Apostelgeschichte 16,23-34 | Kantate | Pfr. Dr. Martens
In der vergangenen Nacht fand in Tel Aviv der diesjährige European Song Contest statt. Er versammelte wieder einmal hunderte Millionen von Zuschauern in vielen Ländern vor den Bildschirmen, die sich dort sehr unterschiedliche musikalische Darbietungen anschauen und anhören konnten. Ob diese Darbietungen tatsächlich so mitreißend waren, musste jeder Zuschauer für sich selber entscheiden. Aber faszinierend ist es allemal, dass der Gesang von Liedern, Liebesliedern zumeist, so viele Menschen zu bewegen und auch zu vereinen vermag.
Heute, und nicht nur heute, singen wir in unseren Gottesdiensten auch eine ganze Reihe von Liedern – nicht ganz so viele wie in Tel Aviv, auch wenn heute wieder während der Abendmahlsfeier eine ganze Reihe von Liedern zusammenkommen wird, die wir miteinander singen. Menschen aus ganz verschiedenen Ländern singen und feiern zusammen – ja, das kann man heute Morgen auch hier in Steglitz erleben. Doch was unterscheidet nun unseren Gottesdienst von dem ESC, was unterscheidet die Lieder, die wir hier singen, von den Liedern, die dort in Tel Aviv zu hören waren? Genau darum geht es in der Predigtlesung dieses heutigen Singesonntags Kantate aus der Apostelgeschichte des heiligen Lukas, die wir uns nun noch einmal etwas genauer anschauen wollen. Unser Singen als Christen, unser Singen in der Kirche
- läuft unseren Gefühlen zuwider
- stellt Christus allein ins Zentrum
- ist gegründet in unserer Taufe
I.
Sänger der ganz besonderen Art schildert uns St. Lukas hier in unserer Predigtlesung: Sie tragen keine Glitzerkostüme, sie halten nicht ihre strahlend weißen Zähne in die Fernsehkamera, sondern sie sitzen eingesperrt in einer Gefängniszelle, ihre Körper sind von blutigen Striemen gezeichnet, und der Block, in den man sie gezwängt hat, lässt sie noch nicht einmal aufrecht sitzen, verursacht bei jeder Bewegung Schmerzen. Keine guten Voraussetzungen für die Teilnahme am ESC, keine guten Voraussetzungen, um überhaupt singen zu können. Doch genau das machen die beiden Sänger, Paulus und Silas, dort in der Gefängniszelle in Philippi: Sie singen, singen mitten in der Nacht, singen trotz ihrer Schmerzen und in ihren Schmerzen, in ihrer scheinbar völlig aussichtslosen Situation, singen und beten, weil es für sie einfach ganz selbstverständlich ist, Gott zu loben, ganz gleich, in was für Umständen sie sich auch befinden mögen.
Singen – entgegen aller Gefühle und Erfahrungen. Das haben damals Paulus und Silas gemacht – und genau das machen auch wir hier in unseren Gottesdiensten. Wenn wir hier in unseren Gottesdiensten nur unseren eigenen Gefühlen freien Lauf geben würden, dann würde sich das, was wir hier von uns geben, sicher nicht sehr schön und harmonisch anhören. Ja, wie können wir überhaupt noch singen angesichts des schreienden Unrechts, das deutsche Behörden und Institutionen so vielen Gliedern unserer Gemeinde zufügen? Wie können wir überhaupt noch singen angesichts der Angst, die so viele Glieder unserer Gemeinde Tag für Tag, Nacht für Nacht verspüren, angesichts der Angst, jederzeit in den Tod deportiert werden zu können? Wie können wir überhaupt noch singen angesichts des Leids, das so viele Glieder unserer Gemeinde in ihren Familien erfahren, angesichts der Schikanen, denen Familienangehörige im Iran und Afghanistan wegen der Konversion ihrer Angehörigen hier in Deutschland ausgesetzt sind? Doch wir kommen hier zusammen und singen, nicht anders als Paulus und Silas damals im Gefängnis auch. Wir besingen nicht uns selber, nicht unsere Gefühle und Stimmungen, sondern wir singen eben davon, dass unser Glaube einen Halt hat, der nicht von unseren Gefühlen und Stimmungen abhängig ist, loben Gott, obwohl und gerade weil es in unserem Leben ansonsten so gar keinen Anlass zum Loben und zum Singen gibt. Ja, wir Christen singen in der Tat zu jeder Gelegenheit, selbst noch bei Beerdigungen. Ja, das ist mittlerweile zu einem besonderen Kennzeichen christlicher Beerdigungen geworden, dass da noch gesungen wird, während bei nichtchristlichen Beerdigungen nur noch der CD-Player zum Einsatz kommt und die Trauergemeinde schweigt. Doch als Christen singen wir selbst noch an den Gräbern unserer Verstorbenen das Halleluja, nicht weil wir uns so glücklich fühlen, sondern weil wir einen Herrn haben, der uns gerade da noch hält, wo unsere Gefühle nur noch Absturz signalisieren. Ja, wie gut, dass wir auch heute in diesem Gottesdienst singen können und dürfen!
