Ansprache über Lukas 6,36 | Tag der Beschneidung und Namengebung Jesu (Neujahr) | Pfr. Dr. Martens

Zu den besonders unerfreulichen Entwicklungen, die wir in diesem vergangenen Jahr 2020 nicht nur in unserem Land, sondern in vielen Ländern dieser Welt beobachten konnten, gehört eine Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager, die sich vollkommen unversöhnlich gegenüberstehen. Und jedes der beiden Lager hat seine fertigen Schubladen, in die jeder Mensch, der einem begegnet, dann auch gleich einsortiert wird: Steht er auf unserer Seite oder auf der Seite der anderen? Ist er ein Guter oder ein Böser – ein Wissender oder ein Unwissender? Sehr schnell werden dann Urteile gefällt, sobald auch nur ein erster Eindruck gewonnen worden ist – und diese Urteile lassen sich dann oftmals nur noch schwer revidieren. Und erst recht ist bei diesem Freund-Feind-Denken dann kein Platz mehr für die, die irgendwo dazwischenstehen, die sich nicht gleich einordnen lassen. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!

Ja, sehr passend ist gerade auch auf diesem Hintergrund die Jahreslosung dieses neuen Jahres 2021. Um Barmherzigkeit geht es in ihr, um eine Eigenschaft, die in den gesellschaftlichen Grabenkämpfen mit ihren Standgerichten in diesem letzten Jahr oft so wenig zu bemerken war.

Ja, Barmherzigkeit haben wir dringend nötig. Allerdings scheint die Jahreslosung dieses neuen Jahres auf den ersten Blick dann auch wieder keine wirkliche Hilfe darzustellen, denn sie beginnt doch scheinbar gleich mit einer Forderung: Seid barmherzig! Ja, wie soll ich das denn anstellen, barmherzig zu sein, wenn all die anderen so unbarmherzig zu sein scheinen? Oder soll ich diese Aufforderung schnell an die anderen weiterleiten: Seht ihr: Jesus sagt es doch auch: Ihr sollt endlich mal barmherzig werden! Fangt damit endlich mal an!

Doch wenn wir genauer hinschauen, dann folgt auf die Aufforderung ja gleich auch eine Zusage, die diese Aufforderung begründet, ja deren Erfüllung überhaupt erst möglich macht: „wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Barmherzigkeit – das ist also nicht eine unerfüllbare Zielvorgabe, sondern eine Realität, die längst existiert. Gott ist schon barmherzig, längst bevor wir überhaupt damit angefangen haben.

Dass Gott „barmherzig“ ist, das ist eine Aussage, die viele unserer neuen Gemeindeglieder schon aus dem Islam kennen. Immer wieder wird im Islam Allah als der Barmherzige gepriesen, was dann immer wieder manch unbedarften BAMF-Entscheider dazu veranlasst, zu behaupten, dass es eigentlich doch gar keine so großen Unterschiede zwischen dem Islam und dem christlichen Glauben gebe. Doch in Wirklichkeit ist mit „Barmherzigkeit“ im Islam etwas völlig anderes gemeint als im christlichen Glauben: Im Islam besteht die Barmherzigkeit Allahs darin, dass er dem Sünder die Möglichkeit gibt, noch rechtzeitig umzukehren und seine schlechten Taten wiedergutzumachen, bevor der Tag des letzten Gerichts kommt. Die Barmherzigkeit Gottes, von der die Heilige Schrift spricht, sieht dagegen ganz anders aus, so zeigt es uns das schöne Bild zur neuen Jahreslosung sehr eindrücklich: Da sehen wir den Regenbogen, und der Regenbogen ist Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes, der zusagt, nicht noch einmal eine Sintflut über die Menschheit kommen zu lassen, obwohl und weil er erkannt hat, dass das Herz des Menschen böse von Jugend auf ist. Gottes Barmherzigkeit gilt dem, der sich selber nicht zu ändern vermag. Sie besteht nicht bloß darin, dass Gott dem Menschen die Chance gibt, begangenes Unrecht noch einmal auszugleichen, sondern sie besteht darin, dass er selber vergibt, bevor der Mensch sich überhaupt ändern konnte. Das hat er in dem Tod seines Sohnes Jesus Christus am Kreuz gezeigt, das auf der linken Seite des Bildes zu erkennen ist. Barmherzigkeit heißt: Geduld mit dem zu haben, der nicht dazu in der Lage ist, sich zu ändern, und Barmherzigkeit heißt: dem zu vergeben, der etwas getan hat, was menschlich gesprochen doch gar nicht vergeben werden kann.

Und nun sollen wir sein wie Gott? Wie sollen wir das denn bloß schaffen? Ach, darum geht es doch gar nicht, so macht es das Bild mit der Jahreslosung so wunderbar deutlich: Da sehen wir zwei Menschen, in grün gehalten. Die Farbe Grün entsteht, wo das Blau des Himmels mit dem Regenbogen sich mit dem Goldgelb der Liebe Gottes im Kreuz seines Sohnes verbindet. Nicht wir müssen etwas tun, sondern Gott selber ist es, der uns mit seiner Barmherzigkeit verwandelt. Wörtlich heißt es eben auch im griechischen Text der Jahreslosung: „Werdet barmherzig!“ Da geschieht etwas mit uns, wenn wir im Einflussbereich der Barmherzigkeit Gottes leben. Da geschieht etwas mit uns, wenn wir es hier im Gottesdienst immer wieder erfahren, dass Christus nicht darauf wartet, dass wir doch noch gute Menschen werden, sondern uns Sündern, uns oft so unbarmherzig urteilenden Menschen seinen Leib und sein Blut austeilen lässt.

Ja, da geschieht etwas mit uns, dass wir beginnen, andere Menschen mit den Augen Gottes wahrzunehmen, dass wir sie nicht gleich in Schubladen stecken, nicht gleich verurteilen, weil sie anders sind als wir. Da geschieht etwas mit uns, dass wir beginnen, Menschen nicht mehr auf ihre Vergangenheit festzunageln, sondern bereit werden, ihnen zu vergeben, ihnen Möglichkeiten des Neuanfangs auch mit uns zu gewähren.

Nein, diese Jahreslosung setzt uns nicht unter Druck, sondern sie öffnet uns einen ganz neuen Horizont für unser Leben: Unter dem weiten Himmel der Barmherzigkeit Gottes dürfen wir leben, und unter diesem Himmel kann unser Herz ganz weit und ganz warm werden – gewärmt von der Barmherzigkeit Gottes, die unser eigenes Leben prägt und bestimmt. Nein, es muss nicht alles so bleiben, wie es ist, auch nicht in unseren Urteilen über andere Menschen. Denn Gottes Barmherzigkeit ist jeden Morgen neu – was für eine gute Nachricht für den Start dieses Jahres 2021! Amen.

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