Hebräer 13,1-3 | 7. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir immer mehr über die vielfältigen Auswirkungen des Corona-Virus auf den Körper eines Menschen gelernt. Da kann einem schon unheimlich werden, wenn man sich vorstellt, was dieses Virus alles in uns anzustellen vermag. Doch die Auswirkungen dieses Virus reichen eben noch sehr viel weiter als nur bis in die Lunge und ins Gehirn. Sie reichen weiter bis in das Leben unserer Gemeinde hinein, behindern dieses Leben in einer Weise, wie wir es vor einigen Monaten noch für undenkbar gehalten hätten. Ja, unser Leben in der Gemeinde war gekennzeichnet durch sehr intensive Gemeinschaft – zunächst und vor allem natürlich hier in unseren Gottesdiensten, aber eben auch in so vielem um unsere Gottesdienste herum: beim gemeinsamen Essen, bei den gemeinsamen Gesprächen, bei den vielen Möglichkeiten, diese Gemeinschaft bei Fahrten, Freizeiten und anderen Veranstaltungen zu erfahren. Ganz selbstverständlich schien es uns, dass wir einander sehen, ja einander in den Arm nehmen können. Und jetzt leben wir auf Abstand zueinander, mit solch einem Abstand, der viele Formen von Gemeinschaft in unserer Gemeinde überhaupt nicht mehr möglich macht, der auch so viele Formen des Dienstes an anderen Menschen, die für uns immer selbstverständlich waren, zurzeit nicht möglich macht.
Und in dieser besonderen Situation hören wir nun die Worte unserer heutigen Predigtlesung, die nicht ich mir ausgesucht habe, sondern die uns tatsächlich als Predigtlesung für diesen Sonntag vorgegeben ist. Geradezu beklemmend aktuell klingen die Worte, die wir dort hören, so, als wären sie extra für uns in unsere Situation hinein geschrieben worden:
„Bleibt fest in der brüderlichen Liebe“, schreibt der Hebräerbrief zunächst einmal. Nein, er behauptet nicht, dass es dort in den Gemeinden, an die er schreibt, gar keine brüderliche Liebe gibt, dass er die Christen dort erst einmal darüber aufklären muss, dass ein anständiger Christ gefälligst auch zu lieben hat. Nein, das ist ganz klar und selbstverständlich: Wenn Menschen die Liebe Gottes in seinem Sohn Jesus Christus erfahren, dann wirkt sich das auch im Umgang miteinander in der Gemeinde und darüber hinaus, dann ist das Zusammenleben in der Gemeinde eben auch von dieser Liebe geprägt. Das ist normal, nachvollziehbar und verständlich. Und doch ist eben auch solche brüderliche Liebe – dass die Bibel hier keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen macht, muss ich wohl nicht extra erwähnen – und doch ist eben auch solche brüderliche Liebe im Zusammenleben der christlichen Gemeinde Belastungen ausgesetzt. Solch eine Belastung kann darin bestehen, dass man sich zu lange zu nahe ist, und irgendwann die Reibungen, die dadurch entstehen, stärker sind als die Liebe, die doch eigentlich das Zusammenleben in einer Gemeinde bestimmen sollte. Wir sind nun noch eine sehr junge Gemeinde, in der sich die Gemeindeglieder zum größten Teil erst wenige Jahre kennen. Aber gerade wenn auch wir allmählich auf dem Weg zu einer „normalen“ Gemeinde sind, werden wir die Mahnung des Hebräerbriefs immer wieder nötig haben: Bleibt, bleibt fest in dieser brüderlichen Liebe! Und diese Mahnung gilt umgekehrt eben auch gerade für diese ungewöhnliche Corona-Zeit, in der wir so weit zueinander auf Abstand bleiben, dass es mit der brüderlichen Liebe schwierig wird, weil wir einander gar nicht mehr recht erreichen. So sehr es auf der einen Seite wichtig ist, dass wir uns an bestimmte Regeln wie das Abstandhalten jetzt in der Corona-Zeit gewöhnen, so wichtig ist es auf der anderen Seite, dass wir uns nicht daran gewöhnen, zu den Geschwistern in der Gemeinde auf Abstand zu bleiben, sie vielleicht kaum noch zu sehen, kaum noch etwas von ihrem Geschick zu erfahren. Bleibt fest in der brüderlichen Liebe – das heißt konkret, dass wir immer wieder auch versuchen, Verbindung zu halten mit anderen Gemeindegliedern, nein, nicht nur mit unseren engsten Freunden, sondern eben auch mit den anderen, denen die brüderliche Liebe doch genauso gelten soll. Ja, das wird eine Bewährungsprobe für uns alle, für unsere Gemeinde werden, ob wir diese brüderliche Liebe auch noch in drei, in sechs, in neun Monaten durchhalten werden, bis, Gott geb’s, wir auf diesen Abstand endlich irgendwann werden verzichten können!
