Apostelgeschichte 10,21-35 | 3. Sonntag nach Epiphanias | Pfr. Dr. Martens

Manchmal denke ich, ich müsste mich mal kneifen, um festzustellen, dass es tatsächlich kein Traum ist, was ich hier in unserer Gemeinde erlebe: So viele zumeist junge Menschen aus Ländern, die eigentlich gar keinen Zugang zum christlichen Glauben haben, und die jetzt hier in unserer Mitte den Weg zu Christus gefunden haben, den Weg hierher an seinen Altar. Doch wenn ich mich kneife, stelle ich fest: Es ist tatsächlich kein Traum, es ist eine Realität, die wir hier wahrnehmen. Wie ist das möglich gewesen, was ist da eigentlich passiert, mögen wir fragen, ja werden wir immer wieder auch von anderen gefragt.

Die Predigtlesung des heutigen Sonntags kann uns da eine wichtige Hilfe sein, um besser zu verstehen, was hier in unserer Mitte geschehen ist und geschieht. Gewiss, es ist eine Geschichte aus einer ganz anderen Zeit unter ganz anderen Umständen. Aber sie kann uns dennoch die Augen öffnen für vieles, was wir auch hier und jetzt in unserer Gemeinde erleben.

Die Geschichte, die uns St. Lukas hier berichtet, ereignete sich einige Zeit, vielleicht wenige Jahre, nach dem Pfingstfest in Jerusalem. 3000 Leute hatten sich bei diesem ersten Pfingstfest taufen lassen, Menschen aus ganz verschiedenen Ländern mit ganz verschiedenen Sprachen. Aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie waren alle Juden, gehörten damit zu einer geschlossenen Gruppe, zu deren Selbstverständnis es gehörte, dass sie sich deutlich von allen anderen unterschied, die eben nicht zu ihr gehörten. Und dieses Selbstverständnis ließ sich mit den Begriffen „rein“ und „unrein“ zum Ausdruck bringen. Wer zum Volk Gottes gehörte, wer darum als männliches Wesen beschnitten war, der gehörte damit zu den Reinen, und er musste entsprechend darauf achten, sich nicht dadurch zu verunreinigen, dass er zu eng in Kontakt mit denen trat, die nicht zum Volk Gottes gehörten und darum unrein waren. Das bedeutete, dass ein frommer Jude nicht das Haus eines Nichtjuden betreten durfte. Das bedeutete, dass es für einen Juden auch schwierig war, einen Nichtjuden bei sich übernachten zu lassen. Es bedeutete auf jeden Fall, dass ein Jude niemals gemeinsam mit einem Nichtjuden essen durfte, weil damit auch das Essen, das er zu sich nahm, als unrein galt. Und all das hatte ein frommer Jude für sich selber so internalisiert, dass allein die Vorstellung, gemeinsam mit einem Nichtjuden zu essen, Ekelgefühle bei ihm hervorrief.

Diejenigen, die hier in Europa eine Sozialisation in einer christlichen Umgebung erfahren haben, können sich gar nicht vorstellen, was für eine Bedeutung dieses Denken von „rein“ und „unrein“ für das tägliche Leben haben kann, wie tief Menschen von diesem Denken geprägt sein können. Wohl aber können diejenigen unter uns, die ursprünglich aus dem Islam stammen, dieses Denken nachvollziehen, das eben auch der Islam in etwas veränderter Form übernommen hat. Da muss man auch ganz genau darauf achten, was haram ist und was halal – ja, mehr noch: Das wirkt sich dann eben auch aus auf das Zusammenleben der Menschen. Viele unserer Gemeindeglieder haben es in den vergangenen Jahren in ihren Asylbewerberheimen erlebt, dass sie von den muslimischen Mitbewohnern aus der Küche geworfen wurden, dass ihnen die Benutzung der Küchengeräte untersagt wurde, weil diese Geräte dadurch unrein würden, wenn sie von einem Ungläubigen, von einem Kouffar, benutzt würden. Und die politisch Verantwortlichen in unserem Land konnten das überhaupt nicht nachvollziehen, was für eine Bedeutung dieses Denken von „rein“ und „unrein“ für die muslimischen Heimbewohner hatte, ahnten nichts davon, mit was für einer Intensität diese Regeln von „rein“ und „unrein“ zu Lasten der christlichen Heimbewohner durchgesetzt wurden.

