Epheser 5,1+2+8+9 | Okuli | Pfr. Dr. Martens

Nun haben wir mit dem heutigen Sonntag genau ein ganzes Corona-Kirchenjahr durchlebt. Letztes Jahr haben wir zum Sonntag Okuli unsere Kirche schließen müssen, weil es nicht mehr zu verantworten war, sich angesichts des sich ausbreitenden Corona-Virus in großen Scharen in der Kirche zu versammeln. Als wir die Kirche dann wieder öffneten, konnten wir uns nicht mehr wie vorher ins Gesicht schauen, begegnen uns seitdem hier in der Kirche und an so vielen anderen Orten nur noch maskiert. Ja, das ist natürlich nötig, und darum achten wir ja auch sehr darauf, dass in unserer Kirche die Maskenpflicht auch penibel eingehalten wird. Und doch haben wir in diesem Jahr eben auch gelernt, wie wichtig es doch eigentlich ist, dem anderen ins Gesicht schauen zu können, an seiner Mimik erkennen zu können, ob er uns gerade anlächelt oder uns ärgerlich anschaut oder vielleicht auch einfach nur gähnt, wenn wir uns mit ihm unterhalten. Da geht im Augenblick in unserer mitmenschlichen Kommunikation so viel verloren. Und während wir Erwachsenen damit irgendwie noch umgehen können, ist es für unsere Kinder noch viel schlimmer. Kinder sind darauf angewiesen, in das Gesicht des anderen schauen zu können, sie ahmen nach, was der andere macht, reagieren noch viel unmittelbarer darauf, wenn sie in unseren Gesichtern Gefühlsregungen erkennen können. Kein Wunder, dass so manches Kind es mit der Angst zu tun bekommt, wenn ein maskierter Pastor bei der Austeilung des Heiligen Abendmahls auf es zukommt, um es zu segnen. Es kann ja nicht erkennen, dass der Pastor unter der Maske lächelt; es hat wohl eher den Eindruck, dass sich ihm da gerade Darth Vader nähert.

Ja, Kinder lernen durch Nachahmen, werden dadurch geprägt, dass sie bewusst und unbewusst nachmachen, was ihre Eltern tun. Ja, das ist gut, wenn Eltern ihre Kinder prägen. Wenn Kinder solch ein Gegenüber nicht haben, wenn sie dieses Nachahmen nicht einüben können, dann hat das Schäden zur Folge, die sich im ganzen Leben eines Menschen auswirken. Ja, dankbar können Menschen sein, wenn sie die Prägung, die sie in ihrer Kindheit erfahren haben, für sich selber als positiv annehmen können, wenn diese Prägung ihnen geholfen hat, auch mit all den weiteren Einflüssen umzugehen, denen sie danach in ihrem Leben ausgesetzt waren. Denn so wichtig die Prägung auch ist, die wir aus unserem Elternhaus mitnehmen – sie ist und bleibt nicht die einzige Prägung unseres Lebens. Wir sind in unserem Leben immer umgeben von dem Geist der Zeit, in der wir leben, atmen diesen gleichsam mit jedem Atemzug ein. Ganz selbstverständlich orientieren wir uns immer wieder an dem, was die anderen machen, können uns diesem Verhalten so schwer entziehen. Wir haben es letztes Jahr zu Beginn der Corona-Pandemie gemerkt, als alle Leute plötzlich anfingen, Klopapier für die nächsten zehn Jahre zu horten. Da konnte man dann nur schwer widerstehen, sich auch mit diesem Zeug einzudecken, selbst wenn wir das in anderen Zeiten in dieser Weise nie gemacht hätten. Wie gut, wenn wir von unseren Eltern gerade auch dies gelernt haben, kritisch auf das zu schauen, was uns umgibt, es nicht als ein Argument für die Richtigkeit einer Handlung anzusehen, dass alle anderen das doch auch machen!

