„Städte in der Bibel“: Rom | Mittwoch nach Okuli | Pfr. Dr. Martens

Es ist schon fast dreißig Jahre her, dass ich mit den Studenten unserer Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel, die ich in meinem Lateinunterricht gehabt hatte, eine Studienfahrt nach Rom unternahm. Dort in Rom hatten wir das große Glück, dass wir eine Privatführung im Petersdom erhielten, die uns bis an das Grab des heiligen Petrus unterhalb des gewaltigen Petersdoms führte. Da standen wir also vor dem Grab des Petrus, für dessen Echtheit in der Tat zahlreiche archäologische Hinweise sprechen. Fast 2000 Jahre Kirchengeschichte schrumpften hier gleichsam zu nichts zusammen – und spiegelten sich doch zugleich so treffend wider in dem Kontrast zwischen dem Grab eines Fischers aus Galiläa, der in Rom hingerichtet wurde, und dem unübersehbaren steingewordenen Machtanspruch der Kirche in der Kathedrale des Papstes einige Meter über uns.

Ja, wenn wir uns in dieser Fastenzeit mit Städten in der Bibel beschäftigen, um darüber nachzudenken, wie wir als Christen in unserer Gesellschaft leben, dann darf Rom natürlich nicht fehlen – Rom, das immer wieder direkt und indirekt ein Thema ist, das sich durch das ganze Neue Testament hindurchzieht.

Das Grab des Petrus befindet sich in Rom, das Grab des Paulus auch. Was hat die beiden nach Rom gezogen? Bei Paulus können wir es recht genau festmachen: Er wollte unbedingt nach Rom, weil das Evangelium von Jesus Christus einen Öffentlichkeitsanspruch hat, weil es kein Privatvergnügen ist, das man auf ein Land, auf eine Kultur eingrenzen könnte. Nein, alle Menschen sollen erfahren, dass Gott seinen Sohn Jesus Christus am Kreuz für uns dahingegeben hat. Alle Menschen sollen erfahren, dass Jesus Christus den Tod besiegt hat und uns damit die gewisse Hoffnung des ewigen Lebens geschenkt hat. Alle Menschen sollen erfahren, dass wir eine wunderbare ewige Zukunft haben, die nicht auf dem beruht, was wir in unserem Leben tun und leisten, sondern die allein auf dem beruht, was Jesus Christus für uns getan hat. Petrus und Paulus – sie haben sich nicht in einen idyllischen Winkel der Weltgeschichte zurückgezogen, sondern sie wollten unbedingt, dass das Evangelium die Hauptstadt erreicht, dass auch dort von Jesus Christus gepredigt wird.

Rom – es erinnert uns von daher auch heute daran, dass wir als Christen unseren Auftrag verfehlen, wenn wir uns nur mit uns selbst beschäftigen, nur in unserem eigenen Saft schmoren oder das Evangelium zu einer Variante menschlicher Religiosität neben anderen degradieren. Nein, das Evangelium gehört in alle Hauptstädte dieser Welt. Es gehört nicht nur nach Rom, es gehört auch nach Kabul, nach Teheran, nach Pyöngyang, nach Peking – und eben auch nach Berlin. Die frohe Botschaft von Christus ist für Menschen aller Kulturen bestimmt – und wir würden es allemal verraten, wenn wir es mit einem bestimmten westlichen Lebensstil oder der Praktizierung bestimmter deutscher Gebräuche gleichsetzen würden. Das ist das Körnchen Wahrheit, das in dem Anspruch der römischen Kirche steckt, dass die Kirche als Weltkirche auf Rom hin ausgerichtet ist: Wenn Petrus und Paulus nach Rom wollten, dann war eben dies ihr Anliegen, dass das Evangelium von Rom aus die ganze Welt erreicht, dass es öffentlich vernehmbar wird in der ganzen Welt. Halten wir darum auch hier in Berlin nicht den Mund, wenn es darum geht, Christus zu predigen, seinen Anspruch und seinen Zuspruch so weiterzusagen, dass es möglichst viele hören können! Die Menschen haben einen Anspruch darauf, die Christusbotschaft erzählt zu bekommen. Ja, eben daran sollen und können uns auch die Gebeine des heiligen Petrus in Rom erinnern.

