Apostelgeschichte 1,3-11 | Christi Himmelfahrt | Pfr. Dr. Martens
In einer Gemeinde wie der unseren mit weit über 1000 Gemeindegliedern kommt es immer wieder einmal vor, dass ich an ein Gemeindeglied oder an einen Taufbewerber einen Brief oder eine Karte schreibe und dass diese Karte dann einige Zeit später wieder zurückkommt mit dem Vermerk: „Unbekannt verzogen“. Die Gründe für diese Zurücksendung können unterschiedlich sein: In vielen Fällen konnte offenbar der Briefträger einfach nicht den Namen am Briefkasten lesen; in anderen Fällen haben mir die Betreffenden einfach nicht mitgeteilt, dass sie längst umgezogen sind. Da muss ich mich dann auf die Suche begeben, Bekannte fragen, Facebook einsetzen – in manchen Fällen schließlich auch die Meldestelle beim Bürgeramt. Doch es gibt am Ende immer noch den einen oder anderen Fall, bei dem ich schließlich nicht mehr weiterkomme: Der oder die Betreffende ist einfach spurlos verschwunden – und wird dann irgendwann von mir auch aus der Gemeindeliste gestrichen.
Heute feiern wir das Fest der Himmelfahrt Christi. Ist das wirklich ein Grund zum Feiern, oder ist es einfach der Tag, an dem wir auch in Bezug auf Jesus ein wenig resigniert feststellen müssen: „Unbekannt verzogen“? Ja, ist es vielleicht sogar der Tag, an dem wir Jesus realistischerweise aus der Liste derer streichen müssen, an die wir in unserem Leben irgendwie noch herankommen können? Nur wer die Epistel des heutigen Festtags sehr oberflächlich liest, wird auf solch eine Idee kommen können! Was uns St. Lukas hier schildert, ist gerade nicht eine Geschichte vom Verschwinden Jesu, keine traurige Abschiedsgeschichte, sondern vielmehr eine Geschichte, die uns deutlich macht, wo Jesus ist, wo wir ihn auch weiter finden können, ja, gerade und erst recht nach seiner Himmelfahrt:
- über uns
- bei uns
- vor uns
I.
Wir finden Jesus über uns – das ist das erste, was uns St. Lukas hier deutlich macht. Allerdings finden wir ihn nicht in der Weise über uns, wie sich dies viele Leute, wenn sie von der Himmelfahrt Christi hören, erst einmal vorstellen mögen. Dass Jesus „oben“ ist, hat natürlich nichts mit Sternen oder Weltraum oder ähnlichem zu tun. So naiv war auch der Lukas damals nicht, als er den Bericht von der Himmelfahrt Christi verfasste. Eine Wolke verhüllt Jesus – er ist einfach nicht mehr zu sehen, obwohl er natürlich da ist und da bleibt. Aber er ist in ganz anderem Sinne „oben“, eben „über uns“: nämlich so, dass er auch weiter bestimmt, wo es in der Kirche, wo es auch in unserem Leben langzugehen hat.
Vor 25 Jahren lief im Kino der Film „Kevin allein zu Haus“. Darin wird geschildert, wie ein achtjähriger Junge allein das Haus seiner Eltern verteidigen muss, die ihn aus Versehen dort im Haus bei ihrer Urlaubsreise allein zurückgelassen haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass heutzutage in der Kirche oftmals auch „Kevin allein zu Haus“ gespielt wird, dass Menschen auch in ihrem persönlichen Leben oftmals „Kevin allein zu Haus“ spielen. So leicht sind wir geneigt zu meinen, wir müssten in unserem Leben, wir müssten in der Kirche nun allein ohne Jesus zurechtkommen, könnten mit Jesus nur noch als Gestalt der Vergangenheit rechnen, der uns einige wichtige Tipps vor seinem Dahinscheiden hinterlassen hat. Aber nun ist er eben weg – und da kann man dann schon selber machen, was man will, kann Gebote des Herrn einfach mal für nicht mehr zeitgemäß erklären, kann behaupten, das, was Jesus damals gesagt habe, sei heute ja längst verstaubt und nicht mehr aktuell, und wir könnten das heute alles ganz anders sagen und regeln. Da kann man dann tatsächlich auch auf die Idee kommen, so zu tun, als sei man auch in seinem persönlichen Leben ganz unter sich; mit Jesus bräuchte man ernsthaft doch eigentlich nicht mehr zu rechnen.
