St. Markus 9, 17-27 | 17. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Mensch, was ist das für ein lahmer Laden hier! Immer nur ein ganz normaler Gottesdienst mit Liedern, einer Predigt und der Feier des heiligen Abendmahls. So sieht doch keine lebendige Gemeinde aus! Ich zeige euch mal, wo die Post wirklich abgeht – in Gemeinden, in denen am laufenden Band spektakuläre Heilungen stattfinden, in denen jeder Besucher gleich erkennen kann, was für eine Glaubenskraft die Gemeindeleiter haben, ja, mit was für einer Kraft der Heilige Geist dort in der Mitte der Gemeinde wirkt. Und wenn die Gemeindeleiter mal nicht so ganz weiterwissen, wie sie denn nun Leute heilen sollen, gibt es mittlerweile für solche Fälle auch extra ein „Handbuch für Heilung“ von Charles Hunter, in dem die verschiedenen Krankheiten und ihre Behandlung gleich aufgelistet sind. Schon in der Einleitung heißt es: „Wir brauchen nicht länger eine schwache, rückgratlose Gemeinde zu sein, ohne Kraft und ohne Wunder, sondern wir können eine kraftvolle Gemeinde sein, die im Übernatürlichen wandelt, in jedem Gottesdienst und in jeder Stunde an jedem Tag.“ Und wenn man dann beispielsweise das Stichwort „Schlaganfall“ aufschlägt, bekommt man folgende Anweisung: „1. Treibe den Geist des Todes aus. 2. Lege die Hände auf den Kopf und befiehlt dem Blutgerinnsel, sich aufzulösen und zu verschwinden. Beanspruche ein kreatives Wunder ... wenn nötig, sprich ein ganz neues Gehirn in den Körper.“ undsoweiter.

Nun könnte man über solche Äußerungen einfach nur den Kopf schütteln. Doch so einfach ist das eben nicht. Solche Glaubensgemeinschaften, die mit ihren angeblichen Wunderheilern werben, üben auf viele Christen, ja, gerade auch auf viele neu konvertierte Christen eine große Anziehungskraft aus. Sie beeindrucken mit ihren Versprechen, mit ihrer Behauptung, dass die Leute bei ihnen eine viel größere Glaubenskraft hätten, dass bei ihnen der Heilige Geist viel stärker wirken würde. Und so lassen sich Christen, die noch keine große Glaubenserfahrung haben, von solchen Gemeinschaften anlocken – und erleben dort in der Tat erst einmal eine scheinbar große Begeisterung, erleben dort Dinge, die es hier bei uns in unserer Gemeinde nicht zu geben scheint. Da verzichtet man dann auch gerne auf das Sakrament des Leibes und Blutes Christi, wenn man dafür handfest erfahrbare Wunder miterleben kann. Doch was ist, wenn die erhofften Wunder im eigenen Leben dann doch ausbleiben, wenn ich mit der Kraft meines Glaubens das Bundesamt und das Verwaltungsgericht nicht zu einer anderen Entscheidung zu bewegen vermag? Was ist, wenn meine Depressionen nicht mit einem Mal verschwinden, wenn ich nur richtig fest an Jesus glaube? Und was ist, wenn der Vater im Iran dann doch stirbt, obwohl ich so viele Befehle in den Iran geschickt hatte, dass der Geist der Krankheit doch umgehend von ihm weiche solle? Die entsprechenden Glaubensgemeinschaften haben dafür natürlich auch gleich eine Erklärung auf Lager: Du hast dann eben nicht fest genug geglaubt, wenn es nicht mit dem Wunder geklappt hat. Es zeigt, dass du doch noch kein ganz richtiger Christ bist. Denn dass die Gemeindeleiter einen genügend starken Glauben haben, daran sollte man ja wohl keinen Zweifel haben!

Auf diesem Hintergrund erscheinen die Worte unserer heutigen Predigtlesung ganz besonders aktuell – für all die, die sich von solchen angeblichen Heilungskirchen anlocken lassen, aber ebenso für alle anderen, denen es so ähnlich geht wie dem Vater des kranken Jungen hier in unserer Geschichte.