Nun klingt das mit der Liebe erst einmal sehr allgemein. Wer sollte etwas dagegen haben, dass man in einer Gemeinde brüderliche Liebe praktiziert!? Doch der Hebräerbrief lässt uns eben nicht im Allgemeinen und Unbestimmten, sondern nennt zwei ganz konkrete Anwendungsfelder der Liebe, die für uns Christen von besonderer Bedeutung sein sollten:
„Gastfrei zu sein vergesst nicht!“ – So schreibt er hier zunächst. Damit ist nicht gemeint, dass die Gemeindeglieder, die sich schon seit vielen Jahrzehnten kennen und miteinander befreundet sind, sich nun noch häufiger gegenseitig zum Kaffeeklatsch einladen sollen. Sondern gastfrei zu sein – das bedeutete damals: Christen, die unterwegs auf Reisen waren, bei sich unterzubringen, auch wenn man sie eigentlich überhaupt nicht kannte. Doch Christen, die unterwegs waren, waren auf solche Gastfreundschaft einfach angewiesen. Und das funktionierte auch tatsächlich, dass man einander zumindest aus der Entfernung kannte und dann mit einem Empfehlungsbrief des Gemeindeleiters in eine andere Stadt gehen konnte und dort Übernachtungsmöglichkeiten fand. Für die Gastgeber blieb das natürlich immer mit einem gewissen Risiko verbunden: Waren das wirklich ernsthafte Christen, die da vor der Tür standen, oder werden wir da jetzt von jemandem ausgenutzt? Doch der Hebräerbrief fordert die Christen dazu auf, genau dieses Risiko einzugehen, unbekannte Menschen aufzunehmen, weil das zum Verhalten eines Christen dazugehört.
Genau an diese Weisung des Hebräerbriefs haben wir uns in unserer Gemeinde in den vergangenen Jahren sehr bewusst gehalten: Wie viele uns eigentlich unbekannte Menschen haben in den vergangenen Jahren bei uns vor der Tür gestanden und um Aufnahme gebeten! Nicht immer konnten wir ganz nachvollziehen, wo sie eigentlich herkamen. Aber die Weisung des Hebräerbriefs war uns immer klar: Gastfreundschaft ist angesagt, auch wenn damit ein gewisses Risiko verbunden ist. Und diese Gastfreundschaft konnte dann auch immer wieder einmal 18 Monate dauern, wenn das Leben des Gastes, den wir aufgenommen hatten, in Gefahr war. Doch solche Gastfreundschaft, die wir anderen Menschen, besonders auch anderen Christen gewähren, kommt gerade bei Politikern, die gerne einmal Kreuze an die Wände ihrer Behörden hängen lassen, nicht gut an: Wo christlicher Glaube mehr ist als Brauchtums- und Heimatpflege, da wird er gerade auch für politisch Verantwortliche anstößig, da möchte man dann am liebsten solche Worte aus der Heiligen Schrift streichen, weil solche Gastfreundschaft vor allem gegenüber bedrohten christlichen Konvertiten in unserem Land nicht erwünscht ist. Doch wir wissen, dass wir im Zweifelsfall mehr auf Gottes Wort zu hören haben als auf Weisungen von Politikern, die diesem Wort Gottes widersprechen. Und so haben auch wir schon die Erfahrung machen dürfen, die der Hebräerbrief hier beschreibt, dass auch in unsere Mitte schon so mancher Engel gekommen ist, dass wir nach der Gewährung der Gastfreundschaft selber die Beschenkten und gar nicht so sehr die Wohltäter waren.
Und noch ein zweites Thema spricht der Hebräerbrief hier sehr direkt an: „Denkt an die Gefangenen!“ Heutzutage genießt man nicht unbedingt einen guten Ruf, wenn bekannt wird, dass man eine Zeitlang im Gefängnis verbringen musste. Damals konnte es schon sehr viel eher ein Markenzeichen eines Christen sein, dass er verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er seinen Glauben ganz konsequent praktizierte. Ach, was sage ich „Damals“: Noch nie saßen so viele Christen in vielen Ländern dieser Welt um ihres Glaubens willen im Gefängnis wie heute, ja wie gerade jetzt in diesem Jahr 2020! Damals kümmerten sich die Christen ganz konkret um die Gefangenen, dass sie zu ihnen hingingen und sie im Gefängnis besuchten. Heutzutage ist es fast unmöglich, einen Christen noch im Abschiebegefängnis zu besuchen, wenn staatliche Richter festgestellt haben, dass ihm eine Rückkehr zum Islam und damit eine Abschiebung in sein Heimatland zuzumuten ist.