II.
Erstaunliches schildert uns St. Lukas sodann: Auf das Singen der beiden Gefangenen folgt ein Erdbeben, das die Grundmauern des Gefängnisses so sehr erschüttert, dass die Türen aufspringen, und jegliche Sicherheitsverwahrung der Gefangenen beendet. Für den Kerkermeister, den Gefängnisaufseher, ist das natürlich der Horror schlechthin: Er ist für die sichere Verwahrung der Gefangenen zuständig – und nun stehen alle Gefängnistüren offen. Damit ist er erledigt – es bleibt ihm nur noch die Selbsttötung als letzte Ausflucht. Doch im letzten Augenblick kann Paulus seinem Vorhaben wehren, er ruft dem Gefängniswärter zu, dass die Gefangenen alle noch in ihren Zellen sind, die Gelegenheit zur Flucht nicht genutzt haben. Der Gefängniswärter beginnt etwas davon zu ahnen, dass hinter dem Erdbeben nicht weniger als eine göttliche Kraft stehen muss, er beginnt zu ahnen, dass er an Unrecht mitgewirkt hat, als er Paulus und Silas so brutal gefangen halten ließ. Und so fällt er vor Paulus und Silas nieder und stellt eine typisch menschliche, religiöse Frage: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Und dann antworten Paulus und Silas – nein, gerade nicht so, dass sie die Frage des Kerkermeisters beantworten, sondern so, dass sie die Frage des Kerkermeisters nachgerade in ihr Gegenteil verkehren: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“ Gerettet wirst du nicht durch etwas, was du tust. Gerettet wirst du einzig und allein durch das, was er, der Herr Jesus, auch für dich und für alle, die zu deinem Haus gehören, getan hat!
Und genau diesen Wechsel der Fragestellung sollen auch die Lieder, die wir als Christen singen, widerspiegeln. Es gibt leider auch viele christliche Lieder, die zwar sehr fromm klingen und oftmals eine sehr einprägsame Melodie haben, in denen es aber letztlich immer wieder um das eigene fromme Ich geht, um das, was ich tue, was ich fühle, was ich will. Christus wird darin dann oft genug zum frommen Ornament beim Kreisen um meine eigenen religiösen Gefühle. Doch was wir als Christen in Wirklichkeit besingen, ist nicht unser eigenes Ich, sondern allein dies, dass unser Herr Jesus Christus uns selig macht, dass er uns rettet, dass er auch und gerade da zu helfen und zu retten vermag, wo wir mit unseren Gefühlen längst an unser Ende gelangt sind, ja, wo wir mit unseren menschlichen Möglichkeiten längst an unser Ende gelangt sind. Ja, darauf wollen wir auch bei der Auswahl unserer farsisprachigen Lieder im Gottesdienst immer wieder achten, dass Christus und sein Tun darin im Zentrum steht und nicht unser frommes Gefühl. Darauf wollen wir achten, dass die Lieder zum Ausdruck bringen, wie Christus uns gerade da und gerade so rettet, dass er uns und unseren Gefühlen und Erfahrungen ganz und gar widerspricht. Nein, ich werde eben nicht dadurch gerettet, dass ich mich für Jesus entscheide, dass ich mein Leben Jesus übergebe, dass ich die Nähe von Jesus fühle. Sondern ich werde allein dadurch gerettet, dass Christus für mich am Kreuz gestorben ist und er sich eben darin für mich entschieden hat, dass er sein Leben für uns hingegeben hat. Wie gut, dass meine Rettung nicht an dem hängt, was ich tue und fühle! Nur darum können wir auch heute in diesem Gottesdienst miteinander getröstet singen!
