Apostelgeschichte 16,9-15 | Sexagesimae | Pfr. Dr. Martens

Wenn ich mal wieder in einer Gerichtsverhandlung des Verwaltungsgerichts in Berlin sitze, dann kann ich schon fast darauf wetten, dass mir früher oder später der Vertreter oder die Vertreterin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wieder dieselbe Frage stellt: „Wie viele Gemeindeglieder haben Sie denn?“ In Wirklichkeit weiß der oder die Betreffende die Antwort natürlich schon längst – die scheinheilige Frage dient nur dazu, mich angeblich dem Richter vorzuführen und zu zeigen, dass die Glieder unserer Gemeinde es mit ihrem Glauben ja gar nicht ernst meinen können. Wenn so viele Menschen in der Gemeinde Christen werden, dann kann das ja nur alles Fake sein, dann braucht man sich damit gar nicht weiter ernsthaft zu beschäftigen. Dann ist doch klar, dass das nur eine durchschaubare Aktion eines Pastors ist, was da in Steglitz geschieht.

Es gibt dieses Denken auch in frommer Version, dass Menschen zu uns kommen und fragen, wie wir das denn wohl angestellt haben, dass wir hier in unserer Gemeinde missionarisch so erfolgreich sind. Auch hier geht man wieder davon aus, dass die Arbeit unserer Gemeinde und die sichtbaren Ergebnisse dieser Arbeit auf menschlichen Initiativen beruhen, auf menschlichem Einsatz und menschlichen Fähigkeiten. Zutiefst heilsam ist es von daher, dass uns in der Predigtlesung des heutigen Sonntags die Augen dafür geöffnet werden, dass der Bau der Kirche Gottes in Wirklichkeit ganz anders verläuft, dass er gerade nicht das Ergebnis menschlicher Planungen und Bemühungen ist, erst recht nicht das Ergebnis menschlicher Trickserei, sondern ganz und gar Werk Gottes ist und bleibt.

Wenn Gott seine Kirche baut, dann

  • stößt er Pläne um
  • öffnet er Herzen
  • befähigt er Menschen


I.

Eigentlich hatte der Paulus Griechenland zunächst einmal gar nicht so im Blick gehabt bei seiner Missionsreise durch die heutige Türkei. Er wollte eigentlich ganz woanders hin – aber der Heilige Geist ließ es nicht zu, so heißt es in den Versen, die unserer Predigtlesung vorangehen. Die guten missionarischen Pläne, die Paulus hatte, sie waren in Gottes Augen gar nicht so gut. Und so bringt Gott den Paulus dort im Westen der Türkei auf einen ganz anderen Weg, den Paulus selber nicht geplant hat: Paulus sieht einen Mann aus Griechenland, der ihm zuruft: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Und Paulus merkt gleich: Das ist Gottes Ruf, dem habe ich zu folgen, und zwar sofort. Und so steigt er an der türkischen Westküste in ein Boot und fährt über das Meer rüber nach Griechenland. Wie gut, dass es damals noch kein Frontex und kein EU-Türkei-Abkommen gab – sonst hätte man den Paulus da in Griechenland gar nicht aus seinem Boot aussteigen lassen und ihn gleich wieder in die Türkei zurückgeschickt. Doch so gelangt der Paulus schließlich bis nach Philippi und beginnt dort in Europa nun mit seiner weiteren Missionsarbeit.

Wie aktuell ist diese Beschreibung auch heute noch, wie gut können auch wir uns darin wiederfinden! Da hatte ich mir in meiner vorherigen Gemeinde auch alle möglichen Gedanken gemacht, hatte Pläne geschmiedet und mir vorgestellt, was ich dort wohl die nächsten Jahre alles machen werde. Alles Mögliche hatte ich damals im Sinn, aber ganz sicher nicht, mit Asylbewerbern aus dem Iran und Afghanistan zu arbeiten und sie auf Farsi bei ihrer Taufe zu fragen, ob sie sich vom Islam lossagen. Doch Gott hatte ganz andere Pläne als ich. Nein, der setzte nicht mich in ein Boot und ließ mich über das Mittelmeer fahren. Sondern er setzte so viele andere Menschen in Boote im Westen der Türkei und ließ sie über das Meer nach Griechenland fahren, wie den Paulus damals auch, um gerade hier in Steglitz eine Arbeit zu beginnen, die keiner von uns zuvor eigentlich im Blick gehabt hatte. Gott wirft unsere Planungen über den Haufen, nutzt Gelegenheiten, die sich bieten, um so auch heute noch ganz neue Missionsfelder zu eröffnen, Menschen zu erreichen, die gar nicht in unseren Planungen standen. Ach, liebe BAMF-Vertreter: Wenn ihr doch nur ahnen würdet, wie wenig das, was wir jetzt hier in unserer Gemeinde erleben, von uns geplant war, wie wenig Strategie dahintersteckt! Aber dass Gott hinter all dem stecken könnte, was hier geschieht, das schließt ihr ja leider gleich von vornherein in euren Betrachtungen aus!