Rein und unrein – genau dieses Denken prägte auch die Apostel selbst noch nach dem ersten Pfingsten. Was es bedeutete, dass Jesus ihnen nach seiner Auferstehung gesagt hatte: „Geht hin in alle Welt!“, das war ihnen noch gar nicht so richtig aufgegangen. Und so beschränkten sie sich zunächst einmal damit, das Evangelium anderen Juden zu verkündigen. Die Vorstellung, gemeinsam mit Nichtjuden an einem Tisch zu sitzen, mit ihnen gemeinsam das Heilige Abendmahl zu feiern, lag zunächst völlig außerhalb von ihrem Horizont. Und so wäre es vielleicht auch geblieben – wenn Gott nicht selber ganz massiv eingegriffen hätte, so schildert es uns St. Lukas hier in unserer Predigtlesung und in den Versen, die ihr vorausgehen. Gott selber führt einen Nichtjuden zum Glauben an Christus – und bringt dem Petrus zugleich bei, diese Gedanken von „rein“ und „unrein“ aus seinem Denken zu streichen.

Da befindet sich der Petrus gerade in Joppe, dem heutigen Jaffa, und verrichtet dort auf dem Dach eines Hauses direkt am Meer sein Nachmittagsgebet. Und dabei lässt Gott ihn ein Tuch sehen, das vom Himmel herabgelassen wird, und in diesem Tuch befinden sich lauter unreine Tiere. Doch Petrus hört eine Stimme, die ihm befiehlt: „Steh auf, Petrus, schlachte und iss!“ Petrus weigert sich, dem Befehl Folge zu leisten; doch die Stimme aus dem Himmel sagt zu ihm: „Was Gott rein gemacht hat, das nenne du nicht unrein!“ Während Petrus noch darüber nachdenkt, was das zu bedeuten hat, stehen bei ihm drei Männer vor der Tür, die der römische Hauptmann Kornelius, also ein Nichtjude, zu ihm geschickt hatte. Dem wiederum hatte Gott einen Engel gesandt, der ihm gesagt hatte, er solle den Petrus aus Joppe in sein Haus holen. Also hatte der Kornelius diese drei Männer nach Joppe gesandt, die dort nun schließlich Petrus gefunden hatten. Und damit auch ja nichts schieflief, hatte Gott dem Petrus auch schon gesteckt, dass die drei Männer da nicht zufällig vor seiner Tür standen, sondern dass er, Gott, da seine Hand im Spiel gehabt hatte.

Der Petrus hatte offenkundig schnell verstanden, was Gott ihm da oben auf dem Dach gezeigt hatte: Es ging nicht bloß um die Frage von Essen, sondern um die Frage von rein oder unrein überhaupt. Und so lässt der Petrus doch tatsächlich diese nichtjüdischen Männer in die Wohnung und lässt sie dort bei sich übernachten. Da geht offenkundig etwas bei ihm los.

Und dann geht alles so richtig los: Petrus zieht mit den drei Männern los an der Mittelmeerküste entlang Richtung Cäsarea, der Residenzstadt der römischen Truppen. Einige andere Christen aus Joppe kamen mit ihm. Von Joppe nach Cäsarea waren es etwa gut 50 Kilometer, und so kommen sie dann schließlich einen Tag später dort in Cäsarea an. Dort in Cäsarea hatte der Kornelius seine Verwandten und Freunde bei sich in die Wohnung eingeladen. Wenn ein Engel ihm gesagt hatte, er solle den Petrus holen, dann musste der ja wohl etwas ganz Besonderes zu sagen haben, ja, wohl auch etwas ganz Besonderes sein. Nun war der Kornelius als römischer Soldat, wie gesagt, kein Jude – und so dachte er, wie man als Nichtjude damals so dachte, dass der Petrus wohl so eine Art von Gott in Menschengestalt sein müsste, wenn ein Engel ihm befiehlt, ihn holen zu lassen. Und so fällt der Kornelius vor Petrus nieder und betet ihn an. Doch davon hält der Petrus nun gar nichts: Er zieht ihn schnell wieder hoch und macht deutlich, dass der Kornelius das alles nicht so ganz richtig verstanden hat: Er, Petrus, ist auch nur ein Mensch, allerdings ein Mensch mit einer Botschaft von Gott. Doch bevor er diese Botschaft den Leuten, die der Kornelius da in seinem Haus versammelt hat, verkündigt, spricht Petrus zunächst einmal von der Botschaft, die er selber gerade von Gott empfangen hatte: Er erklärt den Anwesenden, was für ein großer Schritt das für ihn gerade war, in das Haus eines Nichtjuden zu gehen. Doch er erklärt, dass er dies getan habe, weil Gott selber ihm gezeigt habe, dass es keine unreinen Menschen gibt. Dann fragt der Petrus, was sie denn von ihm wollen. Und da erzählt der Kornelius nun seine Geschichte, wie ein Engel ihn dazu aufgefordert habe, ihn, Petrus, zu holen, damit er ihm und den hier Versammelten nun erzählen sollte, was der Herr ihm aufgetragen habe.