Nun kamen allerdings weder Petrus noch Paulus nach Rom, um dort eine Kathedrale zu errichten. Der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums ist eben kein Herrschaftsanspruch der Kirche. Paulus kam als Gefangener nach Rom, er konnte nichts anderes tun, als aus seinem Hausarrest heraus das Evangelium zu predigen, und auch von Petrus ist nicht bekannt, dass er irgendwelche Leitungspositionen in der Gemeinde in Rom innegehabt hätte. Das wäre auch durchaus schwierig gewesen, denn die eine Gemeinde in Rom, die gab es damals zur Zeit der Apostel gar nicht. Das wird einem schon deutlich an der Briefanrede, die der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer verwendet. Während er ansonsten schreiben kann: An die Gemeinde in Korinth, an die Gemeinden in Galatien, an die Gemeinde in Thessalonich, kann er das in Rom nicht. Hier herrschten ganz besondere Verhältnisse: Das Evangelium hatte die Hauptstadt schon längst vor Paulus und Petrus erreicht. Christen hatten in den jüdischen Synagogen in Rom das Evangelium gepredigt, worauf es dort in den Synagogengemeinden wohl zu solch einem Krach gekommen war, dass der Kaiser Claudius sich genötigt sah, selber einzugreifen und alle Juden aus Rom zu verbannen – und mit den Juden eben auch alle Christen, die damals von ihm offenbar als jüdische Sekte wahrgenommen worden waren. So begegnet Paulus dann auf seinen Missionsreisen mitunter auch Christen, die ursprünglich aus Rom stammten und dann die Stadt verlassen mussten. Als Kaiser Claudius dann starb, kehrten die Christen allmählich nach Rom zurück. Doch sie konnten sich nicht in einer Zentralgemeinde versammeln, sondern nur in vielen kleinen Hauskirchen, die immer damit rechnen mussten, von Spitzeln des römischen Geheimdienstes entdeckt zu werden. Rom erinnert uns also auch daran, dass die Existenzform, in der wir Christen in einer Gesellschaft unseren Glauben praktizieren können, sehr stark davon abhängt, welche Möglichkeiten und Freiheiten der jeweilige Staat uns lässt. Ja, Rom erinnert uns daran, wie groß die Gefahr ist, dass der Staat meint, sich in Glaubensdinge einmischen zu können, Grenzen zu überschreiten, die ihm eigentlich gesetzt sind.

Wir begehen in diesem Jahr ja nicht nur den 500. Jahrestag des Beginns der Reformation Martin Luthers. Wir denken auch daran, dass in diesem Jahr vor 200 Jahren der preußische König Friedrich Wilhelm III. mit der Einführung seiner Union begann, die schließlich in die Verfolgung lutherischer Christen durch den preußischen Staat in den Jahren nach 1830 einmündete. Da mussten die lutherischen Christen lernen, wieder wie die Christen in Rom damals auch sich in kleinen Hausgemeinden zu versammeln, ohne zu wissen, ob ihr Pastor nicht bald schon vom Staat verhaftet werden würde. Hausgemeinden sind auch so vielen Gliedern unserer Gemeinde aus dem Iran wohlbekannt, wo wieder ein Staat den Anspruch erhebt, bestimmen zu können, was die richtige Religion ist und was nicht. Und wir denken auch daran, was viele evangelische Christen zurzeit in Russland erleben, wo ebenfalls ein staatliches Dekret ihre Existenz bedroht. Doch schauen wir auch auf unser eigenes Land heute, wo wir immer wieder erleben, dass konvertierten Christen aus dem Iran und Afghanistan die Abschiebung droht, weil sie den Vorstellungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, wie ein wahrer Christ auszusehen hat, nicht entsprechen. Kirche als vom Staat bedrängte, verfolgte Kirche, christlicher Glaube als lebensgefährliches Unterfangen – das kommt den Vorstellungen von Kirche im Neuen Testament selber sehr viel näher als die Vorstellung einer Staatskirche oder einer staatstragenden Kirche, die die Politik einer Regierung nur noch einmal mit etwas frommer Soße religiös überhöht. Ja, gerade auch daran soll uns Rom im Neuen Testament erinnern.

