Erste Fastenpredigt zum Thema „Leiden“: Leiden – Folge der Sünde | Mittwoch nach Invokavit | Pfr. Dr. Martens

In der vergangenen Woche hat das Bundesverfassungsgericht unseres Landes entschieden, dass es ab jetzt in Deutschland nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch ein Recht auf Sterben gibt und dass der deutsche Staat dieses Recht auch durchsetzen muss. Er darf, muss aber nicht Maßnahmen ergreifen, wenn auf Menschen Druck ausgeübt wird, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Nun ist das Thema der Sterbehilfe nicht das Thema dieser Serie von Fastenpredigten; aber das Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht zugleich etwas deutlich, was unser Thema in einer ganz besonderen Weise beleuchtet: Es zeigt nämlich, wie sich in unserer Gesellschaft unser Verhältnis zum Thema „Leiden“ verändert hat: Frühere Generationen gingen selbstverständlich davon aus, dass Leiden zu unserem Leben dazugehört, ja, dass es sogar eine Bedeutung für uns haben kann. Doch heutzutage gilt nunmehr das Motto: Vermeidung von Leid um jeden Preis – und sei es um den Preis des selbstgewählten Todes. Wer diesem Gedanken der Leidensvermeidung um jeden Preis nicht zu folgen vermag, gilt als Zyniker, als völlig rückständig. Nun sollten wir auf keinen Fall über Menschen richten, für die ihr persönliches Leid so unerträglich erscheint, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wohl aber sollten wir miteinander darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft wir heute leben, der es offenbar so gut geht, dass sie davon ausgeht, dass sich Leid einfach beseitigen lässt.

Und wo man dann zu ahnen beginnt, dass das nicht so einfach möglich ist, bricht mit einem Mal die Panik aus, so erleben wir es in diesen Tagen und Wochen in unserem Land angesichts der Meldungen über das Corona-Virus. Da mag die statistische Wahrscheinlichkeit noch so gering sein, sich mit diesem Virus zu infizieren oder gar daran zu sterben – schon allein der Gedanke daran, dass da Leid in mein Leben hineinbrechen könnte, das ich nicht einfach schnell wieder beseitigen kann, ist für viele Menschen offenbar so unerträglich, dass sie anfangen durchzudrehen.

Ja, es ist gut und sinnvoll, dass wir uns in den Fastenpredigten dieses Jahres mit dem Thema „Leiden“ befassen. Schon allein der Name „Passionszeit“, auf Deutsch „Leidenszeit“, gibt dazu ja Anlass. An vier verschiedenen Stellen wollen wir zu diesem Thema in die Tiefe gehen, wollen miteinander bedenken, wie wir von der Heiligen Schrift her das Leiden verstehen können.

Heute soll es um das Thema gehen: Leiden – eine Folge der Sünde.

Schon allein die Formulierung mag bei so manchem Empörung auslösen – und das auch nicht ganz zu Unrecht. Es gibt tatsächlich Erklärungsversuche für Leiden, die einfach nur geschmacklos und abstoßend sind, wenn man das Leid, das Menschen erfahren, auf irgendein persönliches Fehlverhalten zurückführt oder Naturkatastrophen als Strafe Gottes für das Fehlverhalten eines bestimmten Volkes deutet. Ebenso ist die Behauptung, dass Leiden eine Folge der Sünde sei, nicht so gemeint, wie es in fernöstlichen Religionen gedeutet wird, wo Leiden als Strafe für das Fehlverhalten in einem früheren Leben verstanden wird. Auch da gilt letztlich wieder: Der Leidende hat selbst schuld; wenn er sich in seinem früheren Leben besser verhalten hätte, dann würde es ihm jetzt in diesem Leben auch besser gehen! Ja, wie unfassbar zynisch ist dieses Karma-Denken!

Natürlich gibt es aber auch Zusammenhänge zwischen menschlichem Fehlverhalten und darauffolgendem Leiden: Wenn ein Mann seine Frau und seine Kinder verprügelt und daraufhin seine Kinder nicht mehr sehen darf, dann mag er ernsthaft darunter leiden – aber eingebrockt hat er sich das ganz und gar selber. Wenn ein Mensch sein ganzes Leben lang raucht und dann an Lungenkrebs erkrankt, ist das traurig und tragisch – aber eingebrockt hat er sich das ganz und gar selber. Noch viele andere Beispiele könnte man nennen, und auch in der Heiligen Schrift versucht etwa das Buch der Sprüche, solche Zusammenhänge zwischen menschlichem Fehlverhalten und folgendem Leid zu erkennen und zu beschreiben. Doch schon im Alten Testament selber wird zugleich so eindringlich wie kaum irgendwo sonst davor gewarnt, automatisch aus dem Leiden eines Menschen Rückschlüsse auf früheres Fehlverhalten zu ziehen: Im Buch Hiob wird geschildert, wie Hiob unendliches Leid ertragen muss – viel zu viel für einen Menschen. Und dann kommen auch noch seine frommen Freunde an und versuchen ihm klarzumachen, dass er an seinem Leiden doch selber schuld sein müsse. Doch Hiob widerspricht leidenschaftlich: Nein, sein Leiden ist nicht Folge seiner Sünde; dafür ist Gott allein verantwortlich – und der gibt am Ende des Buches tatsächlich dem Hiob Recht, macht deutlich, dass es einen solch einfachen Zusammenhang zwischen dem Handeln des Menschen und seinem Ergehen in Wirklichkeit nicht gibt.

