St. Lukas 18, 9-14 | 11. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Warum kommt ihr eigentlich hierher in den Gottesdienst? Um diese Frage geht es im Heiligen Evangelium dieses Sonntags, ja, mehr noch: in dieser Frage verbirgt sich nicht weniger als die Frage nach der Ausrichtung eures Lebens insgesamt.

Da erzählt uns unser Herr Jesus Christus hier im Heiligen Evangelium von zwei sehr unterschiedlichen Gottesdienstbesuchern, die sich auf den Weg hinauf ins Haus Gottes, in den Tempel, begeben haben. Der eine ist ein Pharisäer. Pharisäer haben bei uns heute keinen besonders guten Ruf, sie gelten als Heuchler und als unsympathische Gestalten. Doch damit werden wir ihnen nicht unbedingt gerecht. Pharisäer waren Glieder der jüdischen Gemeinde, die es mit ihrem Glauben ganz ernst meinten, die nicht einfach mal ein bisschen lasch hier und da ihren Glauben praktizierten, wenn ihnen gerade mal danach zumute war, sondern die Gott und sein Wort in ihrem Leben ganz an die erste Stelle setzten, auch ihren Alltag ganz an Gottes Willen ausrichteten. Solche Gemeindeglieder sind natürlich der Wunschtraum eines jeden Pastors – Leute, auf die man sich verlassen kann, die für andere ein Vorbild sein können. Und wenn die dann auch noch 10% ihres Einkommens für die Kirche geben, dann möchte man sie als Pastor erst recht nicht missen. Um es also noch einmal ganz deutlich zu betonen: Der Pharisäer übertreibt nicht in seinem Gebet, wenn er schildert, wie seine Frömmigkeit sein ganzes Leben bestimmt. Der sagt die Wahrheit.

Und doch hat der Pharisäer hier in unserer Geschichte ein doppeltes Problem. Problem Nummer eins: Er sucht dort im Gottesdienst letztlich gar nicht Gott, fragt nicht nach ihm und seinem Urteil, sondern sucht letztlich nur sich selber, sucht die eigene Bestätigung. Das Gebet, das er an Gott richtet, ist letztlich eigene, fromme Selbstbespiegelung, die nichts mehr von Gott erwartet, weil der, der betet, letztlich alles schon allein im Griff hat, alles schon allein geschafft hat, so vor Gott dazustehen, wie der dies von uns Menschen fordert. Der Pharisäer erwartet keinen Freispruch von Gott, er absolviert sich hier im Gottesdienst selber – ach, was sage ich: Er absolviert sich noch nicht einmal, weil es da gar nichts gibt, was vergeben werden müsste. Der Gottesdienst als frommer Ego-Trip – was für eine Versuchung, und was für eine irrsinnige Verkehrung zugleich!

Und damit sind wir auch schon beim zweiten Problem, das der Pharisäer hier in unserer Geschichte hat: Er bestimmt sein Verhältnis zu Gott dadurch, dass er sich mit anderen vergleicht, dass er feststellt, dass er nicht so ist wie die anderen. Da hilft es dann auch nichts, dass er diesen Vergleich im Modus der Dankbarkeit Gott vorträgt. Entscheidend ist letztlich allein, dass er besser ist, besser als all die sündigen Menschen, deren Anwesenheit im Haus Gottes er ertragen muss. Statt Gottes Urteil über sein Leben im Gottesdienst zu suchen, spielt der Pharisäer hier selber den Richter über das Leben anderer Menschen, weiß genau, dass er besser ist als sie – Gott sei Dank! Ach, wie gut, dass es diese anderen Leute gibt, mit denen er sich vergleichen kann! Ohne sie könnte Gott ja gar nicht erkennen, wie gut er in Wirklichkeit ist, dieser Pharisäer. Was für eine fromme, gefährliche Versuchung: Im Gottesdienst nicht auf Gott zu schauen, sondern auf die anderen zu schielen, die mit einem zusammen im Haus Gottes sitzen, sich mit ihnen zu vergleichen, sich über sie zu empören, über sie zu richten, ja, Gottes Richterspruch auf der Basis dieses Vergleichs vorwegzunehmen: Hauptsache, ich bin besser als die anderen. Dann muss der liebe Gott mich am Ende ja in den Himmel lassen!

