Apostelgeschichte 3,1-10 | 12. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Wie viele Leute haben heute Morgen gemeinsam mit euch auf dem Weg zur Kirche im Bus oder in der S-Bahn gesessen – wenn man einmal diejenigen abzieht, die noch besoffen von der letzten Nacht irgendwo in ihren Sitzen herumhängen? Ja, schon die Fahrt zur Kirche am Sonntagmorgen macht eindrücklich deutlich, wie es um das Verhältnis der meisten Bewohner unseres Landes zur Kirche und zum christlichen Glauben bestellt ist: Die meisten haben schlicht und einfach keinerlei Zugang mehr zum christlichen Glauben und zur Kirche. Für sie ist die Vorstellung, sich am Sonntagmorgen oder auch zu einer anderen Uhrzeit zum Gottesdienst in die Kirche zu begeben, so exotisch und so weit hergeholt, dass sie ernsthaft daran keinerlei Gedanken verschwenden. Und das gilt für diejenigen, die es sich leisten können, ein Auto zu fahren, zumeist sogar noch mehr als für die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel.

Um einen Menschen, der keinerlei Zugang zum Gottesdienst, zum Haus Gottes hat, geht es auch in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Gelähmt ist er von Geburt an – und gelähmten Menschen war es nicht erlaubt, das Heiligtum des Tempels zu betreten. So sitzt er also jeden Tag draußen vor dem Tempeleingang, an dem Schönen Tor, wie es genannt wird – und sein Lebenshorizont wird von St. Lukas hier klar beschrieben: Er blickt nicht nach oben, sondern er blickt nur nach vorne und nach unten. Seine Lebenshorizont beschränkt sich letztlich auf ein wichtiges Thema: auf das Thema Geld, auf die Almosen, die die Tempelbesucher ihm geben. Geld will er verdienen, Geld erwartet er in seinem Leben, mehr eigentlich nicht. Und genau danach sortiert der Gelähmte auch die Leute: Bekomme ich Geld von ihnen, und wenn ja, wie viel, oder bekomme ich nichts? Dass sein Leben noch einmal eine ganz andere Wendung nehmen könnte, dass er ein Leben führen könnte, dessen Horizont über die Oberschenkel der Tempelbesucher, die an ihm vorbeigehen, hinausreicht, kann er sich offenkundig überhaupt nicht vorstellen.

Doch dann stehen mit einem Mal Petrus und Johannes vor ihm. Und das erste, was die beiden machen, ist dies, dass sie den Gelähmten auffordern, nach oben zu blicken, sie anzublicken. Der Gelähmte soll eine neue Perspektive für sein Leben bekommen, soll wegblicken von den Münzen, die da vor ihm liegen, in eine ganz andere Richtung, soll blicken auf den Mund von Leuten, von denen er in diesem Augenblick noch gar nicht ahnt, dass es sich dabei um Boten des lebendigen Gottes, um Boten des auferstandenen Christus handeln könnte. Und aus ihrem Mund hört er zunächst eine enttäuschende Botschaft: „Silber und Gold habe ich nicht“ – Nein, Petrus und Johannes erfüllen nicht die Wünsche des Gelähmten, sie geben ihm nicht, was er gerne haben möchte. Stattdessen sagen sie ihm etwas, womit er selber überhaupt nicht gerechnet hatte, was völlig außerhalb seiner eigenen Vorstellungen lag: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“ Und dieses Wort verbindet der Petrus mit einem körperlichen Zeichen: Er packt ihn bei der rechten Hand und richtet ihn auf. Und Wort und Zeichen bewirken, womit der Gelähmte selber nicht im Traum gerechnet hatte: Er bekommt eine ganz andere Grundlage für sein Leben, eine feste Basis, auf der er gehen, ja laufen und springen kann. Und sein Weg führt ihn als erstes gemeinsam mit Petrus und Johannes in den Tempel, und auch dort läuft und springt er umher, kann das neue Leben noch gar nicht fassen, das ihm da gerade zuvor geschenkt worden war. Ja, jetzt ist er drin im Haus Gottes, nun hat er den Zugang, den er bisher nicht besaß: Das neue Leben, das ihm geschenkt ist, findet seinen Ausdruck im Lob Gottes in der Gegenwart Gottes. Ja, was für eine bewegende Geschichte!

Schwestern und Brüder: So viele Menschen in unserem Land gleichen dem gelähmten Menschen in dieser Geschichte. Sie selber würden diesen Vergleich natürlich weit von sich weisen: In ihrem Leben läuft doch alles gut, sie sind gesund, erfolgreich, haben Spaß. Was will man denn noch mehr vom Leben? Doch Gottes Wort macht uns hier deutlich: Sie gleichen eben doch diesem gelähmten Menschen in der Geschichte: Ihr Lebenshorizont ist begrenzt auf das, was sie in ihrem Leben bekommen können, ist oft genug begrenzt auf Geld und Besitz. Sie fühlen sich frei und sind doch fixiert auf einen sehr begrenzten Lebensbereich, kommen gar nicht auf die Idee, dass da noch mehr sein könnte als das, worauf sie blicken: Selbst ein Porsche und ein schönes Häuschen im Grünen unterscheiden sich da sachlich gar nicht so sehr von den Münzen, auf die damals am Eingang vor dem Tempel der Gelähmte schaute. Denn auch sie versäumen, wie der Gelähmte damals auch, einfach mal nach oben zu blicken, auf eine Welt jenseits von Geld, Besitz, von der Erfüllung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Sie ahnen gar nicht, was sie in ihrem Leben eigentlich verpassen, sehen ihren begrenzten Blick als das ganze Leben an.