Wenn der Hebräerbrief uns dazu auffordert, an die Gefangenen zu denken, dann heißt das tatsächlich ganz konkret, dass wir in unserer Fürbitte, in unseren täglichen Gebeten an die Christen im Iran denken, die zu dieser Stunde in den Gefängnissen ihres Landes sitzen und dort oft auf gefoltert werden, auch wenn der Präsident des BAMF es schlichtweg leugnet, dass es im Iran so etwas wie eine Christenverfolgung gibt. An die Gefangenen zu denken, das heißt, dass wir für die aus Europa abgeschobenen Christen beten, die jetzt in Afghanistan irgendwo versteckt leben und jeden Tag um ihr Leben fürchten müssen. An die Gefangenen zu denken, das heißt, dass wir für die konvertierten Christen beten, die in einigen Ländern in Europa in geschlossenen Lagern oft über viele Jahre gefangen gehalten werden – so lange, bis sie sich dazu bereit erklären, ihren Glauben aufzugeben und in ihr Heimatland zurückzukehren. Denkt an die Gefangenen – das ist eine hochaktuelle Weisung des Hebräerbriefs. Sie bedeutet auch, dass wir für die Christen beten, die im Kirchenasyl leben müssen, weil Deutschland sie auf dem Weg einer Kettenabschiebung in den sicheren Tod in ihrem Heimatland befördern will. Nach den gesetzlichen Bestimmungen müsste dieses Kirchenasyl eigentlich nach sechs Monaten beendet sein, doch die Behörden unseres Staates übertreten ganz bewusst die Gesetze unseres Landes, um diese Christen zu schikanieren, um die Zeit, in der sie das Kirchgebäude nicht verlassen dürfen, auf 18 Monate, ja jetzt auf 24 Monate oder noch weiter zu verlängern. „Denkt an die Gefangenen“ – ja, das ist eine Aufforderung, an das Schicksal vieler Christen hier in unserem Land zu denken, die um ihr Leben zittern müssen, die von unserem Staat psychisch misshandelt werden. Steht diesen Christen bei, stellt euch auf ihre Seite, lasst sie erfahren, dass sie nicht allein sind! So vieles, was die Christen damals in Rom erfuhren, wiederholt sich heute in unserem Land. Verschließen wir nicht die Augen davor, sondern leiden wir mit diesen Menschen mit, als wären wir Mitgefangene. Ja, das ist eine Aufforderung gerade an diejenigen, die sich kaum vorstellen können, dass auch hier in unserem Land noch einmal eine andere Welt existiert, mit der der Normalbürger kaum in Kontakt kommt, eine Welt, in der Menschen in Angst und Verzweiflung leben, nicht verstehen können, dass das Recht auf Religionsfreiheit für sie nicht gelten soll. Ja, denkt an die Misshandelten, an all die vielen geflüchteten Menschen, die in unserem Land mit Zersetzungsmethoden wie weiland durch die Stasi kaputtgemacht werden, denkt an sie und stellt euch einfach mal vor, wie es euch ergehen würde, wenn ihr in der Situation dieser Christen in unserem Land wärt!
Nein, geben wir uns nicht mit einigen schönen allgemeinen Phrasen zum Thema „Liebe“ zufrieden, sondern lassen wir uns von Gottes Wort leiten, Gastfreundschaft und Fürsorge für die Gefangenen ganz ernst zu nehmen. Denn wir haben ja eine wunderbare Verheißung unseres Herrn Jesus Christus: Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen; ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich besucht. In den Menschen, die bei uns vor der Tür stehen und um Hilfe bitten, dürfen wir Christus, unseren Herrn, selber erkennen und ihm in diesen Menschen dienen – ihn, der uns nicht von seinem Tisch abweist, sondern uns auch heute wieder an seinem Altar willkommen heißt, uns heute schon einen Vorgeschmack gibt auf das ganz große Fest in Gottes Reich, in dem es einmal keine Fremden mehr geben wird, auch keine zynischen Urteile über den Glauben anderer, auch keine Angst vor der Abschiebung in den Tod. Hier am Altar dürfen wir die Gastfreundschaft unseres Herrn erleben, der uns bei sich aufnimmt und uns bei sich wohnen lässt – nicht nur für ein paar Monate, sondern in alle Ewigkeit. Hier dürfen wir auftanken, dass wir wieder Kraft haben, unsere Türen für andere Menschen zu öffnen und unsere Stimme zu erheben für die, die keine Fürsprecher haben. Und daran soll uns keine staatliche Behörde und auch kein Corona-Virus hindern können. Gott will es so – wie gut! Amen.