Und dann ist da auf der anderen Seite der Zöllner. Wir mögen ihn, er scheint so bescheiden zu sein. Es gibt Darstellungen des Pharisäers und des Zöllners in der kirchlichen Kunst, in denen der Pharisäer als das dicke reiche Ekel erscheint und der Zöllner als der arme, liebe, dünne Mensch, den man am liebsten gleich knuddeln und trösten möchte. Doch in Wirklichkeit hatte ein Zöllner damals in der Regel wohl sehr viel mehr Geld als ein Pharisäer, und dass die Menschen sich über ihn aufregten, mit ihm nichts zu tun haben wollten, kann man gut verstehen: Den Leuten, die ohnehin nicht viel besaßen, noch einen guten Teil ihres Besitzes abzupressen und sich davon seinen eigenen Lifestyle zu finanzieren – das kam gar nicht gut an, das war auch überhaupt nicht gut. Im Tempelbereich musste der Zöllner weit draußen vor bleiben, im sogenannten Vorhof der Heiden, durfte aufgrund seiner Zusammenarbeit mit den heidnischen Römern gar nicht den Vorhof der Männer, in dem die frommen Juden zu beten pflegten, betreten. Und der Zöllner weiß auch, was er macht, ja, mehr noch: wie er vor Gott dasteht: Ein Sünder ist er, so bekennt er es. Uns geht dieses Wort „Sünder“ ja heute leicht über die Lippen. Es eignet sich für einige augenzwinkernde Bemerkungen, ja sogar für Karnevalsschlager. Das war damals zur Zeit Jesu noch völlig anders. Da war „Sünder“ noch ein richtig schlimmes Schimpfwort, klang eklig und abstoßend. „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ – das klang damals etwa so: „Gott, hab Erbarmen mit mir altem Dreckschwein!“ Der Zöllner weiß: Er kann nichts schönreden, nichts entschuldigen. Was er macht, ist und bleibt eine Sauerei, etwas eigentlich Unverzeihliches. Und genau das sagt er Gott, versucht nicht, seine Schuld zu relativieren dadurch, dass er doch eigentlich ein ganz netter Mensch ist, dass er doch auch viel Gutes tut, versucht auch nicht, seine Schuld dadurch zu relativieren, dass er sich mit anderen vergleicht, die vielleicht sogar noch schlechter sind als er. Nein, es bleibt bei diesem einen Satz: Hab Erbarmen mit mir altem Dreckschwein!

Und dann kommt der eigentliche Hammer: Jesus selber spricht sein Urteil über diese beiden Gottesdienstbesucher, über den Pharisäer und den Zöllner. Und das Urteil ist unglaublich: Der, der sich selber als Sünder, als Dreckschwein erkennt und bekennt, der wird von Christus gerecht gesprochen, freigesprochen, nicht der, der in seinem Leben scheinbar alles richtig gemacht hat, vorbildlich fromm gelebt habt. Freigesprochen, gerecht gesprochen wird der Zöllner wohlgemerkt nicht deshalb, weil er sich dafür entschieden hat, ein anständiger Mensch zu werden. Nein, so betont es Jesus ausdrücklich: Er ging gerechtfertigt in sein Zöllnerhaus zurück, jawohl, in sein Zöllnerhaus, aus dem er zum Tempel hochgegangen war, um seine Schweinereien zu bekennen. Er kommt da nicht raus aus seinem Zöllnerhaus. Und doch sagt Jesus. Er kehrt dorthin als ein Mensch zurück, der in Gottes Augen richtig dasteht. Es ist dasselbe Zöllnerhaus – und doch ist zugleich in seinem Leben alles anders geworden, weil Gott seine Bitte gehört hat, getan hat, was uns doch unvorstellbar erscheint: Er hat den Sünder gerecht gemacht.

