Dritte Fastenpredigt zum Thema „Was bringt uns Jesus?“: „Jesus, unsere Gerechtigkeit“ | Mittwoch nach Okuli | Pfr. Dr. Martens

Im vergangenen Jahr besuchten wir mit den Konfirmanden unserer Gemeinde das Konzentrationslager in Buchenwald. Das Eingangstor zu diesem Konzentrationslager ist immer noch erhalten. Beim Morgenappell auf dem Versammlungsplatz konnten die Gefangenen das Motto immer wieder lesen, das schmiedeeisern in das Tor gelassen war: „Jedem das Seine!“ Was für ein Hohn! Da missbrauchten die Nationalsozialisten die alte lateinische Formel „Suum cuique“, den Inbegriff des Gerechtigkeitsdenkens der abendländischen Kultur, und wandten ihn auf das an, was sie den Gegnern ihres Regimes dort antaten. Was für ein zynischer Missbrauch dessen, was wir Menschen üblicherweise unter „Gerechtigkeit“ verstehen!

Das Tor zum Eingang von Buchenwald macht uns deutlich, wie sehr der Begriff der Gerechtigkeit von uns Menschen immer wieder gedreht, gewendet und missbraucht wird. Und doch können und wollen wir auf den Begriff der Gerechtigkeit nicht verzichten, können und wollen vor allem nicht auf das verzichten, was er zum Ausdruck bringt: Dass Menschen für Gleiches auch gleich behandelt werden, dass die, die die Macht haben, nicht einfach willkürlich entscheiden, was sie dem einen oder was sie dem anderen zumessen.

Schon Kinder haben ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Sie protestieren dagegen, wenn sie ungerecht behandelt werden. Und entsprechend empören auch wir Erwachsenen uns zum Beispiel mit Recht, wenn wir auch in unserem Land erleben, wie Recht und Gerechtigkeit durch Willkür ersetzt werden, wenn politische Interessen das Recht der Wehrlosen beugen, wie wir dies beinahe jeden Tag hier in unserer Gemeinde erfahren – wenn etwa in Asylverfahren die Anerkennungsquote für konvertierte Christen in unserem Land von über 80% kurz mal auf gut 10% gedrückt wird, oder wenn in einem Verwaltungsgericht etwa 10% der Klagen konvertierter Christen stattgegeben wird und zwanzig Kilometer weiter im nächsten Verwaltungsgericht 90%. Mit Gerechtigkeit oder einem sogenannten Rechtsstaat hat das alles nur noch herzlich wenig zu tun.

Doch selbst da, wo das Recht nicht von offenkundigen politischen Interessen verbogen wird, wird es in dieser Welt niemals ganz gerecht zugehen. Der Traum einer wirklich gerechten Gesellschaft wird sich hier auf Erden niemals erfüllen, weil wir Menschen in unserem Herzen eben nicht edel, hilfreich und gut sind, sondern im Zweifelsfall immer erst einmal an unseren eigenen Vorteil denken. Und wenn Ideologien wie der Kommunismus mit einem völlig falschen und weltfremden Menschenbild versucht haben, eine Gesellschaft mit völliger Gleichheit zu errichten, hat das am Ende immer wieder nur zu noch größerer Ungleichheit und Ungerechtigkeit geführt, nicht zum Himmel, sondern zur Hölle auf Erden.

Ja, selbst mit noch so klugen und sinnvollen Gesetzen können wir nichts daran ändern, dass Menschen unterschiedlich sind, dass einige im Leben mehr erreichen als andere, können wir erst recht nichts daran ändern, dass manche Menschen gesundheitlich eingeschränkt sind, dass Menschen durch Krankheiten und Unglücksfälle sterben – manche eben sehr viel früher als andere.

