Daniel 7,1.9-14 | Mittwoch nach dem Ewigkeitssonntag | Pfr. Dr. Martens

Völlig ohnmächtig standen sie da in Jerusalem: Der Seleukidenkönig Antiochus IV. Epiphanes hatte im Jahr 167 vor der Geburt Christi die Stadt Jerusalem gewaltsam erobert. Und damit nicht genug: Er hatte es gewagt, auch den Tempel in Jerusalem zu betreten und ihn damit zu entweihen, ja, mehr noch: Er hatte allen Ernstes diesen Tempel zu einem Heiligtum des olympischen Zeus umwidmen lassen – mit einem heidnischen Götterstandbild. Schlimmer konnte er die religiösen Gefühle der Juden in der Stadt nicht verletzen – und genau das war ja auch seine Absicht gewesen: Ihnen, den Juden, ihre völlige Ohnmacht vor Augen zu führen. Nichts konnten sie dagegen unternehmen – und ihr Gott half ihnen augenscheinlich auch nicht.

Das Gefühl solch völliger Ohnmacht – es ist auch uns nicht unbekannt. Da haben wir in den vergangenen Wochen gesehen, wie Menschen im Iran auf die Straße gingen, um zunächst einmal gegen eine Erhöhung der Benzinpreise, aber letztlich doch auch gegen die brutale Herrschaft des dortigen Terrorregimes zu protestieren. Und was machte das Regime? Stellte das Internet ab, damit keiner mitbekommen konnte, was da im Lande geschah. Und dann wurden die Demonstranten abgeknallt wie die Kaninchen, Frauen, Kinder, alles, was sich bewegte. Mehrere tausend Demonstranten wurden verhaftet und sitzen zu dieser Stunde in den Foltergefängnissen des Landes. Völlige Ohnmacht – das ist das Gefühl, das so viele Betroffene in dieser Stunde gepackt hat. Gegen diese geballte Machtdemonstration des Regimes kommt keiner an – erst recht, wenn sich auch hier in Europa niemand traut, seine Stimme für die unterdrückten Menschen klar und deutlich zu erheben. Der Geruch des Öls kommt hier in Europa eben sehr viel stärker an als der Geruch des Blutes der abgeschlachteten Menschen im Iran.

Das Gefühl völliger Ohnmacht – wir kennen es auch hier in unserer Gemeinde, wenn Menschen ihren Abschiebebescheid in der Hand halten, feststellen müssen, dass der deutsche Staat sich anmaßt, über ihren Glauben urteilen zu können – und eben auch die Machtmittel hat, um seine oftmals so irrsinnigen Entscheidungen dann am Ende auch durchsetzen zu können.

Damals im 2. Jahrhundert vor der Geburt Christi lasen die Israeliten die Erzählung von den Träumen Daniels, die er Jahrhunderte zuvor gehabt hatte: Gesehen hatte er in seinen Träumen, wie ein Weltreich nach dem anderen aufstieg – und dann doch wieder unterging. Wie Tiere sahen diese Weltreiche aus, wie Monster, scheinbar unbezwingbar. Aber am Ende verloren sie doch ihre Macht, gingen einfach unter. Ja, um Macht geht es in den Träumen Daniels, um scheinbar unbegrenzte Macht, die diese Weltreiche verkörperten – und von der am Ende dann so gar nichts mehr übrigblieb.

Und dieser vergänglichen Macht wird nun bei Daniel eine andere Macht gegenübergestellt: Ihr entscheidendes Kennzeichen ist, dass sie nicht vergeht – und dass sie einmal das Urteil über all diejenigen sprechen wird, die sich jetzt so allmächtig vorkommen:

Daniel wird erlaubt, einen Blick in den Himmel zu werfen. Während sich auf der Erde noch die gottfeindlichen Mächte austoben, wird im Himmel schon die Zukunft gestaltet: Throne werden aufgestellt, von denen aus alle Menschen, ja auch die scheinbar so allmächtigen Herrscher, gerichtet werden. Der, der auf dem Richterstuhl sitzt, wird als „uralt“ bezeichnet. Daraus haben sich dann im Verlaufe der Kunstgeschichte die Vorstellungen von Gott als einem alten Opa entwickelt. Doch gemeint ist natürlich etwas ganz anderes: Der, der da sitzt, ist ewig, der hat immer schon geherrscht, während die Herrscher dieser Erde kamen und gingen. Ja, der da auf dem Thron sitzt, ist der Herr der Geschichte – und diejenigen, die zuvor gelebt hatten, sind bei ihm nicht einfach verschwunden, haben sich einmal vor ihm zu verantworten in dem Gericht, das er über alle Menschen halten wird. Nein, bei diesem Gericht wird es nicht mehr darum gehen, wer denn Recht hat. Das steht von vornherein fest: Die, die vor ihm stehen, können vor dem Thron dieses Richters nur noch niederfallen und ihm dienen.