Und da versteht der Petrus nun endgültig, wie diese ganzen scheinbar verrückten Geschichten miteinander zusammenhängen: Gott selbst will, dass Menschen aus allen Völkern die Christusbotschaft hören und in die Gemeinschaft von Gottes Volk aufgenommen werden. Damit endet unsere Predigtlesung; aber die Geschichte geht natürlich weiter: Petrus predigt seinen Zuhörern Christus, und durch diese Predigt empfangen die nichtjüdischen Zuhörer den Heiligen Geist und lassen sich taufen. Die Mauer zwischen rein und unrein – sie ist in der christlichen Kirche damit endgültig eingerissen.

Wenn ich mir unsere Gemeinde anschaue, dann denke ich nicht, dass diejenigen, die in unsere Gemeinde gekommen sind, so große Schwierigkeiten hatten, ihr Denken von rein und unrein zu überwinden und mit deutschen Nichtmuslimen Gemeinschaft zu haben. Eher habe ich es erlebt, dass es so manche Deutsche gab und gibt, die eben darum auch nicht unbedingt hier in der Kirche sitzen, ja, auch deutsche Gemeindeglieder, die sich sehr schwer damit getan haben, dass Menschen, denen gegenüber sie eine instinktive Abneigung hegten, in unsere Gemeinde kommen sollten. Wäre es nicht doch schöner und kuscheliger gewesen, wenn wir hier so ganz unter uns geblieben wären, im kleinen, überschaubaren Kreis – statt dass wir nun mit Menschen zusammen sind, die eine so ganz andere Lebensgeschichte mitbringen als die, die wir gewohnt waren?

Nein, von uns aus wären wir wohl auch niemals auf die Idee gekommen, eine Gemeinde aus Deutschen, Iranern, Afghanen, Pakistanis und manch anderen Nationalitäten noch dazu zu gründen. Doch was damals der Petrus erfahren hat, haben wir beinahe ähnlich handgreiflich auch in unserer Gemeinde erfahren: Wir waren es eben nicht, die diese Gemeinde aufgebaut haben, ja, die auch nur die Idee hatten, eine Arbeit unter Menschen aus dem Iran und Afghanistan zu beginnen. Gott selber hat uns in diese Richtung gestoßen, so können wir rückblickend immer wieder nur staunend erkennen: Er hat uns mehrfach davon abgehalten, diese Kirche abzureißen; er hat auch allen möglichen Ärger und Verdruss benutzt, um unser Projekt hier zu starten, er hat uns immer genau zur rechten Zeit die Menschen geschickt, die wir als Mitarbeiter hier in unserer Arbeit brauchten. Ja, Gott war es, der uns gelehrt hat, dass wir alle miteinander zusammengehören, alle miteinander von Christus in die Gemeinschaft der einen Kirche gerufen worden sind, ganz gleich, ob wir in Shiraz, in Herat oder in Berlin geboren sind. Gott ist es, der es uns gelehrt hat, wie wunderbar es ist, dass wir alle miteinander gemeinsam hier am Altar knien und aus dem einen Kelch trinken, gemeinsam durch den Leib und das Blut des Herrn zusammengeschlossen werden. Nein, wir sind hier kein religiöser Club, sondern Projekt unseres Herrn Jesus Christus zur Rettung von Menschen aus vielen verschiedenen Völkern. Nein, wir träumen hier nicht. Es ist Realität, so real es ist, dass Jesus Christus selber auferstanden ist und lebt und in unserer Mitte gegenwärtig ist. Was in der Apostelgeschichte beschrieben wird, geht weiter, bis zum heutigen Tag. Und so warten wir gespannt, was unser Herr in der Zukunft wohl noch so alles für Überraschungen für uns bereithält. Wenn er etwas will, dann wird er es auch durchsetzen, ja auch und gerade hier bei uns. Amen.  

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