Apostelgeschichte 4,32-37 | 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
„Wie konnte ich bloß so blöd sein?“ Er schlug sich mit der Hand vor den Kopf. Jetzt im Rückblick konnte er es überhaupt nicht mehr verstehen, wie er damals in diese Sekte geraten war. Ja, er war in seinem Leben in eine Krise geraten, und dann waren da diese freundlichen Leute aus der Sekte gewesen, die sich um ihn gekümmert hatten, ihm Halt gegeben hatten in diesen schweren Zeiten. Und als er dann erst einmal in der Sekte war, war er ja auch begeistert gewesen von dem, was ihm dort erzählt worden war. So oberflächlich war sein Leben bis dahin gewesen – und jetzt fand er in seinem Leben einen tieferen Sinn, war für ihn nur noch eines wichtig: Dass er einmal vor Christus bestehen könne, wenn der wiederkommt.
Natürlich hatte er die fromme Gruppe auch kräftig unterstützt mit dem, was er verdiente. Aber dann kam eines Tages der Leiter der Gruppe zu ihm und sagte zu ihm: Glaubst du wirklich fest daran, dass Jesus bald wiederkommt? Ja, hatte er ihm geantwortet, das glaube ich! Und da hatte der Leiter der Gruppe zu ihm gesagt: Wenn du wirklich fest daran glaubst, dass Jesus bald wiederkommt, warum hast du dann immer noch Geld angelegt für deine Alterssicherung? Das ist ein Zeichen von Unglauben! Wenn der Herr bald wiederkommt, brauchst du dieses Geld doch gar nicht – dann können wir dieses Geld doch jetzt viel besser gebrauchen für das Werk des Herrn, das wir verrichten! Und er war tatsächlich auf diese Argumentation hereingefallen, hatte seine gesamten Rücklagen, die er für das Alter gebildet hatte, aufgelöst und der Sekte zur Verfügung gestellt. Wie sehr die hinter seinem Geld her war, machte ihn allerdings bald darauf zunehmend misstrauisch – und es dauerte nicht lange, bis er merkte, dass es dieser Gruppierung in Wirklichkeit wohl doch weniger um Christus als vielmehr um das Geld ihrer Mitglieder ging. Er verließ die Gruppe – und nun saß er da: mit Schulden am Hals, die er für diese Sekte gemacht hatte, und mit einer Rente, die kaum über die Grundsicherung hinaus reichte. Und vom wiederkommenden Christus war weit und breit keine Spur zu sehen. „Mensch, wie konnte ich bloß so blöd sein?!“
„Mensch, wie konnten die bloß so blöd sein?“ – Vielleicht kommen bei manchen von uns solche Gedanken auch auf, wenn sie die Predigtlesung des heutigen Sonntags hören. Dass sich die Leute in der Gemeinde alle so lieb hatten, war ja wunderbar – aber dass sie sich dadurch finanzierten, dass die Leute der Reihe nach ihre Besitztümer verkauften und den Erlös der Gemeinde zur Verfügung stellten, das konnte doch nicht lange gut gehen. Irgendwann war dann mal Schluss mit dem Eigentum der Leute – und dann waren nicht nur sie persönlich, sondern dann war auch die ganze Gemeinde pleite. Nur eine sehr schnelle Wiederkunft ihres Herrn hätte die Gemeinde damals vor dieser Pleite retten können. Doch der hat sich bekanntlich bis heute noch Zeit gelassen – und so dauerte es nur ein paar Jahre, bis schließlich der Apostel Paulus durch die Gemeinden des Mittelmeergebietes reiste, die Gemeindeglieder davor warnte, mit dem Hinweis auf die baldige Wiederkunft des Herrn mit der Arbeit aufzuhören, und in allen Gemeinden eine Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde einsammelte, die mit ihrem wunderschönen urkommunistischen Projekt offenkundig finanziell schweren Schiffbruch erlitten hatten. Das war ja eine wunderschöne Idee, die die Christen da hatten, auf Privateigentum ganz zu verzichten und alles in der Gemeinde gemeinsam zu haben. Aber leider funktioniert diese Idee nicht, und dann sind es immer wieder andere, die für den entstandenen Schaden aufkommen müssen. Daran hat sich bei allen Sozialutopien, die Menschen im Laufe der Zeit zu durchleben und zu durchleiden hatten, nichts geändert.