Ja, es geht in dieser Welt ungerecht zu. Man kann aus dieser nicht zu leugnenden Tatsache natürlich unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Man kann beispielsweise mit den fernöstlichen Religionen die Ungerechtigkeit in dieser Welt als Folge des Karma interpretieren. Karma ist ja letztlich nichts anderes als die konsequente Anwendung des Gedanken, dass jeder bekommt, was er verdient, auch über den Tod hinaus: Wenn es jetzt einem Menschen in seinem Leben nicht gut geht, dann liegt das eben daran, dass er sich in seinem vorherigen Leben nicht gut verhalten hat. Der Gedanke klingt vor dem ersten Nachdenken ganz schön – in Wirklichkeit ist das Karmadenken unendlich zynisch: Warum soll ich mich dann noch um einen behinderten Menschen kümmern – die Behinderung ist ja eine Folge seiner eigenen Untaten im vorherigen Leben! Wenn ein Mensch früh erkrankt – selber schuld, hat er sich wohl im vorigen Leben selber eingebrockt! Im Jahr 1996 erschien hier in Deutschland ein Roman mit dem Titel „Jedem das Seine“, in dem der Autor Trutz Hardo das Karmadenken konsequent auch auf den Holocaust anwendete: Einem jeden Insasse der Konzentrationslager sei „in konzentrierter Weise das ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen, um seine Verschuldung abzuarbeiten und dadurch frei zu werden.“ Anders ausgedrückt: Die Insassen der Konzentrationslager hätten dort die Verschuldungen aus einem früheren Leben abbüßen müssen. Glücklicherweise wurde das Buch in Deutschland verboten und der Verfasser wegen Volksverhetzung verurteilt. Doch das Karmadenken erfreut sich nichtsdestoweniger hier in Deutschland weiterhin großer Beliebtheit.

Wenn wir mit dem Karmadenken nicht mehr weiterkommen, dann bleibt am Ende tatsächlich entweder nur der Glaube an einen blinden Zufall – oder es stellt sich die Frage nach dem Gott, der uns geschaffen hat und diese Ungerechtigkeit in unserem Leben, in dieser Welt einfach so zulässt. Ja, warum macht Gott das – oder warum duldet er es zumindest, was in dieser Welt geschieht? Warum duldet er die Ungerechtigkeit, die auch die Menschen in unserer Gemeinde oft so schmerzlich erfahren? Ja, natürlich hängt das alles mit der Sünde der Menschen zusammen. Aber damit lässt sich noch nicht erklären, warum den einen die Folgen menschlicher Sünden ganz anders treffen als den anderen. Ja, es bleibt die Frage nach Gottes Gerechtigkeit.

Gott gibt uns auf diese Frage keine einfache Antwort. Im Buch Hiob macht er deutlich, dass man am Geschick eines Menschen gerade nicht ablesen kann, ob er besonders gesündigt hat. Und er dreht die Frage um: Wer bist du, Mensch, dass du danach fragst, ob ich gerecht bin? Wie sieht es denn mit deiner Gerechtigkeit aus? Wie willst du eigentlich einmal mit dem, was du gesagt, getan, gedacht hast, vor Gott bestehen? Ja, Gott verlässt die Anklagebank, auf die wir ihn so gerne befördern, und nimmt Platz auf dem Richterstuhl, fragt uns nach unserem Leben.

Und da kommen wir eben nicht weiter, indem wir darauf verweisen, dass wir doch ganz anständige Menschen gewesen sind und hier und da auch einiges Gute getan haben. Wir können mit unseren guten Werken niemals ausgleichen, worin wir vor Gott und den Menschen schuldig geworden sind. Ja, wenn Gott tatsächlich nach dem Motto handelt: „Jedem das Seine“, wenn er uns gibt, was wir wirklich verdient haben, dann sind wir verloren, dann würde uns in der Tat nichts anderes als die Hölle erwarten.

Müssen wir also darauf hoffen, dass Gott doch nicht gerecht ist, dass er bei uns vielleicht doch ein wenig willkürlich handelt und bei uns mal ein Auge zudrückt? O nein, diese Hoffnung wäre völlig verfehlt. Und doch ist Gottes Gerechtigkeit in der Tat die einzige Hoffnung, die wir als Menschen mit all unserem Versagen, mit all dem, was wir gesagt, getan, gedacht haben, haben können.