Petrus und Johannes haben diesen Gelähmten damals wahrgenommen, haben damals nicht weggeblickt, sondern haben sich auf ihn eingelassen, haben gesehen, dass dieser Mensch mehr braucht als einfach nur etwas Geld, als einfach ein paar Almosen. Wie nehmen wir die Menschen in unserer Umgebung wahr, die keinerlei Zugang zur Kirche, zum Glauben haben, die draußen vorbleiben und gar nicht auf die Idee kommen, dass sie in ihrem Leben mehr brauchen könnten als das, was sie sich selber wünschen und ersehnen? Nehmen wir sie als Gelähmte wahr, die eben selber, mit Luthers Katechismus zu sprechen, nicht aus eigener Vernunft noch Kraft zu Jesus Christus kommen können? Nehmen wir sie wahr als Menschen, die so dringend auf das Wort angewiesen sind, das sie sich selber nicht sagen können? Ja, sind wir dazu bereit, wie Petrus und Johannes damals auch, bei ihnen stehenzubleiben, mit ihnen ins Gespräch zu kommen?

Einen Fehler sollten wir dabei allerdings nicht machen: Wir sollten denen, mit denen wir über den christlichen Glauben sprechen, nicht suggerieren, sie würden im christlichen Glauben das bekommen, was sie sich wünschen und wonach sie sich immer schon gesehnt haben. Genau das ist ja eine Gefahr, in der heutzutage die Kirchen immer wieder stehen, dass sie glauben, sie würden die Menschen dadurch anlocken, dass sie ihnen das versprechen, was sie wünschen. Doch der christliche Glaube ist gerade nicht die Erfüllung unserer menschlichen Sehnsüchte, sondern beginnt mit einer heilsamen Ent-Täuschung im wahrsten Sinne des Wortes: „Silber und Gold habe ich nicht.“ Du bekommst im christlichen Glauben nicht einfach ein bisschen Motivation für den Alltag, ein bisschen Seelenfrieden, ein paar Gedankensplitter für die eigene Sinnsuche. Und du bekommst im christlichen Glauben erst recht nicht das Versprechen, dass dein Leben mit Christus leichter wird, dass Christus dir alle deine Probleme löst. Du bekommst dafür etwas ganz anderes: Den freien Zugang zu Gott, eine völlig neue Grundlage für dein Leben, ja, ein ganz neues Leben, das ganz anders ist, als du es vorher geahnt hast.

Davon dürfen auch wir heute sprechen, in dem Wissen, dass die Botschaft Jesu, dass sein Name auch heute noch Kraft hat, das Leben von Menschen verändern kann. Nein, das funktioniert ganz sicher nicht so, dass wir einfach nur ein paar Worte sagen müssen, und schon wird unser Gesprächspartner mit einem Male Christ und springt nur noch fröhlich herum, weil er nun Jesus gefunden hat. Doch wir haben es eben auch hier in unserer Gemeinde immer und immer wieder erfahren, was für eine Kraft das Wort Christi hat, wie es Menschen in einer Weise verändern kann, wie sie dies selber zuvor nie gedacht hätten. Ja, wir erfahren es immer wieder, wie Christus dann auch körperliche Zeichen in seinen Dienst nimmt, um Menschen ein neues Leben zu schenken, so, wie wir es gestern Abend hier im Gottesdienst bei der Taufe unseres Bruders Peter erlebt haben: Das Wasser und der kräftige Name des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, sie reichten aus, um unserem Bruder den Zugang zum Himmel zu eröffnen, den Zugang zum Haus Gottes, den Zugang zu seinem Altar, an dem er dann auch den Leib und das Blut seines Herrn empfing. Christus verändert das Leben von Menschen – nicht nur von Pakistanis, Iranern und Afghanen, sondern auch immer wieder von Deutschen. Ja, natürlich ist das jedes Mal nicht weniger als ein Wunder, nicht geringer als das Wunder, das uns St. Lukas hier in der Apostelgeschichte schildert – ja, allemal ein Wunder, bei dem wir gut daran tun, zu staunen über die Macht des Wortes Gottes, über die Macht des Namens unseres Herrn Jesus Christus.

Ja, gut tun wir daran, darüber zu staunen, dass auch wir, ja ausgerechnet wir hier mit dabei sein dürfen in Gottes Haus, dass der Name unseres Herrn auch in unserem Leben so viel bewirkt hat. Gut tun wir daran, immer wieder neu dafür Gott zu loben, miteinander zu feiern – und gerade so dann auch vielleicht andere neugierig zu machen, dass auch sie den Zugang zum Haus Gottes finden. Hier in der Kirche muss ja keiner draußen bleiben. Jeder darf rein. Ach, dass Christus, unser Herr, auch unsere eigene Lahmheit immer wieder heilen möge, dass wir gerne und fröhlich uns sonntags morgens auf den Weg zum Gottesdienst begeben. Platz genug in der S-Bahn haben wir trotz aller Wunder, die bei uns geschehen, wohl auch noch weiterhin. Amen.

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