II.

Und dann geht der Paulus so vor, wie er immer auf seinen Missionsreisen vorgeht: Er geht in einer Stadt immer zuerst zu den Juden, an ihren Versammlungsort, predigt ihnen zuerst von Christus, bevor er sich den Nichtjuden zuwendet. Die jüdische Gebetsversammlung in Philippi war allerdings, menschlich gesprochen, ein sehr armseliger Haufen: Sie hatten keine Synagoge, kein Versammlungsgebäude – und zehn Männer, die man für die Durchführung eines Synagogengottesdienstes benötigte, kamen da offenbar auch nicht zusammen, sondern „nur“ einige Frauen. Die trafen sich an einem kleinen Fluss und sprachen dort ihre Gebete. Nicht alle von ihnen waren gebürtige Juden, und nicht alle von ihnen waren auch schon richtig zum Judentum übergetreten. Es gab auch sogenannte „Gottesfürchtige“ unter ihnen, also Menschen nichtjüdischer Herkunft, die aber von dem jüdischen Glauben an den einen Gott fasziniert waren und darum an den jüdischen Gebetsversammlungen als Gäste teilnahmen. Eine dieser „Gottesfürchtigen“ wird hier auch mit Namen genannt: Lydia, eine reiche Unternehmerin, die ursprünglich selber aus dem Gebiet der heutigen Westtürkei stammte.

Nichts berichtet St. Lukas hier davon, was für eine Strategie Paulus wohl eingesetzt hat, um Lydia und die anderen Frauen zum Glauben an Christus zu bringen. Erst recht ist nicht davon die Rede, dass sich Lydia etwa bekehrt habe oder eine Entscheidung für Jesus getroffen habe. Sondern er berichtet hier nur das, was wesentlich ist: Paulus redet mit den Frauen, redet mit Lydia, und dann öffnet Gott ihr Herz, dass sie darauf achthatte, was Paulus da erzählte. Allein das ist wichtig, dass Gott das Herz öffnet – nicht, was Lydia tut oder entscheidet. Und auf die Öffnung des Herzens folgt, ohne dass es da nun noch einer längeren Erklärung bedurft hätte, die Taufe der Lydia – und zwar nicht nur der Lydia allein, sondern auch all derer, die zu ihrem Haushalt gehörten. Kein Wort davon, dass die vorher irgendeine Entscheidung getroffen hätten, dass die irgendein Bekehrungserlebnis hätten vorweisen können. Gott öffnet Lydia das Herz – und alles andere folgt daraus gleichsam von selbst.

Wie gut, dass die Lydia damals nicht vor einem Verwaltungsgericht antreten musste, um nachzuweisen, dass sie wirklich eine Christin ist! Sie hätte mit dieser Vorgeschichte mit Sicherheit nicht die geringste Chance gehabt, als Christin anerkannt zu werden: Spontane Taufe nach der Predigt des Paulus – da ist es ja schon einmal klar, dass sie es nicht ernst meinen kann. Und dann auch gleich noch die Taufe des ganzen Hauses! Das ist doch klar, dass das alles nur Taktik sein kann! Das entspricht doch überhaupt nicht den Vorgaben des deutschen Staates, wie ein Mensch anständigerweise Christ zu werden hat!

Doch genau so hat Gott damals gearbeitet, und so arbeitet er auch heute noch – allen Einwänden von deutschen Behörden und Richtern zum Trotz. Gott öffnet Menschen die Herzen, dass sie gar nicht mehr anders können, als sich taufen zu lassen, dass sie gar nicht mehr anders können, als fortan als Christ zu leben. Ja, Gott öffnet auch heute noch Herzen von Menschen, so erleben wir es auch in unserer Mitte immer wieder. Nicht meine Entscheidung macht mich zu einem Christen, sondern das, was Gott an mir tut, der mich durch sein Wort in einer Weise verändert, dass ich darüber einfach immer wieder nur im Rückblick staunen kann. Ja, wie wunderbar ist es, dass wir diese Kraft des Wortes Gottes auch in unserer Mitte immer und immer wieder erleben dürfen – auch wenn die, die sich zu Glaubensrichtern in unserem Land aufspielen, davon so gar nichts wissen wollen.