Ist die heutige Predigtlesung also nur der Bericht über eine Gruppe von Leuten, denen ihr Glaube den Verstand geraubt hat, dass sie nicht mehr klar und nüchtern denken konnten? Ja, ist unsere heutige Predigtlesung nur als ein abschreckendes Beispiel zu verstehen, wie man es als christliche Gemeinde nicht machen sollte?
Ganz so einfach können wir es uns nun auch wieder nicht machen. Denn die Christen in Jerusalem machten damals vieles ja auch völlig richtig. „Mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus“, heißt es hier beispielsweise. Die erste Gemeinde in Jerusalem war also nicht bloß irgendeine spinnerte Öko-Kommune, die angefangen hatte, alle möglichen verrückten Ideen auszuprobieren. Sondern was diese Gemeinde zusammenhielt und bewegte war die Botschaft von der Auferstehung des Herrn Jesus, ja, war die Erfahrung, dass der auferstandene Christus in ihrer Mitte gegenwärtig war und lebte. Es ging den Christen damals in Jerusalem eben nicht bloß darum, nett zueinander zu sein, es ging ihnen auch nicht um Kritik am Kapitalismus. Sondern sie feierten, dass mit der Auferstehung ihres Herrn tatsächlich eine neue Weltzeit angebrochen war, in der es nicht mehr darum geht, möglichst viel in diesem Leben mitzunehmen, weil mit dem Tod ja alles aus ist. Sie feierten, dass sie eine Hoffnung hatten, die stärker war als der Tod, ja, sie feierten, dass ihr auferstandener Herr immer wieder neu in ihre Mitte kam, wenn sie sich versammelten, um miteinander seinen Leib und sein Blut zu empfangen. Und dass einen die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn im Heiligen Mahl in Begeisterung versetzen kann, ist ja nun etwas, was wir selber den Christen damals auch gut nachempfinden können.
Und ebenso ist es natürlich wunderbar, wenn St. Lukas hier von der Gemeinde in Jerusalem schreibt: „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele.“ Ja, so sollte es doch sein, dass Christen so eng miteinander verbunden sind, dass sie gleichsam einen gemeinsamen Herzschlag haben, dass die Gemeinde für sie nicht bloß ein geistlicher Selbstbedienungsladen ist, sondern sie darum wissen und es erfahren, wie wichtig es ist, mit den Schwestern und Brüdern in der Gemeinde verbunden zu sein. Die Worte aus der Apostelgeschichte erinnern uns daran, dass wir die Situation, in der wir im Augenblick in dieser Corona-Zeit als Kirche leben, niemals als normal ansehen dürfen. Ja, es ist gut, dass wir jetzt seit Anfang Mai wieder die Gelegenheit haben, wieder jede Woche den Leib und das Blut unseres Herrn zu empfangen. Das ist schon einmal ein erster ganz wichtiger Schritt dahin, dass wir als Kirche niemals eine elektronische Kirche werden dürfen, bei der jedes Gemeindeglied am Ende nur vor dem Bildschirm sitzt und sich anschaut, was da irgendwelche Kirchenvertreter für ihn vorführen. Das hat mit Kirche kaum noch etwas zu tun, auch wenn das erst mal ganz modern aussieht. Nein, Kirche hat tatsächlich etwas mit leibhaftiger Gemeinschaft zu tun, natürlich zunächst und vor allem mit der leibhaftigen Gemeinschaft mit Christus, aber dann eben auch mit der Gemeinschaft untereinander. Und von diesem gemeinsamen Herzschlag spüren wir im Augenblick eben auch in unserer Gemeinde nur wenig, wenn sich die Gemeindeglieder immer nur zu 25 getrennten Gottesdiensten versammeln können, wenn wir nicht zusammen beten, singen, essen, feiern können, wie wir es sonst immer gewohnt waren. Gewöhnen wir uns also ja nicht an den gegenwärtigen Zustand, auch wenn es so mancher in unserer Gemeinde zurzeit ja auch als ganz angenehm empfindet, kleine, kurze Gottesdienste zu seiner Wunschzeit angeboten zu bekommen! Gemeinde ist mehr – ein Herz und eine Seele. Vergessen wir das gerade jetzt in dieser Corona-Zeit niemals.
