St. Markus 3,31-35 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Wenn man sich mit Menschen aus unserer Gemeinde unterhält, die aus ihrer Heimat, aus dem Iran und Afghanistan, hierher nach Deutschland geflohen sind, und wenn man diese Menschen nach dem fragt, was sie am meisten bewegt, was ihnen am schwersten auf der Seele liegt, dann ist die Antwort immer wieder dieselbe: „Die Familie“. Ja, die Familie ist es, die so viele in unserer Gemeinde nachts nicht richtig schlafen lässt, die ihre Gedanken, ja oft genug eben auch ihre Träume bestimmt. Da gibt es nicht wenige in unserer Gemeinde, die überhaupt nicht wissen, wo sich ihre Familie überhaupt befindet, weil sie auf der Flucht nach Europa von ihr getrennt wurden und seitdem nie mehr etwas von ihr gehört haben. Da gibt es andere, die darum wissen, dass ihre Familie in ihrer Heimat eigentlich dringend auf sie angewiesen wäre, die aber auch darum wissen, dass sie als Christen keine Chance haben, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können, ihre Familie dort wiedersehen zu können. Da gibt es diejenigen, die daran kaputtgehen, dass sie wissen, dass Familienangehörige schwerkrank sind und sie keine Möglichkeit haben, sie noch einmal wiederzusehen. Da gibt es diejenigen, die erleben, wie ihre Familie in der Heimat bedroht und schikaniert wird, seit Nachbarn oder der Staat herausgefunden haben, dass die Familie einen Verwandten in Deutschland hat, der Christ geworden ist. Und da gibt es dann vor allem auch so viele in unserer Gemeinde, die darunter leiden, dass die eigenen Eltern, dass die eigene Familie den Kontakt zu ihnen abgebrochen hat, seit sie bekanntgegeben hatten, dass sie Christen geworden sind, dass sie sich hatten taufen lassen. Ja, dieser Bruch schmerzt, mehr noch als körperliche Schmerzen. Der Verlust der Familie – er belastet mehr als all die anderen Probleme, mit denen unsere Gemeindeglieder sonst noch hier in unserem Land zu tun haben.

Um einen schmerzhaften Bruch mit der Familie geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Da war Jesus nach seiner ungewöhnlichen Vorgeschichte offenkundig ganz normal wie andere Kinder und Jugendliche auch in seiner Familie aufgewachsen, hatte wie sein Stiefvater Josef auch gelernt, Häuser zu bauen, war offenkundig ganz normal in seine Familie integriert. Doch dann hatte sich mit einem Mal alles verändert: Statt weiter Häuser zu bauen, war Jesus losgezogen, hatte angefangen, den Menschen von Gott, seinem Vater, zu erzählen, hatte angefangen, Menschen zu heilen, ja, sie gerade auch von Belastungen durch böse Mächte zu befreien. Allein war er dabei nicht geblieben; viele Menschen hatten sich um ihn versammelt, rückten ihm immer wieder so nah, dass er kaum noch die Möglichkeit hatte, mal in Ruhe etwas zu essen, so schildert es St. Markus in den Versen, die unserer Predigtlesung vorangehen. Doch der Familie Jesu war dieses Treiben offenkundig hochnotpeinlich: Ihr Sohn und Bruder fing mit einem Mal an, zu predigen, sich selber als Gottes Sohn hinzustellen und Wunder zu vollbringen. Da wurde es allerhöchste Zeit, ihn schnell nach Nazareth zurückzuholen, bevor er völlig durchdrehte. Und so rücken sie in größerer Besetzung in Kapernaum an und lassen Jesus ausrichten, er soll aus dem Haus herauskommen, in dem sich wieder eine große Zahl von Menschen um ihn versammelt hatte.