Doch Jesus ist eben nicht weg. Er ist und bleibt über uns, das heißt: Er ist und bleibt der Herr der Welt und der Herr auch unseres Lebens. Was er seinen Aposteln anvertraut hat, das hat auch weiter Bestand, das hat er nicht nach einer Weile wieder verschämt zurückgenommen; sondern das gilt, nicht nur als ein ehrwürdiges Wort der Vergangenheit. Sondern durch diese Worte spricht Jesus Christus auch heute noch zu uns, regiert auch weiter seine Kirche, erweist sich auch weiter als der Herr unseres Lebens. Nicht die Abwesenheit Christi feiern wir heute an diesem Tag, sondern seine Herrschaft über die ganze Welt, die er gerade mit seiner Himmelfahrt angetreten hat. Christus ist und bleibt der Herr der ganzen Geschichte. Aber in seiner Kirche regiert er noch einmal besonders, lenkt sie sehr direkt mit seinem Wort, durch das er zu uns spricht, ja, auch hier und heute wieder in diesem Gottesdienst. Kommen wir darum ja nicht auf die Idee, „Kevin allein zu Haus“ in der Kirche zu spielen, zu meinen, wir könnten die Zukunft der Kirche allein bestimmen, ja retten, erst recht nicht dadurch, dass wir uns von dem abwenden, was Christus gesagt hat! Eine Kirche, die Christus nicht mehr über sich weiß, ist eben nicht mehr die Kirche Jesu Christi, sondern bestenfalls noch ein religiöser Selbstbespaßungsverein, mehr nicht. Und Gruppen, die meinen, sie müssten die Warnung Jesu nicht ernst nehmen, dass wir gerade nicht die Zeit und Stunde seines Kommens berechnen sollen, zeigen eben damit auch, dass sie sich von Christus entfernt haben, nicht unter ihm stehen, sondern ihre eigenen Wege als Sekte gehen. Folgen wir ihnen darin ja nicht!
II.
Ja, wir haben Christus über uns, gerade weil er bei seiner Himmelfahrt zum Herrn über alles eingesetzt worden ist. Doch dass er über uns ist, heißt eben nicht, dass er sich von uns entfernt hat, sondern dass er gerade bei uns ist.
Vor vielen Jahrhunderten war es in manchen Kirchen hier in Deutschland üblich, dass am Fest der Himmelfahrt Christi eine große Holzpuppe mit den Zügen Jesu Christi in der Kirche nach oben unter die Decke gezogen wurde. Oben angekommen, öffnete sich dann eine Klappe in der Puppe, und auf die Gemeinde rieselten lauter Hostien herab – natürlich nicht gesegnete. Aber was damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, war klar: Jesus fährt gen Himmel – aber jetzt kommt er immer wieder zu uns in den Gestalten von Brot und Wein im Heiligen Mahl.
Schwestern und Brüder, dieses Spektakel mit einer Holzpuppe, die unter die Decke gezogen wird, ersparen wir uns heutzutage lieber – erst recht, da wir froh sein können, dass das Loch bei uns in der Kirchendecke in der vergangenen Woche nun endlich repariert worden ist. Aber die Sache bleibt doch richtig: Jesus ist nicht weg, er ist bei uns. Und wenn er seinen Jüngern verspricht, ihnen den Heiligen Geist zu senden, dann bedeutet das gerade nicht, dass der Heilige Geist der Ersatz für Jesus oder sein Nachfolger wäre, dass nun der Heilige Geist die Verbindung zwischen Gott und den Menschen übernimmt und Jesus in dieser Funktion ausgedient hat.