Und noch etwas können wir den Worten unserer heutigen Predigtlesung entnehmen: Christlicher Glaube, ja ganz konkret das Zusammenleben in der christlichen Gemeinde hat natürlich auch mit dem Thema „Geld und Besitz“ zu tun. Auch wenn die Christen damals in Jerusalem nach unserem Verständnis heute ziemlich naiv waren, kann man ihnen doch nicht vorwerfen, dass sie von irgendeinem geldgierigen Guru oder von irgendwelchen geldgierigen Aposteln moralisch unter Druck gesetzt oder ausgenutzt worden wären. Sondern die Botschaft von der Auferstehung ihres Herrn hatte bei ihnen einfach dafür gesorgt, dass sie ihre Zukunft nicht darin sahen, möglichst viel Geld und Besitz anzuhäufen, sondern dass sie loslassen konnten, wie auch ihr Herr selber, der doch alles, was er gehabt hatte, auch aufgegeben hatte, um sich für uns ganz hinzugeben. Natürlich sollen wir nicht einfach unseren Verstand ausschalten, wenn es um Geld und Besitz geht. Aber dass wir ein Gefühl dafür entwickeln, dass alles, was wir haben, uns von Gott nur anvertraut ist, dass wir ein Gefühl dafür entwickeln, dass es für einen Christen selbstverständlich ist, loszulassen und abzugeben, das können wir von den ersten Christen in Jerusalem lernen. Und dieses Loslassen darf dann ruhig immer wieder einmal auch etwas großzügiger ausfallen, als es uns unsere Vernunft zunächst einmal gebieten möchte. Abgeben, reichlich Abgeben hat in der Heiligen Schrift eine große Verheißung. Wir werden nicht ärmer, sondern reicher werden, wenn wir reichlich von dem, was wir haben, abgeben, so haben es Christen in ihrem Leben immer wieder erfahren. Und genau von solchen Erfahrungen leben wir schließlich ja auch in unserer Gemeinde. Was wir hier bei uns in Steglitz begonnen haben, ist aus finanzieller Sicht kaum weniger irrsinnig gewesen als das Projekt der Christen damals in Jerusalem: Wie sollten wir eine Gemeinde aufbauen mit lauter Leuten, die kein Geld hatten, sondern nur mit Mitteln zur Sicherung ihres allerdringendsten Lebensunterhalts ausgestattet sind? Das konnte doch gar nicht gut gehen! Doch wir haben gemacht, was nach menschlichem Ermessen gar nicht funktionieren konnte – und haben erlebt, dass es tatsächlich so viele Christen gibt, die genau dieselbe Einstellung haben wie damals die Christen in Jerusalem, die das, was sie besitzen, nicht für sich behalten wollten, sondern es mit uns geteilt haben, mit denen, die eigentlich gar nichts hatten. Ja, so funktioniert Kirche auch noch im 21. Jahrhundert – besser noch als damals in Jerusalem, und doch letztlich auf derselben Grundlage wie damals in Jerusalem auch. Weil wir einen reichen Gott haben, der sich für uns arm gemacht hat, leben wir in einer Gemeinschaft von Christen, die von Gott reich beschenkt sind und darum fröhlich und gerne abgeben. Nein, diese Menschen sind nicht schön blöd, die wissen, was sie tun, und werden es auch nicht bereuen. Ja, sie ermutigen auch unsere eigenen Gemeindeglieder, dass sie es ihnen nachmachen, wenn sie jetzt in der Zukunft, Gott geb’s, auch einmal eigene Einnahmen haben werden. Ja, Gott geb’s, dass sie sich dann auch daran erinnern, was Kirche ausmacht: Dass wir gemeinsam leben von der Gegenwart unseres Herrn, der uns im Heiligen Mahl ganz, ganz reich macht, damit wir dann auch abgeben können von dem, was letztlich doch nicht unser Leben ausmacht. Mögen wir das alle miteinander in unserer Gemeinde erleben, dass Kirche so funktioniert – ganz ohne Druck, nur aus der Freude heraus, zu diesem Christus gehören zu dürfen, der uns niemals wird dumm dastehen lassen. Amen.