Epheser 3,1-7| Epiphanias | Pfr. Dr. Martens

Vor etlichen Jahren stellte uns unser heutiger Missionsdirektor Roger Zieger einmal eine interessante soziologische Gesetzmäßigkeit vor: Wenn in eine geschlossene soziale Gruppe Mitglieder einer anderen Gruppe hineinkommen, und die Quote dieser neuen Gruppenmitglieder die 10%-Marke übersteigt, dann brechen Konflikte auf, dann vermag die bisherige geschlossene soziale Gruppe diese neuen Gruppenmitglieder nicht mehr zu integrieren, sondern fängt an, sie als Bedrohung wahrzunehmen und sich gegen sie zu wehren.

Es ist verblüffend zu beobachten, wie sich diese soziologische Gesetzmäßigkeit immer und immer wieder als zutreffend herausstellt – in ganz unterschiedlichen Konstellationen. Die 10% scheinen so eine Marke zu sein, ab der Menschen in einer Gruppe anfangen, das Gefühl zu haben, dass ihre bisherigen eigenen Lebensgewohnheiten bedroht sein könnten. Ja, mehr noch, ab dieser Marke fühlen Menschen sich herausgefordert, nach ihrer eigenen Identität zu fragen, die bisher so selbstverständlich zu sein schien. Und wenn sie dann feststellen, dass sie so fürchterlich viel gar nicht zu ihrer eigenen Identität sagen können, dann schlägt die Verunsicherung sehr schnell um in Aggression.

Wir erleben das beispielsweise bei den wackeren Patrioten, die sich einer befürchteten Islamisierung des Abendlandes zur Wehr setzen. Nun wissen viele Glieder unserer Gemeinde sehr genau, dass es wahrlich keine Freude macht, in einem islamischen Gottessstaat zu leben, ja, dass dieses Leben im Gegenteil geradezu unerträglich sein kann. Doch was ist es eigentlich, was diejenigen, die sich gegen die befürchtete Islamisierung des Abendlandes zur Wehr setzen, denn nun verteidigen und schützen möchten? Mit christlichem Glauben und christlichen Werten hat dieses Abendland, wie sie es sich vorstellen, in aller Regel kaum noch etwas zu tun. Davon wissen die meisten Verteidiger nämlich so gut wie gar nichts mehr. Was bei genauerem Nachfragen übrigbleibt, ist oft nicht viel mehr als eine kleinbürgerliche Schrebergartenidylle oder ein verklärtes Bild einer Vergangenheit, die es in dieser Form niemals gegeben hat. Oder man definiert das Abendland im schlimmsten Fall einfach nur noch von der Abstammung seiner Bewohner her, vielleicht sogar von deren Hautfarbe. Und wer dann da nicht reinpasst, ist eben eine Bedrohung, die das eigene Lebensgefühl in Frage stellt.

Doch solche Konflikte gibt es eben nicht nur heute in unserer Gesellschaft, die gab es auch schon vor zweitausend Jahren, die gab es auch schon im ersten Jahrhundert der Kirche – und zwar in der Kirche. Die ersten Christen bildeten noch eine ziemlich geschlossene homogene Gruppe: Sie stammten alle aus dem Judentum und hatten von daher alle dieselbe Prägung, denselben Lebensstil, ja auch dasselbe Denken, das diejenigen innerhalb ihrer Gruppe sehr deutlich von denen draußen unterschied. Eigentlich hätten sie schon von Jesus selber lernen können, dass das mit dem „Drinnen“ und „Draußen“ nicht so einfach funktioniert, wie sie dies zu denken gewohnt waren. Doch die Macht der Gewohnheit war so groß gewesen, dass es schon einiger Kämpfe bedurfte, um diejenigen, die „drinnen“ waren, davon zu überzeugen, sich nicht länger von denen, die von draußen hineinwollten, abzuschotten. Ja, der Apostel Paulus konnte davon mehr als ein Lied singen.