Die Geschichte, die uns St. Markus hier erzählt, beginnt mit einer großen Pleite: Da hatte ein Vater seinen kranken Sohn zu den Jüngern gebracht und sie darum gebeten, dass sie ihn heilen sollten. Die Jünger sind zu diesem Zeitpunkt nur zu neunt. Jesus ist mit dreien seiner Jünger oben auf dem Berg, wo Gott selbst ihn in seiner ganzen Herrlichkeit strahlen lässt und sich zu ihm als seinem Sohn bekennt. Und währenddessen stehen die neun verbliebenen Jünger da unten und versuchen sich vergeblich als Wunderheiler. Aber es klappt nicht – was für eine Pleite!

Und dann kommt Jesus zurück vom Berg. Was für ein Kontrast für ihn und auch für die Jünger, die ihn begleitet hatten: Aus dem Licht der himmlischen Herrlichkeit in das Dunkel menschlicher Not, ja, in das Dunkel des Todes; von der Stimme aus dem Himmel in den Bereich des Unglaubens, in dem offenkundig niemand aus der Nähe Gottes lebt. Kein Wunder, dass Jesus hier seufzt, wie er so offen, wie kaum an einem anderen Punkt in den Evangelien zum Ausdruck bringt, wie schwer es für ihn, den Sohn Gottes, war, seinen Auftrag hier auf Erden auszuführen. Gelitten hat er nicht nur am Kreuz, gelitten hat er auch in seinem ganzen Dienst zuvor, gelitten an dem Unglauben derer, denen er doch Gottes Nähe nahebringen wollte und sollte.

Und nun hat er die beiden vor sich: den Jungen, der von einem sprachlosen Geist gequält wird, wie es hier heißt, und den verzweifelten Vater, der es nicht ertragen kann zu sehen, wie sein Sohn immer wieder gequält wird. Wenn man die Beschreibung der Leiden des Jungen sieht, dann kommt man mit einem gewissen medizinischen Grundwissen schnell darauf, dass der arme Junge vermutlich an epileptischen Anfällen gelitten hat. Doch wir würden zu kurz greifen, wenn wir meinten, damit die Geschichte gleichsam erklären und verständlich machen zu können. Ganz deutlich sieht Jesus, dass es hier um mehr geht als bloß um neurologische Defekte im Gehirn. Dieser Junge leidet unter etwas viel Schwererem: unter einer Sprachlosigkeit, die ihn verschließt, und damit unter einer Macht, die man nicht einfach durch die Einnahme von ein paar Tabletten in den Griff bekommen könnte.

Und Jesus – der heilt diesen Jungen nicht einfach schnell mal, sondern er fängt erst einmal ein Gespräch mit dem Vater an. Er beginnt mit der Anamnese, fragt danach, wie lang der Junge schon diese Krankheit hat – und ermöglicht es dem Vater damit, nun selber erst einmal zu sprechen, nein, nicht allein über die Krankheit, sondern auch über seine eigene Not, die in dem Hilferuf zusammengefasst wird: Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Und Jesus – der greift diesen Zweifel, diese Frage auf: Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Was für ein gewaltiger Satz: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt! Haben die also doch recht, die sagen: Du musst nur glauben, dann kannst du auch ein neues Gehirn in einen Schlaganfallpatienten sprechen – und wenn das nicht klappt, dann liegt das eben entweder an deinem schwachen Glauben oder an dem schwachen Glauben des Patienten!? Ist der christliche Glaube also eine religiöse Form des Positiven Denkens: Du muss nur wollen, dann kannst du!

O nein, Jesus appelliert hier nicht an den guten Willen des Vaters, er fordert ihn nicht dazu auf, sich mal richtig zusammenzureißen und so ganz richtig und intensiv und fest zu glauben, damit sein Sohn gesundwird. O nein, keinem Menschen auf der Welt sind alle Dinge möglich. Alle Dinge zu können, das ist ein besonderes Prädikat Gottes, das ist eine Aussage, die in Wirklichkeit nur auf Gott selber passt. Glaube hat also nichts mit innerer Stärke zu tun, sondern allein damit, dass Menschen Anteil gegeben wird an dem, was Gott allein zu tun vermag und tatsächlich auch tut. Ja, vollkommen in dieser Gemeinschaft mit Gott steht eben tatsächlich nur einer: Er, der selber Gott ist, er, Jesus Christus. Dem Vater dagegen bleibt nichts anderes übrig als zu schreien: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ Ja, da ist beides zugleich: Der Glaube, den Jesus selbst mit seinen Worten in ihm hervorgerufen hat, und der Unglaube, der so tief in ihm drinsteckt, weil er doch auch, wie alle Menschen, zu diesem ungläubigen Geschlecht gehört.