III.

Doch damit ist die Geschichte nun glücklicherweise noch nicht zu Ende: Denn nach ihrer Taufe tritt die Lydia dem Paulus und dem Timotheus erstaunlich selbstbewusst gegenüber: Sie lässt die beiden nicht einfach gehen, sondern will nun auch selber aktiv werden, will, dass die beiden anerkennen, dass sie, die Lydia, als getaufte Christin nun auch begabt ist, selber etwas zu tun. Keine Unterwürfigkeit gegenüber dem Apostel und seinem Mitarbeiter, sondern klare Einsicht, dass sie als getaufte Christin auch mit Paulus und Timotheus auf Augenhöhe reden kann. Und es ist dann ja nicht nur dabei geblieben, dass die Lydia darauf bestanden hat, dass der Paulus hier seine Reisepläne ändert. Später hören wir davon, dass die Gemeinde in Philippi, die hier so klein beginnt, die Lieblingsgemeinde des Apostels geworden ist, die einzige, von der er auch nach seiner Weiterreise immer noch Geschenke und Unterstützungen annahm.

Ja, genau das erleben wir zu meiner großen Freude genauso hier in unserer Gemeinde: Diejenigen, die getauft sind, ziehen sich nach ihrer Taufe nicht einfach zurück, sondern nehmen auf vielfältige Weise Aufgaben in unserer Gemeinde wahr, machen mit als Menschen, die von Gott selber zur Mitarbeit in der Gemeinde berufen und befähigt sind. Ich erlebe dies gerade in unserem Kirchenvorstand mit großer Freude, wie unsere neuen Kirchenvorstandsmitglieder genau mit diesem Selbstbewusstsein Dinge in unserer Gemeinde selber in die Hand nehmen, selber Verantwortung übernehmen. Und ich staune darüber, wie oft dies auch ansonsten in unserer Gemeinde geschieht, dass Menschen wie die Lydia damals deutlich machen: Jetzt, wo ich Christ bin, will ich mich auch einbringen in die Gemeinde, will mich nicht einfach nur bedienen lassen. Ja, Schwestern und Brüder, ich freue mich über dieses Selbstbewusstsein der Glieder unserer Gemeinde, ich freue mich darüber, wenn Menschen von sich aus Verantwortung übernehmen und dem Pastor dabei immer wieder auch einmal mehr oder weniger deutlich signalisieren: Jetzt mal Stopp! Das mache ich! Nie und nimmer ist es der Pastor, der eine Gemeinde baut. Es ist immer wieder Christus selber, der Menschen in seine Gemeinde ruft, die dort gebraucht werden. Und es ist immer wieder Christus selber, der ganz unterschiedliche Menschen in einer Gemeinde in seinen Dienst nehmen kann, um eine Gemeinde wachsen zu lassen, um immer noch mehr Menschen mit dem Evangelium zu erreichen.

Was ist aus der Überfahrt des Paulus aus der Türkei nach Griechenland im Laufe der Geschichte geworden! Dagegen ist das Wachstum unserer Gemeinde wahrlich nur Peanuts! Ja, Gott fängt immer wieder ganz klein an – aber da, wo der Same seines Wortes erst einmal ausgesät ist, da kann daraus Erstaunliches erwachsen. Staunen wir darum auch hier in unserer Gemeinde nicht über uns selber, staunen wir erst recht nicht über irgendwelche Zahlen! Sondern staunen wir immer wieder über Gott selber, der uns hier in Steglitz in diesen vergangenen Jahren so handgreiflich geführt hat, dumme menschliche Pläne durchkreuzt hat, Herzen geöffnet und Menschen zur Mitarbeit befähigt hat und all dies auch weiter tut! Und dieser Herr, der auch damals gegen alle Widerstände seine Kirche immer weiter gebaut hat, wird dies auch heute weiter tun, wird sich auch von allen Widerständen in unserem Land nicht daran hindern lassen, immer wieder Menschen in seine Kirche zu sammeln. Wenn Gott einen Plan hat, dann zieht er ihn auch durch. Und Boote von der Türkei nach Griechenland gebraucht er dabei offenbar besonders gerne. Amen.

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