Man musste sich auch einfach mal in die Lage derer hineinversetzen, die zuerst Glieder der Kirche Jesu Christi gewesen waren. Immer wieder hatten sie gelernt, dass diejenigen, die nicht aus dem Judentum stammten, unrein waren, dass man mit ihnen nicht zusammen essen konnte und durfte. Und nun kamen diese angeblich so unreinen Leute an, ließen sich taufen und wollten natürlich auch mit den alten Gemeindegliedern zusammen das Heilige Mahl feiern. Das kostete die alten Gemeindeglieder schon eine Menge Überwindung, das zu akzeptieren. Und damit nicht genug: Es dauerte nicht lange, da war die vormals allein existierende Gruppe innerhalb der Kirche zu einer kleinen Minderheit geworden, bestand die Kirche bald schon zu einem groß Teil aus ehemaligen Nichtjuden, sogenannten Heiden, die völlige andere Lebenserfahrungen in die Gemeinden mit einbrachten, ja, auch ein völlig anderes Verhalten. Dass da Überfremdungsängste aufbrachen, war doch völlig normal.

Und auf diesem Hintergrund werden nun auch die zunächst einfach so feierlich klingenden Worte des Apostels in der Epistel des heutigen Sonntags verständlich: Paulus bittet hier diejenigen, die von Anfang an zur christlichen Gemeinde gehörten, nicht bloß um Verständnis dafür, dass da zunehmend auch Neue in die Gemeinde hineinkommen. Sondern er redet hier von Gottes großem Heilsplan, in dem Gott genau das so geplant und jetzt durch die Verkündigung des Apostels offenbar gemacht hat, dass Menschen aus allen Ländern und Völkern ihren Platz im Volk Gottes, in der Kirche haben. Nein, es geht nicht bloß darum, dass sich die Alteingesessenen einigermaßen höflich gegenüber den Neuen verhalten und sie vielleicht auch ertragen sollen. Sondern es geht darum, dass sie in der scheinbaren Überfremdung ihrer Gemeinde und Kirche Christus selbst am Werk sehen, der seinen Plan zur Rettung der Menschen gerade auch in ihrer Mitte durchführt, seinen Plan, dem sich nun wahrlich kein Christ widersetzen sollte.

Ja, von diesem Heilsplan Gottes, von diesem Wunder, das sich damals schon im ersten Jahrhundert der Kirche ereignet hat, profitieren wir auch hier in Deutschland bis zum heutigen Tag. Wir Deutschen schienen nämlich auch erst einmal völlig draußen vor zu sein, wenn es um die Zugehörigkeit zum Volke Gottes geht. Von uns steht nichts in der Bibel – und dass wir uns im Laufe der Geschichte dem jüdischen Volk besonders verbunden gefühlt hätten, kann man ja nun auch nicht gerade behaupten. Doch Gott hat seinen Heilsplan durchgesetzt, hat damals durch den Apostel Paulus durchgesetzt, dass die Kirche Gottes tatsächlich für Menschen aus allen Völkern offen ist – und hat schließlich Boten berufen, die das Evangelium bis zu den sturen Germanen gebracht haben. Ja, wenn wir heute am Epiphaniasfest eben dies feiern, dass das Evangelium allen Völkern gilt, dann feiern wir zunächst einmal auch uns selber, feiern das Wunder, dass Gott sogar uns Deutsche in seinem Heilsplan mitberücksichtigt hat.

Doch wir stehen nun heute hier in Deutschland wieder genau vor denselben Herausforderungen wie die ersten christlichen Gemeinden damals auch: Ich habe das mit der 10%-Regel ja selber auch in meinem Dienst in meiner früheren Gemeinde sehr genau erlebt, habe erfahren, wie eine Gemeinde mit der Integration einer größeren neuen Gruppe schlicht und einfach überfordert war. Aber wir haben dann eben auch erlebt, wie Christus dieses mein Scheitern in seinen Plan mit eingebaut hat, wie er es genutzt hat, um daraus hier in unserer Gemeinde in Steglitz etwas viel Größeres und ganz Neues zu bauen, etwas, was wir uns vor einigen Jahren noch nicht einmal in unseren kühnsten Träumen hätten vorstellen können: Eine Gemeinde mit zumeist jungen Menschen aus dem Iran und Afghanistan, in deren Mitte sich dann auch noch einige einheimische Deutsche befinden. Ja, das war natürlich für uns alle eine große Herausforderung, bei der gerade auch die einheimischen Gemeindeglieder gefordert waren, sich darüber Gedanken zu machen, worin denn eigentlich ihre eigene Identität als Glieder unserer lutherischen Gemeinde besteht: eben gerade nicht in der deutschen Sprache, nicht in den gewohnten Ausdrucksformen unserer Frömmigkeit.

