Apostelgeschichte 6,1-7 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Es gibt Abschnitte in der Heiligen Schrift, bei denen man einfach die Luft anhält, wenn man sie liest, weil man merkt: Das ist so unglaublich aktuell – da wird genau von dem berichtet, was wir hier und heute bei uns, in unserer Gemeinde erleben.

Zu diesen Abschnitten der Heiligen Schrift gehört zweifelsohne auch unsere heutige Predigtlesung aus der Apostelgeschichte. Beim ersten Hinhören mögen wir glauben, dass uns da eine ganz andere Welt geschildert wird als die, die wir heute erleben; aber wenn wir genauer hinschauen, dann erzählt uns St. Lukas in der Tat auch die Geschichte unserer Steglitzer Gemeinde. Dennoch ist es gut, wenn wir zunächst noch einmal darauf blicken, was eigentlich damals vor knapp 2000 Jahren in Jerusalem los war:

Es war mittlerweile schon einige Zeit vergangen, seit zu Pfingsten 3000 Menschen in Jerusalem getauft worden waren und die erste christliche Gemeinde bildeten. Seitdem war die Gemeinde zahlenmäßig immer noch weitergewachsen. Aber nun wurden in der Gemeinde auch erste Probleme ganz offensichtlich. Ein Grundproblem hatte die Gemeinde gleichsam aus ihrem jüdischen Umfeld, aus dem sie stammte, importiert: Sie war nämlich eine zweisprachige Gemeinde, in der ein Teil Aramäisch und ein Teil Griechisch sprach. Das hing damit zusammen, dass auch das Judentum der damaligen Zeit zweisprachig war: Da gab es die Juden, die im Heiligen Land wohnten und dort das damals übliche Aramäisch sprachen. Hebräisch war nur die Sprache des Gottesdienstes, wurde aber nicht im Alltag gesprochen. Aber dann gab es auch sehr viele Juden, die sich im Laufe der Zeit im ganzen Mittelmeerraum angesiedelt hatten. Die sprachen kein Aramäisch, sondern die Weltsprache der damaligen Zeit, also Griechisch. Nun fuhren viele dieser griechischsprachigen Juden allerdings auch einmal nach Jerusalem, um dort an großen Festen teilzunehmen. Und so gab es unter denen, die sich am Pfingstfest taufen ließen, eben auch viele Juden aus dem ganzen Mittelmeergebiet, ja, auf der anderen Seite ja auch aus dem Gebiet bis in den heutigen Iran hinein. Und dann kam noch etwas dazu, dass viele Juden aus dem Mittelmeergebiet sich im Alter in Jerusalem niederließen, um schließlich auch dort in der Heiligen Stadt begraben zu werden. Und auch unter denen waren wohl einige in der Zeit nach Pfingsten Christen geworden.

Nun befand sich die Jerusalemer Gemeinde allerdings von Anfang an in einer gewissen wirtschaftlichen Schieflage: Viele derer, die von außerhalb nach Jerusalem gekommen waren und dort dann Christen geworden waren, kehrten nicht mehr in ihren Heimatort zurück und hatten erst einmal keine Arbeit – und auch ansonsten mussten offenbar viele Gemeindeglieder ganz elementar mit dem Nötigsten zum Leben versorgt werden. Das ließ sich nur dadurch finanzieren, dass Gemeindeglieder Teile ihres Besitzes verkauften und der Gemeinde spendeten – was allerdings kein sehr solides Finanzierungsmodell war und schließlich dazu führte, dass der Apostel Paulus bei seinen Missionsreisen kräftig Spenden für die Jerusalemer Gemeinde einsammelte, um diese vor der Pleite zu bewahren.

