St. Markus 10,35-45 | Judika | Pfr. Dr. Martens

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da fand hier bei uns in der Gemeinde eine Missionsversammlung statt, bei der es ziemlich hoch herging. Mitglieder des Missionsbeirats waren zu wählen, und ich hatte völlig falsch eingeschätzt, mit was für Erwartungen viele aus der Missionsversammlung an diese Wahlen herangegangen waren: Sie betrachteten sie offenbar als eine Art von Wahl einer Regierung, als ob diejenigen, die kandidierten, die Macht in der Gemeinde übernehmen sollten, erwarteten entsprechend, dass es dann auch Kampfkandidaturen geben sollte, bei denen es am Ende dann Sieger und Verlierer geben sollte. Zu spät ist mir aufgegangen, dass ich hier offenbar viel mehr Aufklärungsarbeit hätte leisten müssen,  viel mehr hätte deutlich machen müssen, dass es in der Kirche tatsächlich anders zugeht als in der Politik. Ob mir dies in der Zwischenzeit besser gelungen ist – ich weiß es nicht.

Blicken wir nun nicht ein Jahr zurück, sondern blicken wir einfach mal zwei Stunden nach vorne. Da wird sich auch heute wieder vor meinem Besprechungszimmer das immer gleiche Schauspiel ereignen: Ein großer Pulk von Menschen wird sich um mich drängeln, und jeder einzelne wird versuchen, mir deutlich zu machen, dass er oder sie unbedingt die Nummer eins sein muss, unbedingt als erster drankommen muss, weil er oder sie es doch eiliger hat als alle anderen, weil sein Anliegen doch wichtiger ist als das der anderen. Scheinbar ganz Geschickte preschen dann auch schon einmal vor, versuchen, mich schon während des Mittagessens abzufangen, um ihr Anliegen loszuwerden. Wie ich damit umgehen soll? Eine ganz zufriedenstellende Lösung habe ich noch nicht gefunden.

Da erscheint es mir dann geradezu tröstlich, bei der Lektüre des Heiligen Evangeliums dieses Sonntags festzustellen, dass unser Herr Jesus Christus schon damals vor fast 2000 Jahren genau mit denselben Problemen und Herausforderungen konfrontiert war wie wir heute hier in Steglitz. Was ich da gerade geschildert habe, sind eben keine typischen Probleme von Iranern, Afghanen oder Deutschen – dahinter steht eine Einstellung, die offenbar uns Menschen insgesamt zu allen Zeiten und in allen Ländern ganz tief in den Knochen steckt.

Da ist Jesus auf dem Weg nach Jerusalem; die Jünger merken: Die Stunde der Entscheidung naht. Bald wird das Reich Gottes auch sichtbar Gestalt gewinnen. Und zumindest zwei der Jünger Jesu, Jakobus und Johannes, können sich das nicht anders vorstellen, als dass es dabei um die Erringung von Macht geht – von Macht, die dann anschließend auch wieder verteilt werden muss. Und dabei wollen sie nicht zu kurz kommen. Im Gegenteil: Sie wenden sich an Jesus mit Worten, die an Offenherzigkeit kaum zu überbieten sind und zugleich eine Einstellung offenbaren, mit der wir Menschen bis heute so gerne an Jesus herantreten: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Jesus soll liefern, was sie gerne haben möchten – dazu ist er, dazu ist der Glaube an ihn doch schließlich da: Dass unsere Wünsche und Bedürfnisse von Jesus befriedigt werden. Und wenn er nicht liefert, was wir gerne wollen, wenn die Gemeinde nicht liefert, was wir von ihr haben wollen – dann gehen wir eben weg, dann ist Jesus, dann ist die Gemeinde selber schuld, wenn sie nicht das tun, was wir von ihnen erwarten und gerne haben wollen.