Nein, das ist nicht erst eine Herausforderung, vor der wir Menschen heute im 21. Jahrhundert stehen. Sondern genau mit dieser Frage, was uns denn eigentlich in unserem Leben prägt, hatten sich auch schon die Christen im ersten Jahrhundert auseinanderzusetzen. Ja, sie standen damals auch schon vor besonderen Herausforderungen: Sie waren eben nicht schon von Kindheit an im christlichen Glauben erzogen worden, hatten keine christliche Prägung mit auf den Weg bekommen, wie beispielsweise ich selber sie von meinen Eltern erhalten habe. Sie mussten, als sie Christen wurden, schon mit ihrem ganzen bisherigen Leben brechen. Und das Leben, das sie in ihrer Umgebung erfuhren, entsprach in so vielem ganz und gar nicht dem, was man von einem Christen erwarten konnte. Ja, wie sollte man als Christ mit diesen ganz anderen Prägungen, denen sich doch keiner so ganz entziehen konnte, umgehen?

Und da hat der Apostel Paulus hier in unserer Predigtlesung, der Epistel des heutigen Tages, Bemerkenswertes zu sagen:

Da redet er die Christen in Ephesus als „geliebte Kinder“ an, die Gott nachahmen sollen. Was für eine erstaunliche Aussage! Das müssen wir uns noch mal neu klarmachen, was das denn eigentlich heißt: Kinder sind wir, Gottes Kinder seit dem Tag unserer Taufe. Seit diesem Tag haben wir als Christen ein neues prägendes Gegenüber – und dieses neue prägende Gegenüber ist unser Vater im Himmel. Den sollen wir anschauen, von dem, von dessen Verhalten sollen wir uns als seine Kinder prägen lassen.

Doch genau das ist die Herausforderung, vor der wir als Christen stehen: Wo schauen wir in unserem Leben denn eigentlich hin, welchen Einflüssen setzen wir uns aus? „Meine Augen sehen stets auf den Herren“, so heißt es in dem Introitus dieses Sonntags, den wir nun in diesen Corona-Zeiten nicht singen dürfen, der aber nichtsdestoweniger diesem Sonntag seinen Namen gegeben hat. Oculi mei – ja, wo schauen meine Augen in meinem Leben eigentlich hin? Auf das, was die Menschen in meiner Umgebung sagen oder tun – oder schauen sie, meine Augen, stets, also nicht nur manchmal, auf den Herrn? Kann uns unser Herr so prägen, wie er es will, oder orientieren wir uns an ganz anderen Maßstäben, schauen stets weg von dem Herrn, den wir doch eigentlich nachahmen sollten?

Dabei haben wir als Gottes Kinder doch die idealen Startchancen, um uns in der bestmöglichen Weise prägen zu lassen: Wir sind geliebte Kinder, so betont es St. Paulus hier ausdrücklich. Manch einer in unserer Gemeinde hat mir davon erzählt, dass er in seiner Kindheit nie so etwas wie Liebe gespürt oder erfahren hat. Doch seit wir getauft sind, dürfen wir alle miteinander sprechen von unserem liebevollen Vater, von dem wir nichts anderes erfahren als immer wieder neu Liebe, Liebe und nochmals Liebe. Gott möchte seine Liebe zu unserem Lebensraum machen, in dem wir uns die ganze Zeit aufhalten, in dem wir „wandeln“, wie Martin Luther es so schön übersetzt hat, zu einem Lebensraum, in dem wir nicht gegenteiligen Prägungen ausgesetzt sind, sondern uns immer mehr auf ihn, den Vater, fokussieren können, um von ihm immer mehr dadurch zu lernen, dass wir ihn nachahmen.

Wie können wir Gott nachahmen, wie können wir ihn die ganze Zeit vor Augen haben? Paulus macht es uns hier ganz klar: Wir können und sollen auf seinen Sohn Jesus Christus schauen, darauf, wie sehr er uns geliebt hat, so sehr, dass er sein Leben für uns am Kreuz geopfert hat. Das ist die Prägung, die wir immer wieder neu und immer stärker von Jesus Christus empfangen dürfen: Er sagt zu dir ganz bedingungslos: Ich liebe dich, du bist für mich so unendlich wertvoll, dass ich für dich mein Leben in den Tod gegeben habe! Du musst dir deinen Wert nicht dadurch sichern, dass du darauf schielst, was die anderen alle machen, damit du sie nachahmst und deshalb von ihnen Anerkennung erfährst. Du bist in den Augen deines Herrn geliebt und wertvoll, noch bevor du selber auch nur irgendetwas getan hast. Was für eine gute Nachricht gerade auch für diejenigen, die in ihrem Leben aus ihrer Kindheit immer wieder dies mitbekommen haben, dass sie nichts wert seien, dass sie nicht gut genug seien, dass sie doch nur eine Belastung seien! In Gottes Augen stehst du ganz anders da, hast für ihn einen unendlichen Wert, viel höher noch, als du selber dir ihn zubilligen würdest.