Eine große Menge mit Essen und dem Nötigsten zum Leben zu versorgen, war allerdings schon eine erhebliche logistische Herausforderung, und so war es kein Wunder, dass da nicht alles ganz reibungslos lief. Die Mechanismen sind bekannt: Es gab einen Kern von Gemeindegliedern, die sich untereinander immer schon kannten und offenbar auch engere Kontakte zu den Aposteln hatten, und die sorgten dafür, dass erst einmal ihre Leute versorgt wurden – und dieser Kern, das waren offenbar die Aramäisch sprechenden Gemeindeglieder. Die Leute von außerhalb, die sich sprachlich nicht so gut verständigen konnten, blieben dagegen außen vor, und unter ihnen ausgerechnet die Witwen, also diejenigen, die im sozialen Gefälle ganz unten standen, die oftmals in Jerusalem ganz allein dastanden, weil ihre Familie irgendwo ganz weit entfernt wohnte. Und das führte zu einem „Murren“, wie es St. Lukas so schön in Anlehnung an das Verhalten der Israeliten während der Wüstenwanderung formuliert. Es gab also kräftig Knatsch in der Gemeinde, sodass sich die zwölf Apostel genötigt sahen, eine Sonder-Gemeindeversammlung einzuberufen, um dieses Problem zu lösen. Sie machen deutlich: Sie selber können sich um dieses Problem nicht auch noch kümmern. Sie sind mit ihrem Dienst der Verkündigung ganz ausgelastet; da können sie sich nicht auch noch um die Essensverteilung kümmern. Und so regen die Apostel die Einrichtung eines neuen Dienstes in der Gemeinde an: Sieben Männer sollen sich in besonderer Weise um den griechischsprachigen Teil der Gemeinde kümmern – und zwar wohl nicht nur um die Essensversorgung, sondern auch um die geistlichen Bedürfnisse der Gemeindeglieder, denn die Leute, die schließlich gewählt und von den Apostel geweiht werden, waren durchaus keine Managertypen, sondern werden im Weiteren in der Apostelgeschichte als Verkündiger des Evangeliums geschildert. Es deutet sich hier also eine Lösung an, dass sich die zweisprachige Gemeinde dann doch in zwei verschiedene Gemeinden entlang der Sprachgrenzen aufzuteilen beginnt – und so ist diese Entwicklung dann tatsächlich auch weitergegangen. Für die Apostel ist nur das Eine wichtig: Dass die Verkündigung des Wortes Gottes, dass das gemeinsame Gebet weitergeht. In was für organisatorischen Formen des geschieht, darum wollen sie sich nicht unbedingt kümmern. Aber klar ist ihnen auch: Für die Lösung der Herausforderungen in der Gemeinde braucht es ganz bestimmte Ämter und Dienste, das entwickelt sich nicht alles einfach nur spontan. Jedenfalls war die Lösung, die man damals in der Gemeinde in Jerusalem fand, offenkundig hilfreich. Statt dass sich die Gemeinde selber zerfleischte, führte die neue Struktur dazu, dass die Gemeinde immer noch weiter wachsen konnte, ja, dass sogar viele Priester, also aus dem Bereich der Sadduzäer, sich der Gemeinde anschlossen.

Was für eine aktuelle Geschichte! Sie macht uns zunächst einmal deutlich: Das ist eigentlich gar nichts so Exotisches, dass wir hier in Steglitz eine zweisprachige Gemeinde sind. Das gab es alles auch schon im Neuen Testament. Allerdings warnt uns auch schon die Apostelgeschichte davor, die Probleme zu übersehen, die sich in einer Gemeinde zwangsläufig ergeben, wenn Gruppen mit unterschiedlichen Muttersprachen gemeinsam in einer Gemeinde sein und bleiben wollen. Wir haben hier in Steglitz das große Glück, dass wir hier in unserer Gemeinde nicht irgendwelche Platzhirsche haben, die immer schon das Leben der Gemeinde bestimmt haben und die entsprechend ihren Einfluss geltend machen, wen sie denn noch alles in der Gemeinde mit dabei haben wollen oder nicht. Die Neuen sind in der großen Mehrheit, aber diejenigen, deren Muttersprache die Sprache dieses Landes ist, sehen die Neuen eben nicht als Konkurrenz an, sondern freuen sich an ihnen, nehmen sie als eine Bereicherung des eigenen Lebens, auch des eigenen geistlichen Lebens wahr. Da sind wir reich beschenkt, dass wir in unserer Gemeinde solches Konkurrenzdenken nicht haben, ja, dass wir es auch ganz gut geschafft haben, dass auch Farsisprachige und Darisprachige geschwisterlich miteinander umgehen und gerade nicht auf Kosten der anderen sich einen Vorteil zu verschaffen versuchen.

Die Frage ist, wie die Zukunft unserer Gemeinde nun aussehen soll. In Jerusalem blieben die unterschiedlichen Sprachgruppen wohl doch so weit voneinander getrennt, dass sich am Ende zwei verschiedene Gemeinde mit jeweils eigener Sprache bildeten. Wir haben uns hier in Steglitz an der Herausforderung versucht, bewusst beide Sprachgruppen in einer Gemeinde zusammenzuhalten, ja auch in einem Gottesdienst zusammenzuhalten. Gerade auch unter diesem Aspekt ist es schmerzlich, dass wir nun in dieser Corona-Zeit dann doch wieder einsprachige Gottesdienste anbieten müssen, dass die verschiedenen Gruppen in der Gemeinde damit doch sehr viel stärker wieder unter sich bleiben. Auch unter diesem Aspekt können wir nur darum beten, dass wir bald wieder gemeinsame Gottesdienste in unserer Gemeinde feiern können, ja, dass wir auch in Zukunft sehr bewusst eine zweisprachige Gemeinde bleiben.

Doch die Erzählung aus der Apostelgeschichte spricht noch ein anderes Thema an: Die Apostel machen ganz klar, dass sie sich in der Gemeinde nicht um alles kümmern können, dass ihre Aufgaben die Wortverkündigung und der Gottesdienst bleiben. Nein, sie sagen nicht, dass die Fürsorge für die armen Witwen unter ihrem Niveau ist. Sondern es geht nur um die Einsicht, dass auch ihre Kräfte begrenzt sind.

