abends müssen die Schafe dann doch alle eingesammelt werden, müssen durch einen Einlass in einen umzäunten Bereich geführt werden, an dem man die Schafe gut zählen kann und kontrollieren kann, ob auch wirklich alle da sind. Und siehe da – an diesem Abend fehlt eines der hundert Schafe. 99 sind da – mehr nicht. Wie soll der Hirte reagieren? Soll er sich dessen trösten, dass er ja immer noch 99 hat – mit ein bisschen Schwund muss man immer rechnen? Nein, das eine fehlende Schaf ist für ihn wichtiger als die 99, die er nun sicher in die Umzäunung geführt hatte; das eine fehlende Schaf ist für ihn wichtiger auch als sein Schlaf, als seine eigene Ruhe und Bequemlichkeit. Und so lässt er die 99 Schafe zurück, lässt sie in der Obhut anderer Hirten, zieht los in die Wüste, ruft und schaut umher – bis er schließlich am nächsten Morgen das eine verlorene Schaf findet. Unfähig ist es, noch zu laufen. Vielleicht war es in einem Dornbusch hängengeblieben, vielleicht hatte es aber auch einfach nur den Anschluss an die Herde verloren. Schafe pflegen in solchen Fällen tatsächlich einfach zu resignieren, sich hinzulegen und sich nicht mehr zu bewegen. Jedenfalls bleibt dem Hirten nichts anderes übrig, als das Schaf auf seine Schultern zu tragen und den ganzen langen Weg nach Hause zurück zu schleppen. Beim ersten Hinhören mögen wir das ja noch richtig kuschelig finden: Ach, wie schön, solch ein süßes flauschiges Schaf auf seinem Nacken liegen haben zu dürfen. Doch solch ein Schaf ist eben nicht einfach süß und flauschig: Das Vieh wiegt selbst in nicht ausgewachsenem Zustand schon einmal locker 70 kg – und diese 70 kg stundenlang durch die Wüste zu tragen, ist wahrlich kein kuscheliges Vergnügen; das ist im Gegenteil eine Strapaze. Doch der Hirte kommt schließlich nicht stöhnend wieder bei seiner Herde an, sondern voller Freude, so betont es Jesus hier. Die Freude über das Wiederfinden des Schafes lässt alle Belastungen in den Hintergrund treten. Und so steht am Ende der Geschichte ein Freudenfest, an dem alle teilnehmen, die sich mit dem Hirten über das wiedergefundene Schaf zu freuen vermögen.