Denn glücklicherweise bedeutet das Wort „Gerechtigkeit“ in der Bibel etwas ganz anderes, als was wir Menschen zunächst darunter verstehen. Genau das ist es, was Martin Luther damals vor 500 Jahren aufging, als er beim Lesen der Bibel immer wieder nicht weiterkam, wenn dort die Gerechtigkeit Gottes als Hoffnung der Menschen beschrieben wird. „Errette mich durch deine Gerechtigkeit“, heißt es beispielsweise in den Psalmen. Doch dann erkannte Martin Luther: „Gerechtigkeit“ meint in der Bibel: Gottes rettendes Handeln, mit dem er das Verhältnis zwischen sich und den Menschen in Ordnung bringt, schlicht und einfach, weil er es so versprochen hat. Gott ist kein Erbsenzähler, der am Ende unseres Lebens darüber entscheidet, wie viele gute und wie viele schlechte Taten wir begangen haben. Sondern er ist die Liebe in Person, und seine Gerechtigkeit ist Ausdruck dessen, was er, Gott, seinem Wesen nach ist: Ein Gott, der wieder in Ordnung bringen will und in Ordnung bringt, was wir im Verhältnis zu ihm zerstört haben.

„Gerechtigkeit“ meint also in der Bibel nicht bloß eine Eigenschaft Gottes, sondern Gottes Aktion zu unserer Rettung. Und diese Aktion hat er darin zum Ziel gebracht, dass er seinen Sohn Jesus Christus für uns in die Welt geschickt hat, dass er ihn für uns hat am Kreuz sterben lassen, um eben dadurch in Ordnung zu bringen, was wir selber niemals wieder hätten ausgleichen können. Er, Jesus Christus, ist Gottes Gerechtigkeit in Person – und diese Gerechtigkeit ist nun auch zu unserer Gerechtigkeit geworden, als wir mit diesem Jesus Christus eins geworden sind in unserer Taufe. Da hat uns Christus umhüllt wie mit einem Kleid, da haben wir ihn angezogen. Und seit dem Tag unserer Taufe gilt von daher, was sich so vielen unserer älteren Gemeindeglieder, gerade unserer russlanddeutschen Gemeindeglieder, mit Recht tief eingeprägt hat: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn.“

Wenn Gott uns nach unserem Leben fragt, dann blickt er auf uns – und sieht dabei auf Christus, der uns umhüllt, von dem wir umgeben sind. Und eben darum spricht er das Urteil: Dieser Mensch ist wirklich gerecht – indem er dabei auf Christus blickt, in dem wir leben und sind, mit dem wir immer wieder eins werden hier im Heiligen Mahl. Nichts, aber auch gar nichts müssen wir dazu beitragen, dass wir gerecht sind. Auch der Glaube ist nicht unser menschlicher Anteil daran, dass wir gerecht werden, sondern er ist diese Gemeinschaft mit Christus selber, die sich dann auch im Bekenntnis und im Lobpreis Gottes äußerst.

„Was bringt uns Jesus?“ – So fragen wir in den Fastenpredigten dieses Jahres. Er bringt uns nicht nur Gerechtigkeit, sondern er ist die Gerechtigkeit. Und das heißt: Meine Zukunft hängt nicht länger an mir, an dem, was ich getan oder nicht getan habe. Das letzte Urteil in meinem Leben bezieht sich nicht auf mein Tun und Versagen. Sondern meine Zukunft hängt allein an Christus, hängt an dem, was er getan hat. Das letzte Urteil über mein Leben bezieht sich auf Christus, mit dem ich verbunden bin. Ich brauche nicht selbst gerecht zu sein – Hauptsache Christus ist es, Hauptsache, er und ich sind eins. Damit lässt es sich gut leben – und getrost sterben. Amen.

Zurück