Um es an einem ganz praktischen Beispiel deutlich zu machen: Es hatte mir schon in meiner früheren Gemeinde besondere Freude bereitet, dass wir während der Kommunionausteilung immer wieder hintereinander die schönen Paul-Gerhardt-Lieder mit all ihren vielen Strophen gesungen haben, die auch mir ganz besonders am Herz liegen. Aber hier in Steglitz entwickelten sich die Dinge so, dass der Gemeindegesang dieser schönen Paul-Gerhardt-Lieder im Laufe der Zeit immer schwächer wurde, sodass ich am Altar oftmals noch nicht mal mehr mitbekam, bei welcher Strophe die Gemeinde denn nun eigentlich angelangt war, wenn der Gesang nicht gerade wieder einmal von einer einzelnen besonders markanten Stimme vorgetragen wurde. Und so haben wir nun umgestellt, singen nun farsisprachige Lieder während der Kommunionausteilung. Ja, das ist ein Verzicht, der auch mir nicht leicht gefallen ist – aber wir haben zugleich erfahren, wie viel wir dadurch gewonnen haben: einen fröhlichen Gesang mit so vielen Stimmen, und zugleich auch Texte einer Frömmigkeit, die auch unseren eigenen Glaubenshorizont noch einmal erweitern.

Und gemeinsam erfahren wir eben in jedem Gottesdienst, was denn nun unsere Identität als Christen, als christliche Gemeinde ausmacht: nicht ein deutscher lutherischer Genpool, nicht wunderschöne alte Traditionen, die ich auch selber nach wie vor so sehr liebe, sondern die gemeinsame Teilhabe am Leib und Blut des Herrn im Heiligen Mahl, mit den Worten unserer Predigtlesung: „dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium“. Hier am Altar wird deutlich, was Kirche Jesu Christi wirklich ist: Kein Club zur Traditionspflege oder zur Pflege deutscher Identität, sondern Leib Christi, in dem Menschen ganz unterschiedlichster Herkunft ihr Zuhause finden – eben durch die gemeinsame Teilhabe am Leib und Blut unseres Herrn.

Und eben darum brauchen wir als Glieder der christlichen Gemeinde niemals Angst zu haben vor einer Überfremdung. Niemand kann uns unsere Identität nehmen, wenn wir miteinander Gottesdienst feiern, Gottes Wort hören, seine Vergebung empfangen, sein Heiliges Mahl empfangen. Das kann alles in ganz unterschiedlichen Sprachen und Musikstilen geschehen, wenn es denn nur um Christus geht, um seine Gaben, die hier ausgeteilt werden. Und wenn wir denn alle miteinander durch die Teilhabe an dem einen Leib Christi hier in der Kirche miteinander verbunden werden, ist es auch klar, dass ich als Deutscher der iranischen Schwester und dem afghanischen Bruder hier in der Gemeinde viel näher stehe als etwa irgendeinem deutschen Politiker, der etwas von einem „christlichen Menschenbild“ daherschwadroniert und darunter am Ende doch nur versteht, dass unsere Geschwister hier in der Gemeinde aus Deutschland in den Tod deportiert werden sollen.

Und wenn es denn der Heilsplan Gottes ist, dass er immer wieder Menschen in seine Gemeinde führt, mit denen eigentlich keiner zuvor gerechnet hatte, dann sehen wir eben auch Menschen aus anderen Ländern, die zu uns in unser Land kommen, nicht zuerst als Bedrohung an, sondern sehen es als eine von Gott gegebene Chance an, gerade auch diese Menschen mit der frohen Botschaft von Jesus Christus zu erreichen. Ja, Gott überrascht uns mit seinem Heilsplan immer wieder, will, dass wir auch weiter unsere Türen offenhalten, dass auch weiter Menschen aus anderen Ländern den Weg an unseren Taufstein und an unseren Altar finden. Ja, das Evangelium von Jesus Christus hat eine solche Kraft, dass es auch scheinbar unumstößliche soziologische Gesetzmäßigkeiten zu überwinden vermag, dass es Menschen in dem einen Leib Christi zusammenbringt, die scheinbar doch keinerlei Gemeinsamkeiten haben, ja dass es diese so unterschiedlichen Menschen in dem einen Leib Christi gemeinsam in den Himmel bringt. Wovon Politiker nur träumen oder nur in der Form von Appellen sprechen können, das ist bei uns in der Kirche längst schon Wirklichkeit. Ja, es ist gut, dass wir über dieses wunderbare Geheimnis heute am Epiphaniasfest einfach mal gemeinsam staunen! Amen.

 

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