Der gute Hirte Jesus Christus ist dauernd auf der Suche – das ist es, was er, Christus selber, uns hier in diesen Worten so eindrücklich vor Augen stellt. Ihm reicht es nicht, dass 99% derer, die zu ihm gehören, auch bei ihm bleiben. Er will nicht, dass auch nur ein einziger, der zu ihm gehört, verlorengeht. Ja, das meint er wirklich so, das ist ihm ernst. Wir haben hier in unserer Gemeinde natürlich die Marke von 100 längst hinter uns gelassen. Aber das bedeutet gerade nicht, dass die Einzelnen, die zur Herde Jesu Christi hier in Steglitz gehören, darum für ihren guten Hirten nun weniger wichtig werden, weil ja immer wieder genügend nachkommen. Christus ist das nicht egal, wenn ein Mensch sich hier in unserer Gemeinde taufen lässt, wenn er dadurch zu seiner Herde gehört und wenn dieser Mensch dann anschließend wieder aus dieser Herde verschwindet. Christus ist das nicht egal, wenn ein Mensch den Kontakt zur Herde verliert und schließlich hängenbleibt in dem Dornengestrüpp all der vielen anderen Dinge, die er Tag für Tag zu erledigen hat. Christus weiß: Wenn dieser Mensch da draußen bleibt, getrennt von ihm, von der Herde, getrennt von Gottes Wort, vom Heiligen Abendmahl, dann wird er in dieser Wüste auf die Dauer kaputtgehen, auch wenn er sich im Augenblick erst einmal sehr wohlfühlen mag und es vielleicht sogar als Befreiung empfinden mag, nicht immer mit der Herde mitlaufen zu müssen. Christus weiß: Dieser Mensch hat es dringend nötig, dass er wieder zurückgeholt wird aus den Dornen, in denen er sich verheddert hat, dass er wieder dorthin kommt, wo das Leben zu finden ist, das ewige Leben. Und Christus ist es auch nicht egal, wenn jemand, der zu seiner Herde gehört, einfach irgendwo liegen bleibt, einfach nicht mehr weiter kann, weil dem Körper, weil der Seele einfach die Kräfte ausgehen. Und so macht er sich auf den Weg, hinter denen her, die in seiner Herde fehlen, die vielleicht auch schon so weit weg sind, dass sie selber nicht mehr kommen können. Nein, Jesus möchte nicht, dass wir uns in der Gemeinde mit denen zufriedengeben, die immer da sind, die wir immer sehen. Er möchte erst recht nicht, dass wir zu einem kleinen, gemütlichen Club werden, der es vielleicht gar als störend empfindet, wenn zu viele andere auch noch mit dabei sind: Reicht das nicht eigentlich: Der Herr Christus, der Pastor, ein paar gute Freunde und ich? Nein, das reicht Christus nicht. Er nimmt es in Kauf, dass die 99 mosern und sich darüber beschweren, dass er sich nicht genügend um sie kümmert, dass er ausgerechnet hinter denen herläuft, die längst nicht so gut sind wie sie selber. Wichtig ist ihm nur eines: Dass ihm keiner verlorengeht, der zu ihm, zu seiner Herde gehört. Und bei diesem Hirtendienst will Christus uns selber nun auch gebrauchen: Ja, er möchte, dass auch wir uns auf den Weg machen, hinter Menschen herlaufen, die zur Herde Christi gehören und sich nun hier nicht mehr sehen lassen. Ich weiß, das ist nervig, das ist anstrengend. Das kostet Zeit, das kostet Kraft. Sind die Leute nicht selber schuld, die sich nicht mehr blicken lassen, sollte man sie nicht einfach streichen? Christus selber macht es jedenfalls anders, wählt nicht den bequemen Weg. Er ist schließlich sogar so weit gegangen, dass er die Schuld und das Versagen der ganzen Welt auf sich genommen hat am Kreuz, dass er sich damit abgeschleppt hat, bis er daran schließlich gestorben ist. Das ist so wunderbar, das ist so wichtig, das soll einfach jeder hören, daran soll jeder erinnert werden, auch wenn er davon zwischendurch so gar nichts mehr wissen will. Gewiss, nicht immer gelingt es uns, die verlorenen Schafe selber auf unseren Schultern zurück zur Herde zu tragen, hierher in den Gottesdienst, hierher an den Altar. Und doch – geben wir nicht auf, und freuen wir uns dann auch von Herzen, wenn Menschen wieder zu Christus zurückkommen, die schon so lange die Verbindung zu ihm verloren hatten! Nehmen wir sie mit derselben Freude auf, die die Engel im Himmel haben, wenn ein Mensch in die Gemeinschaft mit Christus zurückkehrt!

Christus ist dauernd am Suchen. Wie gut, dass wir das wissen dürfen. Ja, wir dürfen gewiss sein: Was wir auch selber in unserem Leben erfahren mögen, welche Wege wir auch gehen mögen: Christus gibt uns niemals auf. Wenn wir nur noch völlig deprimiert daliegen und nicht mehr hochkommen, dann sucht er uns auf; wenn wir zu alt und zu schwach sind, um noch hierher kommen zu können, dann kommt er zu uns mit seinem Leib und Blut, legt uns auf seine Schultern und trägt uns schließlich bis nach Hause zu dem großen Freudenfest, das einmal kein Ende mehr kennen wird. Ja, dieses Freudenfest beginnt schon heute, wenn du hierher nach vorne an den Altar kommst und den Leib und das Blut deines Herrn empfängst, wieder ganz dicht dran bist bei ihm, wenn er dir hier alles vergibt, was dich von ihm trennen könnte. Da kriegen sich die Engel Gottes gleich wieder vor Freude nicht ein – und dein guter Hirte Jesus Christus jubelt mit ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war! Amen.

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