Und dann sagen sie, was Jesus für sie tun soll: Er soll ihnen Machtpositionen einräumen, soll sie einmal in seinem Reich über andere herrschen lassen. Sie können es sich nicht anders vorstellen, als dass es auch in dem Reich, dem sie entgegengehen, anders sein könnte als so, wie sie es auch ansonsten hier auf Erden kennen: Dass es da Erste gibt, die die Macht haben, und andere, die sich ihrer Macht unterzuordnen haben. Und da wollen sie natürlich nicht zu kurz kommen, wollen selber die Ersten sein. Wozu haben sie die ganzen Entbehrungen auf sich genommen, wenn sie dafür am Ende nicht die entsprechende Gegenleistung erhalten? Und da es ja sein könnte, dass Jesus sie am Ende vielleicht doch nicht genügend würdigen könnte, wollen sie lieber vorher schon die Dinge abklären und festmachen – man kann ja nie wissen!

Als die anderen Jünger mitbekommen, wie sich Jakobus und Johannes da vorgedrängelt haben, kann man sich ihre Reaktion gut vorstellen: Sie sind sauer auf die beiden, haben Angst, dass sie etwas verpassen und nicht genügend von der Macht abbekommen, deren Verteilung scheinbar gerade begonnen hat. Ärger, Konflikte, Rangeleien um die besten Plätze – die gab es also auch schon damals unter den Aposteln, das ist nichts Neues.

Und wie reagiert Jesus nun auf diese Versuche, sich selber vorzudrängeln, sich selber in die beste Position zu befördern? Wie reagiert er auf die Erwartungen, die an ihn gerichtet werden, ja, wie geht er mit dieser Erwartung um, dass es auch in der Kirche zunächst und vor allem um Macht geht, um Verteilung von Macht, darum, in der Kirche gegenüber den anderen nicht zu kurz zu kommen?

Nein, er hält seinen Jüngern hier nicht eine Moralpredigt, erzählt ihnen nicht, wie man sich in der Kirche richtig benimmt – immer brav und zurückhaltend. Sondern er erzählt von sich selber, von dem, was sein Auftrag ist, wozu er gesandt ist: Er, der doch einmal für alle Menschen in seiner Herrlichkeit zu sehen sein wird, erhebt keinen Anspruch darauf, von anderen bedient zu werden, daraus Vorteile für sich selber zu ziehen, dass er der Herr ist. Nein, er kommt, um denen zu dienen, die eigentlich ihm dienen müssten, ja, mehr noch, er kommt, um sein Leben für die Vielen in den Tod zu geben, für all diejenigen, die mit ihrem Kreisen um sich selbst, mit ihrem Verlangen nach Macht und Einfluss, mit ihren Erwartungen, immer selber an erster Stelle zu stehen, sich eigentlich den Zugang zu Gottes neuer Welt selber ganz und gar verbaut haben.

Nein, Jesus stellt sich hier nicht bloß als Vorbild hin: Schaut her, wie ich anderen diene – so sollt ihr es auch machen. Er zeigt seinen Jüngern, dass er tut, was sie nie tun könnten und auch nie zu tun brauchen: Er zahlt mit seinem Tod am Kreuz den Preis unseres Versagens, unserer Schuld, kauft uns frei, damit wir als freie Menschen anders leben können, als wir es von uns aus geneigt sind zu tun. Genau daran denken wir in diesen beiden Wochen der Passionszeit, die heute mit dem Sonntag Judika beginnt, schauen ganz von uns weg, von unserem Versagen und von unseren Ansprüchen hin auf ihn, der seinen Dienst für uns versieht bis zum letzten Atemzug.

Und dass wir davon leben, dass ein anderer uns gedient hat und dient – so sehr, dass er für uns sein Leben geopfert hat! –, das soll, ja, das wird unser Leben als Christen prägen, so macht es uns Jesus deutlich. Er sagt nicht bloß: Ihr sollt euch anders verhalten, als es die Mächtigen dieser Welt sonst tun. Sondern er sagt: So wie bei den Mächtigen dieser Welt ist es bei euch nicht. Bei euch ist es schon anders, weil ich selber in eurer Mitte bin, weil ich euch auch weiter immer wieder diene. Da verändert sich etwas in eurem Leben, ja auch im Zusammenleben in der Kirche, in der Gemeinde.

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