Und dennoch bleibt das Thema der heutigen Predigt: Leiden – eine Folge der Sünde.

Wir haben es gerade am letzten Sonntag in der Predigt gehört, wie Gott selber das Leiden als Folge der Abwendung der ersten Menschen von Gott, eben als Folge ihrer Sünde bestimmt: Ihr Leben ist fortan nicht mehr paradiesisch, und es ist vor allem begrenzt, begrenzt durch den Tod. Ja, der Tod, die Vergänglichkeit des Menschen, ist der tiefste Grund für alles Leid, das wir Menschen erfahren. Und dieser Tod ist, so spüren wir es selber mit Recht ganz genau, eben nicht bloß einfach ein natürlicher Prozess, sondern Gericht Gottes, Folge der Abwendung des Menschen von Gott. Ja, diese Welt ist nicht gut und lässt sich auch mit noch so viel Anstrengung nicht wieder in ein Paradies verwandeln, erst recht nicht dadurch, dass man Menschen, die einem nicht passen, erschießt oder in Arbeitslager steckt, wie es sich so mancher Politfunktionär heute wieder erträumt. Wir bekommen den Tod nicht aus dieser Welt, wir bekommen ihn nicht aus unserem Leben – und damit bekommen wir auch das Leid nicht aus unserem Leben weg, auch wenn wir es eine Zeitlang noch so gut zu verdrängen suchen. Ja, diese Welt lässt sich auch aus diesem Grunde nicht wieder in ein Paradies verwandeln, dass der Menschen eben nicht mehr gut ist, sondern böse im Grunde seines Herzens. Leid gibt es in dieser Welt gerade auch deshalb, weil Menschen immer wieder nur um sich selber kreisen, um ihren eigenen Vorteil, und sich so herzlich wenig dafür interessieren, was für Leid sie damit anderen zufügen. Das gilt dann eben auch für das Leid, das beispielsweise Vertreter unseres Staates unseren Gemeindegliedern zufügen, weil sie sich auf Kosten der Schwächsten der Gesellschaft selber profilieren wollen, nicht dazu bereit sind, sich auch nur ansatzweise in diese Menschen hineinzuversetzen, keine Scheu haben, sie von daher auch in den Tod abzuschieben.

Nein, wir bekommen das Leid nicht aus dieser Welt, aus unserem Leben heraus, weil wir die Sünde nicht aus unserem Leben herausbekommen, die Trennung von Gott, das ewige Kreisen um uns selbst. Als Christen wissen wir das und verfallen gerade darum nicht in Panik oder Verzweiflung, wenn wir mit dem Leiden konfrontiert werden. Ja, es ist und bleibt Teil unseres Lebens, dem wir uns in der Tat nur dadurch entziehen könnten, dass wir unserem eigenen Leben ein Ende setzen – und damit das Leid anderer Menschen noch weiter vergrößern. Ja, nüchtern sehen wir Christen, dass wir Leiden nicht einfach beseitigen können – und im Wissen eben darum versuchen wir dann natürlich, Leiden zu lindern, Menschen in ihrem Leid beizustehen, soweit uns dies irgend möglich ist.

Ja, das können wir, indem wir immer wieder auf ihn, unseren Herrn Jesus Christus, blicken, der mit seinem Tod am Kreuz unsere Sünde auf sich genommen und weggetragen hat, damit am Ende unseres Lebens mit all seinem Leiden eben nicht einfach das Nichts oder der ewige Tod steht, sondern das ewige Leben, in dem unser jetziges Leid einmal endgültig ein Ende finden wird. Ja, es ist bezeichnend, dass Jesus unsere Schuld gerade dadurch weggenommen hat, dass er selber Leiden auf sich genommen hat, dass er vor diesem Leiden nicht weggelaufen ist, sondern es getragen hat in seiner ganzen Entsetzlichkeit. Ja, am Kreuz Jesu erkennen wir am allertiefsten den Zusammenhang von Leiden und Sünde: Es ist Jesus, der das Leiden als Strafe für die Sünde auf sich nimmt – damit unser Leben eben nicht im Leiden endet, sondern in einer Welt, in der für Leiden endgültig kein Platz mehr sein wird. Jesu Leiden erspart uns nicht das Leiden in unserem Leben. Aber es nimmt dem Tod, der Ursache allen Leidens, seine letzte Macht, lässt uns darum als Christen immer wieder singen: „Dennoch bleibst du auch im Leide Jesu, meine Freude.“ Amen.

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