III.
Und dann geschieht mitten in der Nacht im Hause des Gefängniswärters Erstaunliches: Paulus und Silas predigen dem Gefängniswärter und allen, die zu seinem Haus gehören, das Wort von Christus. Und daraufhin lässt der Gefängniswärter nicht nur sich, sondern gleich auch seine ganze Familie taufen und veranstaltet mitten in der Nacht ein Fest für Paulus und Silas, feiert mit ihnen und mit seinem ganzen Haus fröhlich eben diese Lebenswende, die sie in der Taufe erfahren hatten.
Ich kann es mir gut vorstellen, das spöttische Lächeln, das Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge angesichts solch einer Geschichte auf ihrem Gesicht tragen würden: Gerade mal ein paar Stunden etwas von Jesus gehört und gleich getauft – das ist doch völlig klar, dass dieser Gefängniswärter es mit seinem Glauben nicht ernst meinen kann, dass er sich vermutlich nur aus irgendwelchen niederen Motiven hat taufen lassen! Ja, unseren heutigen staatlichen Glaubenswächtern bleibt völlig fremd und verborgen, was sich in jener Nacht in Philippi in Wirklichkeit ereignet hat: Dass da Menschen durch das Wirken Gottes in der Heiligen Taufe zum ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Christus wiedergeboren wurden, dass Gott selber da in ihrem Leben eine Lebenswende vollzogen hat, die diese Menschen danach dann auch fröhlich feiern und singen lässt.
Ja, die Taufe, sie ist und bleibt auch für uns heute der entscheidende Grund, warum wir hier im Gottesdienst zusammenkommen und singen. Wir singen hier miteinander als gerettete Leute, als Menschen, denen Christus selbst ein neues, ewiges Leben geschenkt hat, das ihnen niemand in der Welt mehr nehmen kann, kein Taliban und auch kein Verwaltungsrichter. Und genau das soll sich eben auch in unseren Liedern, in unseren Gesängen widerspiegeln: Beziehen sie sich immer wieder auf das grundlegende Geschehen unserer Taufe, auf diese entscheidende Lebenswende, die wir in unserem Leben erfahren haben – oder treten Dinge, die wir tun oder tun sollen, in Konkurrenz zu dem, was doch in unserer Taufe schon grundlegend geschehen ist?
Üben wir es darum immer wieder in unseren Gottesdiensten ein, unsere Taufe fröhlich zu besingen, aus ihr Kraft zu schöpfen, um immer noch weiter singen zu können, auch wenn all das, was wir in unserem Leben erfahren, dieser Freude ganz und gar zu widersprechen scheint! Feiern wir das Geschenk unserer Taufe auch heute wieder, wenn wir uns jetzt gleich gemeinsam am Tisch des Herrn versammeln, als Kinder Gottes nun auch an Gottes Tisch treten und den Leib und das Blut unseres Herrn und Retters empfangen! Ja, gerade bei der Feier des Sakraments merken wir es besonders deutlich: Wo Christus gegenwärtig ist, wo er handelt und rettet, da können wir nicht schweigen, da können wir gar nicht anders als zu singen. Mag alles für menschliche Ohren nicht so schön klingen wie das Siegerlied von Tel Aviv. Doch in Wirklichkeit haben wir in unseren Gesängen himmlische Verstärkung, singen da alle Engel und Heiligen mit, preisen ihn, unseren Herrn und Retter, gemeinsam mit unserem musikalisch vielleicht doch eher kümmerlichen Gesang. Wir wollen mit unserem Gesang ja auch nicht zeigen, wie gut wir sind. Denn die zwölf Punkte für unseren Gesang – die gebühren allemal Christus allein. Amen.