Ja, das ist auch in unserer Gemeinde ein sehr aktuelles Thema. Wir hatten ja in unserer Gemeinde durchaus schon eine ähnliche Struktur, wie sie hier in der Apostelgeschichte geschildert wird: Wir hatten drei farsisprachige hauptamtliche Mitarbeiter für 1500 Gemeindeglieder – das entspricht zahlenmäßig in etwa den sieben Helfern für die gut 3000 Gemeindeglieder in Jerusalem. Nun sind uns allerdings genau diese drei farsisprachigen Mitarbeiter in den letzten Monaten abhandengekommen, und die Leitung der Gemeinde geschieht auch nicht durch zwölf Apostel, sondern durch einen einzigen Pastor, der nun seinerseits auch sprachlich beide Gemeindeteile abdecken muss. Von unseren knapp 20 Gottesdiensten in der Woche sind eben etwa 90% auf Farsi und 10% auf Deutsch. Ja, schon allein der Dienst am Wort Gottes in zwei, oder besser gesagt ja sogar in drei Sprachen bringt mich hier in meiner Arbeit mitunter ganz schön an meine Grenzen, und so bin ich dankbar, dass wir zwar das Sprachproblem im Augenblick nur sehr begrenzt mit Mitarbeitern auffangen können, dass es aber eben doch so wunderbare engagierte Mitarbeiter gibt, die sich um so viele praktische Fragen in der Gemeinde kümmern, dass ich davon völlig entlastet bin. Die Finanzen, die Versorgung der Kirchenasylanten, die Betreuung des Gemeindezentrums, ja auch die Logistik unserer Gottesdienste in Corona-Zeiten – all das geschieht fast vollständig ohne mein Mittun, hilft mir, mich auf das zu konzentrieren, was Kern meines Dienstes hier in der Gemeinde ist.

Ja, es ist ganz wichtig, dass wir uns um die menschlichen Nöte unserer Gemeindeglieder kümmern, die in unserer Gemeinde nun so besonders vielfältig und bedrängend sind. Das können wir nicht lassen, wenn wir denn als Gemeinde miteinander zusammenbleiben wollen. Und doch muss immer klar sein, was Zentrum unserer Arbeit ist und bleibt: Das Wort Gottes, der Gottesdienst. Wenn die nicht mehr im Zentrum stünden, wenn wir nur noch eine NGO mit frommem Hintergrund wären, dann würde unsere Gemeinde keine Zukunft haben. Nein, es bleibt dabei: Alles, was wir hier tun, speist sich aus dem Gottesdienst, aus dem Hören des Gottesdienstes, aus dem Empfang des Heiligen Mahls. Das muss auch in Coronazeiten im Zentrum stehen. Aber dann ist es gut, wenn wir immer wieder überlegen, welche weiteren Nöte es in unserer Gemeinde gibt und welche Dienste darum gebraucht werden. Ja, es ist gut, wenn wir uns klarmachen, dass auch eine noch so gute und richtige Verkündigung des Evangeliums Konflikte in einer Gemeinde nicht automatisch ausschließt, sondern dass die sich auch unter der Verkündigung des Evangeliums entwickeln können. Wichtig ist es, dass wir uns auch die soziale Realität unserer Gemeinde immer wieder vor Augen führen, dass wir uns gerade für die einsetzen, die auf der sozialen Skala heutzutage ganz unten stehen, wie damals die griechischen Witwen, dass wir auch mit unserem Einsatz für die, denen in unserer Gesellschaft bitteres Unrecht widerfährt, Zeugnis ablegen von der Botschaft, die uns von den Aposteln aufgetragen ist. Ja, wenn eine Gemeinde wächst, bringt das Herausforderungen mit sich, so zeigt es uns St. Lukas – und macht uns doch zugleich Mut, deshalb auf das Wachsen nicht verzichten zu wollen.

An diesem 13. Sonntag nach Trinitatis feiern wir den „Diakoniesonntag“. Unsere heutige Predigtlesung macht uns deutlich: Diakonie ist nicht etwas, was wir in der Kirche an irgendwelche Profis in kirchlichen Einrichtungen delegieren können. Sondern Diakonie geschieht zunächst und vor allem in der christlichen Gemeinde selber, so, dass man die nicht übersieht, die ganz unten in der Gesellschaft angesiedelt sind, dass man als Gemeinde lernt, solidarisch miteinander zu leben – gegründet in der gemeinsamen Teilhabe am Leib und Blut des Herrn im Heiligen Sakrament. Denn eines sollte uns in allem auch immer klar sein: Nicht wir bringen eine Gemeinde oder Kirche zum Wachsen. Wenn eine Gemeinde zahlenmäßig zunimmt, liegt das einzig und allein am Herrn der Kirche selber, der seine Gemeinde baut. Ihm wollen wir vertrauen, dass er auch die Herausforderungen, die in unserer Gemeinde unverkennbar vor uns liegen, bewältigen wird. Denn der Pastor allein tut’s freilich nicht. Amen.

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