Wenn die eigene Familie ruft – da war es doch eigentlich klar, dass Jesus ihr Respekt zeigte und gleich zu ihr nach draußen ging. So hätte es der damaligen Sitte entsprochen. Doch Jesus reagiert ganz anders: Er bleibt drinnen, im Kreise derer, die um ihn herumsaßen, geht nicht nach draußen. Ja, mehr noch: Er erklärt allen Ernstes, dass seine Familie eine ganz andere ist: Nicht automatisch die, mit denen er als wirklicher Mensch biologisch verwandt ist, nicht die, mit denen er zusammen aufgewachsen ist. Sondern seine Familie sind die, die sich um ihn versammeln, die sich von dem bestimmen lassen, was er, Jesus, ihnen als Gottes Willen vor Augen stellt – das sind seine Brüder und Schwestern, ja, das ist seine Mutter. Was für ein Bruch, den Jesus da vollzieht, was für eine gewiss auch schmerzliche Trennung für ihn, die sich aber eben doch nicht vermeiden lässt, wenn er nicht sich selbst und seinen Auftrag verleugnen will.

Wie hochaktuell ist diese Geschichte, die uns St. Markus hier erzählt, auch für uns heute:

Wenn es dich schmerzt, wenn es dir vielleicht gar den Schlaf raubt, dass du um Jesu willen einen Bruch mit deiner Familie, mit denen, die dir am nächsten standen, erleben musstest, dann denke daran: Jesus versteht dich; er hat selber eben diesen Bruch in seinem eigenen Leben erfahren. Er kennt diese Situation, in der man sich entscheiden muss, was einem wichtiger ist: die Familie oder der Wille Gottes. Und er stärkt dir den Rücken, wenn du denselben Weg gegangen bist, den auch er gegangen ist, wenn auch dir die Familie Jesu wichtiger ist als deine leibliche Familie.

Und damit sind wir bei der wirklich guten Botschaft unserer heutigen Predigtlesung: Ja, du gehörst zu einer Familie, du hast Schwestern und Brüder, du hast eine Mutter, du bist nicht allein.

Nun müssen wir allerdings schon genau hinschauen und hinhören auf das, was Jesus hier sagt. Jesus sagt nicht einfach: Ach, in der christlichen Gemeinde ist es doch auch so nett, da sind so viele nette Menschen, das ist doch ein guter Ersatz für deine Familie zu Hause. Nein, so platt geht Jesus nicht vor. Die christliche Gemeinde ist nicht einfach ein netter Verein von Leuten, die sich sympathisch sind, die sich untereinander gut verstehen. Wenn das alles wäre, was Jesus zu bieten hätte, dann würde ein Fußballverein auch ausreichen oder vielleicht ein Nachbarschaftstreff oder ein ähnliches Angebot zur Geselligkeit – und sei es vielleicht nur die Kneipe um die Ecke. Nein, die christliche Gemeinde als Familie ist etwas ganz anderes:

Es fällt zunächst einmal auf, dass Jesus hier nicht von seinem Vater spricht, sondern nur von der Mutter, den Schwestern und Brüdern. Der Platz des Vaters, der steht von vornherein fest: Vater ist Gott allein, er, dessen Sohn Jesus von Ewigkeit her ist und den auch alle als Vater anrufen dürfen, die sich um Jesus als ihren Herrn versammeln. Schwestern und Brüder sind wir alle miteinander deshalb, weil wir einen gemeinsamen Vater haben, den wir auch gemeinsam als Vater anrufen: Vater unser im Himmel, Ey pedare ma ke dar asemani. Darum ist die Kirche niemals ein religiöser Club, weil sie nicht dadurch entsteht, dass religiös interessierte Menschen sich zusammenschließen, sondern dadurch dass die Menschen zu ihr gehören, alle einen Vater haben – und eine Mutter. Denn niemand kann Gott zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat, so hat es schon der heilige Cyprian vor fast 1800 Jahren gelehrt. Ja, wir haben alle miteinander dieselbe Mutter, die uns in der heiligen Taufe gezeugt hat und durch die wir immer wieder genährt und gestärkt werden mit der Speise des ewigen Lebens, mit dem Leib und Blut Jesu Christi. Ohne diese Mutter können wir nicht leben; wir können nicht für uns allein Christen sein, weil wir uns damit abschneiden würden von dem Lebensquell, an dem wir nur durch diese Mutter Anteil erhalten. Komme ja nicht auf die Idee, du könntest doch auch für dich ganz allein Christ sein, du würdest diese Mutter, du würdest diese Familie nicht brauchen!