Sondern der Heilige Geist, den Jesus seinen Jüngern hier verspricht und ankündigt, hat nur eine Aufgabe: Menschen immer wieder auf Christus hinzuweisen und sie zu ihm zu führen. Jesus kündigt den Jüngern an, dass sie den Heiligen Geist empfangen werden und damit seine Zeugen sein werden, nicht Zeugen Jehovas, aber eben auch nicht Zeugen des Heiligen Geistes. Sondern alles, was wir als Christen zu verkündigen und zu bezeugen haben, ist die Botschaft von Jesus Christus, ist die Botschaft von ihm, dem auferstandenen, lebendigen Herrn, der alle Tage bei uns bleibt bis an der Welt Ende. Zeugen sind wir nicht von einem abwesenden Jesus, sondern von einem gegenwärtigen Jesus, dem wir immer wieder persönlich begegnen in der Gestalt von Brot und Wein hier am Altar, dessen Kraft und Trost wir immer wieder hier erfahren dürfen, wenn wir sein Wort hören, wenn er, Christus, dadurch mit seinem heiligen Geist den Glauben in uns weckt und stärkt. Er ist der Gastgeber auch in diesem Gottesdienst, er lädt uns ein, heute seine Himmelfahrt zu feiern, fröhlich darüber zu staunen, dass er, der Herr der Welt, eben nicht mehr an Raum und Zeit gebunden ist. Nein, heute haben wir keinen Grund, traurig zu sein – im Gegenteil!
III.
Doch dann schärfen die beiden Boten Gottes den Jüngern hier noch ein Drittes ein: Ihr findet Jesus nicht nur über euch und bei euch, sondern vor allem auch vor euch. Derselbe Christus, der jetzt euren Blicken entzogen wird, wird eines Tages wieder diesen Schleier vor unseren Augen wegziehen – und wir werden ihn alle miteinander schauen in seiner ganzen Herrlichkeit, werden von einer Sekunde auf die andere nicht nur ihn sehen, sondern all das verstehen, was uns jetzt noch in der Geschichte unseres Lebens, ja in der Geschichte dieser Welt völlig unverständlich bleibt.
Jesus Christus vor uns – mit dieser wunderbaren Hoffnung dürfen wir unser Leben führen und gestalten, dass wir eben dies wissen: Wir gehen den ausgebreiteten Armen unseres Heilands entgegen, der einmal all das heil machen wird, was jetzt in unserem Leben noch so zerbrochen, so bruchstückhaft erscheint. Jesus Christus vor uns – das ist die Hoffnung, mit der wir als Kirche leben, die all das bestimmen soll und darf, was wir in der Kirche tun. Die Kirche ist eben niemals Selbstzweck, sondern sie hat den Auftrag, Menschen diesem wiederkommenden Christus entgegenzuführen, ja, Menschen auf die Wiederkunft des Herrn vorzubereiten. Keinen Gottesdienst wollen wir feiern, in dem wir unseren Blick nicht auf dieses Ziel ausrichten lassen, in dem wir nichts von dieser Vorfreude erkennbar werden lassen, dass unser Herr kommt, dass wir einmal mit eigenen Augen schauen werden, was doch jetzt schon verborgene Wirklichkeit ist. Auch wenn wir jetzt in unserer Gemeinde mit weiteren Baumaßnahmen beginnen, sollen wir es doch niemals vergessen: Das sind und bleiben alles nur Provisorien, die hoffentlich schon bald ganz überflüssig werden, abgelöst werden durch das Leben in Gottes neuer Welt. Doch solange wir noch auf den Christus vor uns warten, wollen wir tun, was uns möglich ist, um Menschen diesen Christus vor uns zu bezeugen, ihnen diese Hoffnung zu vermitteln, die wir uns selber niemals machen könnten. Nein, wir müssen uns nicht auf die Suche nach Jesus begeben – er kommt schon von allein auf uns zu! Wie gut, dass uns das Fest der Himmelfahrt Christi gerade auch daran heute wieder neu erinnert! Amen.