Hebräer 12,1-3 | Palmarum | Pfr. Dr. Martens

„Wie lange soll das denn noch alles dauern?“ Den meisten von euch werden solche oder ähnliche Gedanken in den letzten Tagen und Wochen durch den Kopf gegangen sein. Mehr als ein Jahr ist es nun schon her, seit wir hier in unserem Land im absoluten Ausnahmezustand leben, seit nichts mehr so ist, wie es einmal früher war und ganz selbstverständlich erschien. Zunächst hatten wir ja noch die Illusion, dass alles in ein paar Wochen vorbei sein würde, dann wurden aus den Wochen Monate, und als wir gerade die Hoffnung gehegt hatten, wieder Richtung Normalität zu gelangen, ging alles wieder von vorne los, wurde noch viel schlimmer als beim ersten Mal. Im März, da würde endlich das Schlimmste vorbei sein, so wurde uns gesagt – und jetzt haben wir Ende März, und es wird uns klar, dass das Schlimmste vermutlich noch vor uns liegt. Ob es überhaupt noch einmal ein Ende geben wird? Langsam habe ich da auch meine Zweifel, ob ich es noch einmal erleben werde, dass wir jemals noch wieder eine solche Normalität erleben werden, wie wir sie bis zum Jahr 2019 hatten, ob nicht irgendwelche Viren und ihre Mutationen uns bei unseren Versuchen, irgendwann wieder zur Normalität zurückzukehren, nicht immer noch einen Schritt voraus sein werden. Und selbst wenn es doch gelingen sollte, die Pandemie zu beenden – was für Schäden werden sich dann erst danach so richtig herausstellen, Schäden an den Seelen von Menschen, die jetzt schon nicht mehr können und doch immer noch weiterlaufen müssen? Werden wir das jemals wieder aus dem Kopf bekommen, andere Menschen zunächst einmal als potentielle Bedrohung unserer Gesundheit anzusehen, denen man möglichst nicht zu nahe kommen sollte?

Ja, erschöpft sind wir seelisch, vielleicht dazu auch körperlich. Aber wir merken zunehmend, dass uns dieser Dauer-Lockdown auch geistlich allmählich an unsere Erschöpfungsgrenzen bringt. Ja, natürlich hat diese Corona-Pandemie auch eine geistliche Dimension, die wir nicht unterschätzen sollten, natürlich ist sie auch eine Glaubensprüfung der besonderen Art. Wenn man sich den Verlauf der Wellen anschaut, dann fällt ja auf, dass die Wellen sich immer genau vor den großen Festen der Kirche aufbauen: Letztes Jahr ging es in der Fastenzeit kurz vor Ostern los, was schließlich dazu führte, dass wir die Heilige Woche und das Osterfest im letzten Jahr überhaupt nicht in der Kirche feiern konnten. Dann baute sich die zweite Welle in der Adventszeit kurz vor Weihnachten auf. Und nun baut sich die dritte Welle wieder kurz vor Ostern auf. Ich kann das mittlerweile nicht mehr als Zufall ansehen; da wird gerade auch unser Glaube durch dieses Virus in die Mangel genommen oder durch den, der da im Hintergrund steht – und dabei habe ich nun noch gar nicht von denen gesprochen, die durch dieses Virus geliebte Menschen verloren haben oder selber schwerkrank geworden sind. Und selbst wenn wir gesundheitlich von allem verschont geblieben sind – das bleibt nicht ohne Folgen, wenn wir so lange die Gemeinschaft in der Kirche zurückfahren müssen, wenn wir so lange nur ein Notprogramm in der Kirche aufrechterhalten können. Da ist die Gefahr groß, dass unser Glaube ermattet, dass wir allmählich den Mut sinken lassen.

Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Da wendet sich der Verfasser des Hebräerbriefs nämlich auch an Christen, die allmählich in ihrem Glauben matt werden und den Mut sinken lassen, wie er es hier formuliert. Natürlich war es damals nicht das Corona-Virus, was diese Christen in ihrem Glauben erlahmen ließ; doch was der Hebräerbrief den Christen damals schrieb, kann auch uns in unserem geistlichen Corona-Blues eine große Hilfe sein:

Da leitet uns der Hebräerbrief zunächst einmal dazu an, unseren Horizont zu erweitern. Gerade jetzt in diesem Dauer-Lockdown stehen wir in der Gefahr, nur noch auf uns selbst und auf unsere Probleme zu blicken und unsere Erfahrungen gar nicht mehr in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Doch genau das macht der Hebräerbrief: In dem Kapitel, das unserer Predigtlesung vorangeht, schildert er ausführlich die Glaubenserfahrungen, die Menschen im Alten Testament gemacht haben, schildert auch, wie viel Menschen, die an Gott festgehalten haben, um ihres Glaubens will gelitten haben. Und diese Geschichte von Leiden und Verfolgung um des Glaubens willen, die hat sich in den letzten 2000 Jahren nun immer noch weiter verlängert – bis in die Gegenwart hinein. Ja, wenn wir das Gefühl haben, in einer ganz schrecklichen Lage zu sein, dann tun wir gut daran zu überlegen, in was für einer Lage denn so viele Christen in ihrem Leben waren. Als ich jetzt in den Wintermonaten vorne am Altar im Durchzug immer wieder mal schockgefrostet wurde, da habe ich immer wieder an die Christen gedacht, die in den Gulags im Norden Sibiriens völlig anderer Kälte ausgesetzt waren, habe an die Christen gedacht, die auch hier in Deutschland noch vor einigen Jahrzehnten die Winter in den Konzentrationslagern in dünnster Bekleidung überstehen mussten. Leiden, Verfolgung – das sieht wahrlich anders aus als das, was wir zurzeit in diesem Lockdown erleben. Und diese Christen, die vor uns ganz anderes erlitten haben, die sind ja jetzt nicht einfach tot, sondern die feiern mit uns gemeinsam die Gottesdienste, und sie rufen uns in jedem Gottesdienst zu: Halt durch, es lohnt sich, bei Christus zu bleiben, ganz gleich, was dich das auch in deinem Leben kosten mag! Gib nicht auf, hör nicht auf, dem Ziel entgegenzulaufen! Wie wunderbar, dass wir diese Wolke der Zeugen in jedem Gottesdienst um uns wissen dürfen!

Ein Zweites macht uns der Hebräerbrief hier deutlich: Wenn wir uns jetzt in diesen Corona-Zeiten mit unserem Glauben schwertun, wenn wir den Eindruck haben, dass wir in unserem Glauben müde werden, dann tun wir gut daran, uns darauf zu besinnen, was wir eigentlich in unserem Leben an unnützen Lasten mit uns herumschleppen. Mit den Worten des Hebräerbriefs: „Lasst uns ablegen alles, was uns beschwert“. Bei all dem Schweren, was wir jetzt in diesen Wochen und Monaten erfahren, mag es ja sehr wohl sein, dass wir zugleich auch lernen, was wir in unserem Leben wirklich brauchen – und worauf wir eigentlich auch ganz gut verzichten können. Es mag sein, dass wir in diesen Wochen und Monaten lernen, worüber es sich wirklich aufzuregen lohnt und worüber nicht. So manches, woran wir uns früher geklammert haben, hat sich mittlerweile dann doch als ziemlich unwichtig herausgestellt. Und dafür haben wir vielleicht auch umgekehrt neu gelernt, was unser Leben denn nun wirklich trägt, wenn das Corona-Virus so viel aus der Hand schlägt. Ja, so kann auch eine solch schwierige Zeit uns dazu helfen, uns im Glauben wieder neu auf das Wesentliche in unserem Leben zu konzentrieren.