Und dann wird Jesus selber tätig, er, der in der Tat voll und ganz Anteil hat an Gottes Vollmacht. Sein Wort hat die Kraft, die Macht dieses sprachlosen Geistes zu brechen, ja, mehr noch: diesen Jungen, der eigentlich schon mehr tot als lebendig war, wieder zu einem neuen Leben zu erwecken, zu einem neuen Leben, das nicht mehr von diesem sprachlosen Geist beherrscht wird.

Was für eine aktuelle Geschichte: Es ist eine Geschichte, in der nicht die Jünger mit ihren Heilungsgaben und ihrer Glaubensstärke im Zentrum stehen, im Gegenteil: Sie sind und bleiben Teil des ungläubigen Geschlechts, könnten auch nicht anders sprechen als der Vater hier in der Geschichte: Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Wo Menschen meinen, sie hätten die Fähigkeit zu einem vollkommenen Glauben, zu einem Glauben, dem alles möglich ist, dann verwechseln sie sich mit Jesus Christus, dann verdunkeln sie ihn, dem allein alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden.

Nein, diese Geschichte ist nicht eine Geschichte darüber, wie stark wir sind als Christen oder als Gemeinde. Sondern diese Geschichte ist eine Christus-Geschichte, eine Geschichte davon, was der allein vermag, der in der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott dem Vater lebt. Er allein ist unsere Hoffnung, er allein ist unsere Rettung. Zu ihm brauchen wir in der Tat nicht zu sagen: Wenn du kannst. Er kann allemal, er, von dem Gott der Vater selber sagt, dass er sein Sohn ist. Nein, biblisch wird ein Gottesdienst nicht dadurch, dass Menschen behaupten, sie könnten Heilungswunder vollbringen, dass Menschen behaupten, sie hätten im Unterschied zu anderen eine besondere Kraft. Sondern biblisch wird ein Gottesdienst dadurch, dass Christus in ihm das Sagen hat, dass sein machtvolles Wort laut wird, das alles zu ändern vermag. Biblisch wird ein Gottesdienst dadurch, dass Christus in ihm das Leben von Menschen verändert, indem er ihnen auf den Kopf zusagt: Dir sind deine Sünden vergeben. Biblisch wird ein Gottesdienst dadurch, dass Christus selber in die Mitte der Menschen tritt, durch sein machtvolles Wort Brot und Wein zu seinem Leib und Blut macht und damit in der Tat Heilung in das Leben von Menschen hineinbringt, die viel tiefer dringt, als alle medizinischen Maßnahmen dies je könnten. Biblisch wird ein Gottesdienst dadurch, dass Menschen in ihm immer wieder zu eben diesem Bekenntnis geführt werden: Ich glaube, hilf meinem Unglauben, dass sie wahrnehmen: Über dieses Bekenntnis werde ich mein Leben lang nicht hinauskommen, so wahr ich immer Gerechter und Sünder zugleich bleibe.

Nein, der Glaube ist keine menschliche Möglichkeit, er ist und bleibt immer Geschenk und Gabe Gottes selber, Gemeinschaft mit Christus, die uns in besonderer Weise immer wieder im Heiligen Mahl geschenkt wird. Glaube erwartet alles von Christus und nichts von uns selber, Glaube wird niemals denken, er könne etwas machen – erst recht nicht mithilfe von irgendwelchen Handbüchern. Nein, wir können selber gar nichts – und haben doch zugleich eine ganz wichtige Aufgabe: Wir dürfen und sollen mit diesem geschenkten Glauben für andere eintreten, die selber gar nicht zu Gott rufen, die selber gar nicht glauben können. So hat es die kanaanäische Frau im Heiligen Evangelium gemacht, so hat es auch der Vater hier in der Geschichte gemacht. So machen auch wir es gleich wieder im Kirchengebet, dass wir für andere eintreten, die selber nicht glauben und beten können. So machen wir es immer wieder auch bei der Taufe von Kindern, dass die Eltern für sie eintreten, wie jene Mutter, wie jener Vater, von denen wir heute gehört haben. Ja, gerade das ist und bleibt gut biblisch.

Ob eine Gemeinde schwach oder stark ist, liegt also nicht an den Fähigkeiten ihrer Gemeindeglieder, auch nicht an ihrem Glauben. Es liegt einzig daran, dass er, Christus, zu Wort kommt, dass er tut, was er allein zu tun vermag. Denn alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Amen.

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