Und dann steht der Name Rom im Neuen Testament natürlich auch für die Spannung zwischen dem Staat als von Gott gegebener Ordnung und dem Staat als widergöttlicher Macht. Da schreibt der Apostel Paulus ja den Christen in Rom, alle Obrigkeit sei von Gott angeordnet. Das schreibt er den Christen in Rom zu einer Zeit, in der der Kaiser Nero regiert, in der schon die dunklen Wolken der ersten schweren Christenverfolgung in Rom aufzuziehen beginnen. Und doch fordert Paulus die Christen in Rom zur Unterordnung unter die Obrigkeit auf, weil die die Aufgabe hat, dem Bösen eben auch mit den Mitteln staatlicher Gewalt zu wehren.

Uns mögen solche Sätze erst einmal etwas schwer verdaulich erscheinen, wenn wir etwa an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf deutschem Boden denken. Die sollen von Gott angeordnet gewesen sein? Doch was damit gemeint ist, davon können uns gerade unsere Schwestern und Brüder aus Afghanistan etwas berichten: Sie wissen, was es heißt, in einem Land zu leben, in dem die staatliche Ordnung weitgehend zusammengebrochen ist, in dem das Recht des Stärkeren regiert, in dem beispielsweise Christen Freiwild sind und ungestraft getötet werden dürfen. Ja, auch in der afghanischen Verfassung ist die Todesstrafe für die Konversion vom Islam zum christlichen Glauben verankert. Aber die Todesstrafe wird in Afghanistan eben nicht vom Staat vollstreckt – das übernehmen die Nachbarn oder die eigene Familie schon längst vorher. Wer solche Berichte hört, dem sollte das Gejammer über die angeblich in unserem Land schon zusammengebrochene Rechtsordnung im Halse stecken bleiben. Auf den Knien danken sollten wir Gott, dass wir in einem Staat leben, dessen Repräsentanten gewiss fehlsam sind, der uns aber doch mit seinen Möglichkeiten ein Ausmaß an Schutz gewährt, wie es nur in wenigen anderen Ländern dieser Welt der Fall ist.

Doch dieselbe staatliche Ordnung, die nach den Worten des Apostels Paulus das Schwert nicht umsonst trägt, tötet Paulus bald darauf mit eben diesem Schwert. Und nur wenige Jahrzehnte nach dem Brief des Paulus an die Christen in Rom nennt der Seher Johannes das römische Kaisertum das Tier aus dem Abgrund, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Christen zu vernichten, und das eben darum am Ende selber vernichtet wird. Immer wieder geschieht es, dass der Staat die Macht, die ihm von Gott verliehen ist, völlig missbraucht und sich damit zu einem Instrument gottfeindlicher Mächte verwandelt.

Als Christen tun wir gut daran, beides im Hinterkopf zu haben: den Dank für alle gute staatliche Ordnung, und die Warnung davor, alles staatliche Handeln, ja den Staat selber religiös zu überhöhen. Ja, wir zahlen ihm Steuern, wir respektieren ihn – aber immer bis zu der Grenze, dass wir Gott stets mehr gehorchen als den Menschen. Beides fasst der Apostel Paulus im 1. Timotheusbrief zusammen, wenn er die Christen dazu auffordert, für alle Obrigkeit zu beten. Denn nach Gottes Willen sollen Obrigkeiten immer wieder Freiräume schaffen, Freiräume, die der ungehinderten Verkündigung des Evangeliums dienen sollen, dass Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.  

Ja, darum sind Petrus und Paulus nach Rom gekommen – und eben dafür sind sie auch gestorben: Für das Zeugnis von Jesus Christus, der uns nicht verspricht, dass wir als Christen immer ein wohlbehütetes, einfaches Leben haben werden, der uns aber sehr wohl verspricht, dass wir im Glauben an ihn gerettet werden und das ewige Leben haben. Möge diese Botschaft überall auf der Welt ganz laut werden, möge es Regierungen immer weniger gelingen, diese Botschaft zum Schweigen zu bringen, ja möge eben dies in Hausgemeinden und in Kathedralen gleichermaßen verkündigt werden: Unsere Rettung allein um Christi willen, der für uns am Kreuz gestorben ist. Ja, möge eben diese Botschaft auch heute an vielen Orten dieser Welt klar und eindeutig zu vernehmen sein – in Berlin, in Teheran, und hoffentlich auch in Rom! Amen.

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