Aber das Wichtigste, was uns der Hebräerbrief hier ans Herz legt, ist natürlich dies: „Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens!“ Darum geht es, dass wir unseren Glauben gerade jetzt in diesen schwierigen Wochen und Monaten wieder neu ganz auf Jesus Christus ausrichten. Das bedeutet zum einen, gerade auch jetzt in dieser Heiligen Woche, die nun vor uns liegt, dass wir uns wieder neu darauf besinnen, was Jesus Christus selber eigentlich uns zugut durchlitten hat. Der hat nicht nur darauf verzichtet, jede Woche ins Schwimmbad oder ins Restaurant zu gehen; der hat unendlich mehr für uns getan. Der ist aus der Freiheit des Lebens im Himmel freiwillig in den irdischen Lockdown gegangen, hat sich immer weiter in seinen Möglichkeiten einengen lassen, bis er schließlich im kompletten Lockdown gelandet ist – angenagelt an Händen und Füßen am Kreuz. Dieser Jesus Christus kann uns verstehen, wenn wir jetzt in diesen Tagen und Wochen an die Grenzen unserer Kräfte kommen, wenn es uns immer schwerer fällt, immer noch dranzubleiben an ihm. Ja, gerade dazu ist er doch ganz und gar einer von uns geworden.

Doch wenn wir auf ihn, Jesus Christus, blicken, dann sollen wir natürlich vor allem damit auch auf das Ziel schauen, dem wir in unserem Leben als Christen entgegengehen. Unsere Hoffnung, die wir als Christen haben, besteht ja nicht darin, dass irgendwann mal genügend Leute in unserem Land geimpft sind und der Lockdown aufgehoben werden kann. Unsere Hoffnung besteht nicht darin, dass wir irgendwann mal wieder so richtig werden Party machen können. Sondern unsere Hoffnung reicht doch viel weiter: Wir wissen, dass wir mit unserem ganzen Leben unterwegs sind zu dem Ziel, für immer in der Gemeinschaft mit Jesus Christus zu leben. Und von diesem Ziel her bekommt all das, was wir hier und jetzt in unserem Leben erfahren, noch einmal einen ganz anderen Sinn: Der Lockdown, den wir jetzt erfahren, ist für uns Christen doch niemals einfach verlorene Zeit. Auch dieser Lockdown bringt uns Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat dem Leben in der sichtbaren Gemeinschaft mit unserem Herrn Jesus Christus näher. Wichtig ist einzig und allein, dass wir eben auch in diesen schwierigen Zeiten unser Leben immer wieder auf Christus ausrichten, dass wir alles, was wir erleben, diesem einen Zweck dienen lassen: Dass es uns Christus selber näherbringt.

Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Ja, genau darum geht es jetzt in dieser Heiligen Woche, die nun vor uns liegt: Dass wir uns in den vielen Gottesdiensten, die wir nun in den kommenden Tagen, so Gott will, feiern werden, immer tiefer ins Herz prägen lassen, was Christus für uns getan hat, dass die Freude und der Dank immer größer werden, die Freude und der Dank, dass Christus alles getan hat, damit unser Leben nicht im ewigen Lockdown des Todes endet, sondern wir aus dem Lockdown des Todes in die Freiheit des ewigen Lebens gelangen. Diese Ausrichtung auf das Ziel, auf ihn, Christus, ist der beste Wachmacher gegen die Corona-Müdigkeit, die uns in diesen Wochen überkommen mag: Nein, wir sind doch in Wirklichkeit als Christen gar nicht eingeschlossen; uns öffnet sich jetzt schon immer wieder der Himmel, wenn wir uns versammeln, um miteinander den Leib und das Blut unseres Herrn zu empfangen. Da müssen wir nicht länger warten, da sind wir schon hier und jetzt am Ziel, bei ihm, Christus, mitten in all den Schwierigkeiten unseres täglichen Lebens. Ja, mit diesen Erfahrungen hier im Gottesdienst werden wir den Lockdown durchhalten, werden wir nicht matt werden, sondern von Christus immer wieder aufgebaut werden und nach oben blicken. Es geht doch der Freiheit entgegen! Amen.

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