Und in dieser Familie dreht sich eben alles nur um einen: um ihn, Jesus Christus. Was für ein schönes Bild stellt uns St. Markus hier vor Augen: Menschen sitzen im Kreis um Jesus Christus herum, hören auf das, was er sagt. Das ist Kirche: Christus allein im Zentrum – und um ihn herum die Menschen, die sein Wort hören. Wenn Christus nicht mehr im Zentrum ist, wenn es nicht mehr um ihn zuerst und vor allem in der Kirche geht, dann hört die Kirche auf, Kirche, Familie Gottes zu sein. Dann ist sie vielleicht Aktivistenverband oder Religionsabteilung einer Partei oder eine Kuschelgruppe oder ein Club – aber eben nicht Kirche. Wo Christus nicht mehr als der ewige Sohn Gottes des Vaters angebetet wird, wo sein Wort in Frage gestellt wird, wo menschliche Aktivitäten an die Stelle der Gaben rücken, die Christus in seiner Kirche austeilt, dann kann man das, was sich da noch Kirche nennt, getrost dichtmachen, dann hat das nichts mehr mit der Familie Gottes zu tun, die uns Christus selber hier vor Augen stellt. Er, Christus allein, ist der Gastgeber, er ist auch hier und heute in unserer Mitte gegenwärtig, um ihn sind auch wir heute versammelt. Verlieren wir das ja nicht aus den Augen!

Und noch eins sollten wir nicht vergessen: Jawohl, wir haben viele Brüder und Schwestern in der Gemeinde. Aber Brüder und Schwestern kann man sich eben nicht aussuchen. Freunde oder Vereinskameraden, die kann man sich aussuchen oder den Verein wechseln, wenn einem die anderen nicht mehr passen. Für die Schwestern und Brüder, die uns an unsere Seite gestellt sind, ist allein der Vater zuständig, Gott allein, der sie uns gegeben hat. Entziehen wir uns darum den Schwestern und Brüdern nicht, auch und gerade, wenn sie uns mitunter vielleicht nerven mögen, wenn sie nicht unbedingt die sind, die wir uns selber gewünscht hätten. Gott hat uns die Brüder und Schwestern als Aufgabe an die Seite gestellt, will, dass wir an ihnen zeigen, dass wir es wirklich ernst nehmen mit der Familie Gottes. Denn eben dies ist der Wille Gottes. Ja, vergessen wir es nicht: Was uns St. Markus hier in seinem Evangelium zeigt, was wir auch hier und heute in unserer Gemeinde erleben, ist doch schon ein Vorgeschmack dessen, was uns schließlich auch am Ende im Himmel erwartet: Da werden wir auch nicht in Einzelkabinen sitzen und uns nur ganz persönlich am Himmel erfreuen. Sondern da werden wir auch alle einmal versammelt sein um Christus herum – eine Zahl von Menschen, die niemand wird zählen können: alles Brüder und Schwestern mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten, Menschen, von denen so viele ihre eigene Familie um Christi willen aufgegeben haben – und doch vor allem Menschen, die nur aus einem Grund dort im Himmel sind: Weil sie mit Jesus Christus verbunden waren und verbunden geblieben sind, weil dieser Jesus Christus sie in den Himmel gebracht hat. Mensch, wie gut, dass auch wir mit dazu gehören dürfen, dass auch wir bei Christus sein dürfen – in seiner Familie. Amen.

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