Wie sieht das für uns ganz praktisch aus, wie können wir den Herrn immer vor Augen haben und uns so von ihm prägen lassen? Es sieht konkret so aus, dass wir immer wieder neu auf das hören, was er uns in seinem Wort zu sagen hat. Da werden wir in unserer heutigen Zeit mit all den technischen Möglichkeiten, die sie bietet und die wir ja auch als Christen gerne in Anspruch nehmen dürfen, überflutet mit allen möglichen Informationen und Meinungen. Doch was heute noch unumstößlich und richtig zu sein scheint, wird morgen vielleicht schon ganz anders dargestellt. Wie wichtig ist es da, dass wir stets auf den Herrn blicken, uns von seinem Wort leiten lassen – und das heißt: uns von seiner Liebe leiten lassen. Denn die bleibt immer gleich, die ändert sich nicht.

Ja, das ist das Allerwichtigste, das wir aus der Nachahmung Gottes lernen können: Dass wir niemals aufhören zu lieben. Gott hat niemals aufgehört, uns zu lieben, hat schließlich sogar seinen eigenen Sohn für uns am Kreuz sterben lassen, nur um uns deutlich zu machen, dass seine Liebe kein Ende hat. Und darum soll und kann diese Liebe tatsächlich auch unser Leben im Alltag prägen, dass wir nicht um uns selber, um unsere Bedürfnisse kreisen, dass wir nicht auf Kosten anderer leben oder unsere Witze über sie reißen. Je mehr wir auf den gekreuzigten Christus und auf seine Liebe schauen, desto weniger Platz ist für andere Einflüsse in unserem Leben, die Christus und seiner Liebe widersprechen, ja desto mehr werden wir dazu bereit, Menschen auch dann noch mit Liebe zu begegnen, wenn sie uns in unserem Leben enttäuscht haben und so gar nicht liebenswert erscheinen.

Wir leben gerade jetzt in einer Zeit, in der die Corona-Pandemie immer mehr Menschen dazu veranlasst, nur noch um sich selber zu kreisen. Der Optimismus, der anfänglich verbreitet wurde, dass diese Pandemie das Beste aus dem Menschen mobilisiert, hat sich nur sehr begrenzt bewahrheitet. Nein, die Reaktion, dass wir nur an uns selber und an unseren Vorteil denken, die liegt uns Menschen viel näher. Was für ein heilsames Korrektiv ist da der immer neue Blick auf den gekreuzigten Christus, der sich für uns hingegeben hat. Hingabe statt Egotrip, das können wir lernen, wenn wir Gott nachahmen, wenn unsere Augen stets auf den Herrn sehen, Hingabe, die nicht danach fragt: Was bringt mir das? Sondern die fragt: Was bringt das den anderen? Denn Christus hat mir doch schon alles gebracht, was ich brauche, hat mich doch schon hineingezogen in die Liebe, die ihn mit seinem Vater verbindet.

Ja, schauen wir gerade jetzt in diesen Wochen der Fastenzeit besonders intensiv auf den Herrn, dass wir gar nicht mehr anders können, als ihn nachzuahmen! Nein, unser Herr trägt uns gegenüber keine Maske, er blickt uns ganz offen an – und dann sehen wir in seinem Gesicht, was ihn bewegt: Liebe, Liebe und noch einmal Liebe – ganz unverhüllt. Ja, damit lässt sich auch ein weiteres Corona-Jahr noch einmal gut durchhalten! Amen.

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