Warum kommt ihr in den Gottesdienst? Jesus stellt diese Frage auch an euch. Was sucht ihr im Gottesdienst? Sucht ihr letztlich im Gottesdienst nur euch selber, eine Bestätigung dafür, dass ihr eigentlich ganz okay und in Ordnung seid? Wollt ihr wirklich dem lebendigen Gott begegnen oder euch nur ein paar gute Gefühle hier abholen? Ahnt ihr überhaupt etwas davon, dass ihr eigentlich überhaupt kein Recht dazu habt, euch dem lebendigen Gott zu nähern, dass ihr eigentlich in seiner Gegenwart vergehen müsstet, oder seid ihr so mit euch selber beschäftigt, dass es euch einigermaßen egal ist, was Gott von euch denken mag?

Warum kommt ihr in den Gottesdienst? Um euch bestätigen zu lassen, dass ihr besser seid als andere? Schaut ihr auf die, die es ja mit ihrem Glauben sicher nicht so ernst meinen wie ihr selbst? Seid ihr vielleicht gar mehr an der Sünde und dem Versagen der anderen interessiert als an eurer eigenen Sünde? Ja, tut es euch vielleicht sogar gut, über andere den Richter spielen zu können? Oder, noch gefährlicher, überlegt ihr euch vielleicht gar, nicht mehr hierher zur Kirche zu kommen, weil die anderen hier in der Kirche es ja doch nicht so ernst mit ihrem Glauben meinen, weil die doch alles nur Heuchler sind? Ach, Schwestern und Brüder, wie oft habe ich in den vergangenen Monaten und Jahren immer wieder an diese Erzählung Jesu gedacht, wenn mir nicht wenige neue Gemeindeglieder hier aus der Gemeinde erzählten: Ja, ich meine es mit meinem Glauben an Christus natürlich noch ganz ernst. Ich bin wirklich noch aus Überzeugung vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert. Aber die ganzen Iraner und Afghanen, die jetzt nach mir hier in die Gemeinde gekommen sind, die meinen das mit Sicherheit nicht mehr ernst, die kommen alle nur wegen ihres Aufenthalts hier in die Kirche. Und das kann ich kaum ertragen. Darum komme ich nicht mehr so oft. Wie leitet St. Lukas unser Gleichnis so wunderbar ein? „Jesus sagte zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis ...“. Da hat sich nicht viel geändert in den vergangenen 2000 Jahren!

Warum kommt ihr hierher in den Gottesdienst? Hoffentlich genau aus denselben Gründen wie der Zöllner hier in unserer Geschichte. Ihr kommt nicht hierher, um euch selber zu bestätigen, nicht, um euch ein wenig moralische oder emotionale Aufrüstung zu holen. Sondern ihr kommt hierher, um euch ganz ungeschminkt, ohne jedes Wenn und Aber unter Gottes Urteil zu stellen, um ganz ehrlich zu bekennen, was in eurem Leben Sache ist, um ganz ehrlich zu bekennen, dass ihr eigentlich mit eurem Leben die Hölle verdient habt. Hierhergekommen seid ihr nicht, um über andere zu sprechen, um euch mit anderen zu vergleichen, sondern nur von euch zu sprechen: Gott sei mir Sünder gnädig!

Ja, eben darum seid ihr hoffentlich auch heute hierhergekommen, weil auch ihr heute Morgen das Wunder des Zöllners an euch erfahren wollt: Mit ganz leeren Händen steht ihr da vor eurem Herrn, liefert euch ihm ganz aus. Und der staucht euch nicht zusammen, der hält euch auch keine Moralpredigt. Sondern der spricht euch allen Ernstes frei, rechtfertigt euch, wo ihr selber euch und euer Handeln, euer Herz niemals rechtfertigen könntet. Der hat euch heute Morgen in der Beichte eure Schuld vergeben – und der verbindet sich jetzt gleich wieder mit euch, nimmt alles von euch weg, was euch von ihm trennt. Ja, darum seid ihr hoffentlich hierhergekommen, weil ihr nicht wieder als dieselben aus dieser Kirche herauskommen wollt, als die ihr zuvor hierher hereingekommen seid. Als Sünder seid ihr hereingekommen – und als Menschen, denen die Tür zum Himmel wieder offensteht, als Menschen, denen alle Schuld abgewaschen worden ist, geht ihr hier wieder heraus. Alles wird anders, alles wird neu, wann immer ihr hier dem lebendigen Gott gegenübertretet. Ja, Gott geb’s, dass ihr darum, dass ihr darum allein heute hierhergekommen seid! Amen.

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