Doch damit ist die Szene nicht zu Ende: Da sieht Daniel in seinem Traum noch eine andere Gestalt: Wie ein Menschensohn sieht diese Gestalt aus. Und diesem Menschensohn wird die Macht über alle Völker und Menschen aus so vielen verschiedenen Sprachen übertragen – eine Macht, die ewig ist und nicht vergeht, eine Herrschaft, die kein Ende mehr kennen wird.

Die Menschen, die damals die Träume des Daniel hörten, während der heidnische König Antiochus sie demütigte und ihr Heiligtum schändete, hatten noch keine Ahnung, wer denn dieser Menschensohn sein könnte. Sie tröstete allein dieser Gedanke, dass auch die Herrschaft des gottlosen Antiochus ein Ende haben würde, ja, dass Antiochus sich auch einmal vor ihm, dem lebendigen Gott, für seine Taten würde verantworten müssen.

Zweihundert Jahre später trat im selben Israel ein Mann auf und sprach von sich selbst als dem „Menschensohn“. Kaum einer begriff zunächst, was er damit meinte und worauf er damit anspielte. Er beanspruchte keinerlei politische Macht; er rief erst recht nicht zur Gewalt auf. „Der Menschensohn muss leiden“, „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ – so verkündigte er. Doch nachdem er von den Toten auferstanden war, da begannen seine Jünger zu erahnen, was Jesus damit gemeint hatte, als er immer wieder von sich als dem Menschensohn sprach. Und als er dann zum Abschied zu seinen Jüngern sagte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker!“ – Da wurde es ihnen ganz klar: Er ist es, der Menschensohn, er ist der Herrscher der Welt, der doch ganz anders regiert, als es sonst Herrscher zu tun pflegen.

Und so dürfen wir heute Abend den vollen Trost dieser Worte aus den Träumen Daniels entnehmen:

„Die Herren dieser Welt gehen, aber unser Herr kommt!“ – So hat es Gustav Heinemann einmal so schön formuliert. Mit der Macht der Reiche dieser Welt wird es einmal aus sein. Auch die Gewaltherrscher in Teheran werden nicht für immer herrschen; der Tag wird kommen, an dem auch ihre Zeit abläuft. Und dann werden sich auch diese Herrscher einmal vor dem Thron Gottes, vor dem Thron Jesu Christi verantworten müssen. Ja, wir werden es einmal mit eigenen Augen sehen, wie Herr Khomeini und Herr Khamenei Seite an Seite vor Christus niederfallen und ihn anbeten werden. Wir werden es einmal mit eigenen Ohren hören, wie sie gefragt werden: Was habt ihr in eurem Leben getan? Was habt ihr den Menschen in eurem Land angetan? Wir werden es einmal erleben, wie die Bassij einmal einzeln gefragt werden: Was habt ihr mit den Menschen in eurem Land gemacht? Und jeder Folterknecht wird sich dann einmal vor Christus, vor ihm, dem Menschensohn, zu verantworten haben, ja auch ein jeder, der euch hier in Deutschland die Ernsthaftigkeit eures Glaubens abgesprochen hat, der entschieden hat, euch in den Tod zu schicken.

Und dann werden wir feiern, feiern vor dem Thron dessen, der als der Menschensohn für unsere Schuld ans Kreuz gegangen ist, werden einmal feiern, dass seine Herrschaft kein Ende hat, werden feiern, dass er allein das letzte Wort über unser Leben und über die ganze Welt sprechen wird, dass er allein einmal urteilen wird, wer zu ihm gehört.

Als Daniel damals den Blick in den Himmel warf, herrschten auf Erden noch die Mächte des Bösen. Doch Daniel sah: Die neue Realität ist schon da, sie ist nicht nur Zukunftsmusik. Es gibt sie jetzt schon, während es hier auf Erden noch ganz dunkel zu sein scheint. Genau das hat nun in dieser Woche auch unsere Schwester Maryam Changi erlebt: Am Sonntag ist sie dem Menschensohn Jesus Christus noch verborgen in den Gestalten von Brot und Wein hier am Altar begegnet. Doch jetzt darf sie ihn schon mit eigenen Augen schauen, dessen Herrschaft kein Ende hat, darf jetzt schon einstimmen in den Lobgesang der unzählig großen Schar vor dem Thron des Menschensohns. Ja, auch die Macht des Todes wird einmal ein Ende nehmen, so lesen wir es in der Offenbarung des Johannes. Auch dieser Gewaltherrscher wird einmal beseitigt werden. Und dann werden wir es für immer hören: Das Lob Gottes in so vielen verschiedenen Sprachen – und doch gewirkt von dem einen heiligen Geist. Maryam darf es jetzt schon hören, darf jetzt schon verstehen, was uns im Augenblick noch verborgen bleibt. Nein, wir brauchen nicht zu verzweifeln: Wer für ewig regiert, steht fest: Es ist der Herrscher mit den durchbohrten Händen und Füßen, der auch dich im letzten Gericht einmal freisprechen wird. Gott sei Dank, dass wir diese Zukunft haben. Ja, Gott sei Dank, dass wir angesichts unserer Ohnmacht nicht zu verzweifeln brauchen! Amen.

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