Hebräer 13,12-14 | Judika | Pfr. Dr. Martens

Und wieder bleiben die Türen unserer Kirche an einem Sonntag geschlossen. Und wir – wir stehen draußen davor, ausgeschlossen, dürfen nicht hinein, dorthin, wo wir doch eigentlich zu Hause sind, wo das Herz unseres Glaubens schlägt, zum Altar unseres Gottes, der unsere Freude und Wonne ist, wie es im Psalm dieser Woche heißt. Draußen stehen wir, umgeben von einer Welt, die überhaupt kein Verständnis dafür hat, dass Gottesdienste, dass die Feier des Heiligen Mahles für uns so wichtig sein könnte. Klopapier, genügend Nudelpackungen und die Aussicht darauf, in absehbarer Zeit wieder Party machen zu können, diese nervige Zeit einfach vergessen zu können – das ist es, was so vielen Menschen in unserer Umgebung im Augenblick zum Überleben reicht. Doch uns reicht das eben nicht. Es schmerzt uns so sehr, draußen bleiben zu müssen.

Und da hören wir nun heute in der Predigtlesung für diesen Passionssonntag Judika, dass genau dies auch das Geschick Jesu selber gewesen ist, dass er gelitten hat „draußen vor dem Tor“. Was ist damit gemeint?

Mit dem heutigen Sonntag Judika beginnt die Passionszeit im eigentlichen Sinne. Ab heute fällt das „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist“ bei unserem Gebet der Psalmen weg, und unsere Aufmerksamkeit richtet sich ganz auf das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus. Gut tun wir daran, wenn wir gerade jetzt in diesen beiden Wochen bis zum Osterfest die Leidensgeschichte unseres Herrn Jesus Christus, wie sie in den vier Evangelien geschildert wird, in aller Ruhe durchlesen und bedenken, dass sich uns das Leiden und Sterben unseres Herrn wieder neu in unser Herz prägt.

Doch in all dem bleibt natürlich eine Frage ganz entscheidend: Was für einen Sinn hat dieses Leiden und Sterben unseres Herrn, was für einen Sinn hat dieser scheinbar so völlig sinnlose Tod am Kreuz? Wenn wir uns das Neue Testament anschauen, dann stellen wir fest, dass uns dort die Bedeutung des Todes unseres Herrn mit ganz unterschiedlichen Bildern erläutert wird. Doch eines der aussagekräftigsten Bilder ist dabei jenes, das uns der Hebräerbrief hier in den Versen unserer heutigen Predigtlesung vor Augen stellt:

Im 3. Buch Mose, Levitikus, wird beschrieben, wie das Volk Israel einmal im Jahr von allen seinen Sünden gereinigt werden soll: Ein junger Stier und ein Bock sollen als Sündopfer geschlachtet werden; mit ihrem Blut soll die Bundeslade, der Ort der Gegenwart Gottes, besprengt werden. Die Schuld des ganzen Volkes wird gleichsam auf diese Opfertiere gelegt; sie sind sozusagen total verseucht von der Sünde des Volkes. Und von daher mussten diese Opfertiere gleichsam wie Sondermüll anschließend aus dem Lager der Israeliten geschafft werden, mussten dort von einem Mann verbrannt werden „samt Fell, Fleisch und Kot“, wie es im 3. Mosebuch hieß. Und von dem Mann, der diese Entsorgung vornimmt, wird anschließend gesagt, er solle anschließend seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und erst danach wieder ins Lager kommen – Hygienevorschriften, damit das Virus der Sünde nicht wieder ins Lager zurückkommt.

Und mit diesem Sondermüll vergleicht der Hebräerbrief nun unseren Herrn Jesus Christus: Sein Opfertod für die Sünden der Welt fand nicht im Tempel in Jerusalem statt, nicht im Allerheiligsten, sondern draußen vor den Toren der Stadt, auf der Müllkippe von Jerusalem, wo die Hinrichtungen der Schwerverbrecher stattfanden. Jesus war so durchseucht von dem Virus der Sünde aller Menschen dieser Welt, dass man ihn rausschaffen musste auf die Mülldeponie, dass er dort gleichsam entsorgt werden musste. Was für eine schockierend drastische Beschreibung des Todes unseres Herrn Jesus Christus! Und doch zugleich: Was für ein Trost für uns: Wenn du es in deinem Leben wieder und wieder erfährst, wie das Virus der Sünde dein Denken, deine Worte, deine Taten durchsetzt hat, wenn du merkst, wie du selber diesem tödlichen Virus hilflos ausgesetzt bist und dieses Virus niemals selber loswerden oder besiegen kannst: Dann schau auf deinen Herrn Jesus Christus, wie er da draußen vor die Tore der Stadt gebracht wird, wie er dort am Kreuz entsorgt wird. Er hat dort die tödlichen Wirkungen dieses Virus der Sünde auf sich genommen, damit dieses Virus dir nicht den ewigen Tod einbringt, sondern damit du von diesem Virus einmal endgültig geheilt wirst. Was bei Corona unmöglich ist, das geschieht am Kreuz von Golgatha: Ein anderer nimmt die Folgen des Sündenvirus auf sich, damit ich davon frei werde, damit ich für immer leben kann.

Und nun fordert uns der Hebräerbrief dazu auf: „So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen.“ Ja, so sagt der Hebräerbrief, da ist unser Platz als Christen: Ganz am Rande der Gesellschaft, draußen vor, nicht mitten drin. Was für eine Provokation!

Als vor knapp zwei Wochen offiziell alle gottesdienstlichen Veranstaltungen verboten wurden, dauerte es nicht lange, bis die ersten Besserwisser – ich erspare mir hier deutlichere Ausdrücke – auftraten, die sagten, die Kirchen hätten sich damit selber aufgegeben, sie hätten selber damit gezeigt, dass sie eben nicht zu den systemrelevanten Einrichtungen in unserem Staat gehören, ja, sie seien jetzt einfach abgetaucht, statt gerade jetzt sich öffentlich zur Corona-Krise zu äußern.

Doch es ist gerade nicht die Aufgabe der Kirchen, sich jetzt in dieser Zeit als besonders systemrelevant zu präsentieren und sich zu verteidigen, was für einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag sie doch leisten. Wenn Kirchen die Chance gegeben wird, öffentlich aufzutreten, dann sollen sie sie nutzen – aber dann auch bitte dafür, Christus zu verkündigen und nicht politische Positionen mit ein wenig religiösem Zuckerguss zu überdecken. Doch wenn es die Umstände erfordern wie im Augenblick, dann denken Kirchen und Christen eben nicht zuerst an sich und ihren eigenen Vorteil. Sie lassen sich auch draußen vor das Tor packen, hören nicht auf, denen beizustehen, die ihre Hilfe brauchen, wählen andere Wege, um miteinander in Verbindung zu bleiben, lassen es auch zu, dass die, die keine Ahnung vom Leben in den Gemeinden haben, nur über sie spotten und herziehen.

Wir kennen es ja aus den Entscheiden des Bundesamtes und aus den Gerichtsverhandlungen, wie die Glieder unserer Gemeinde mit Hohn und Spott überzogen werden, wie unser Staat erklärt, dass sie in unserer Gesellschaft keinen Platz haben, wie unser Staat auch die Pastoren zu Betrügern und Lügnern erklärt. Das schmerzt, aber das ist unser Platz in einer Gesellschaft, in der zwar selbst noch Parteien den Namen Christi im Munde führen, aber in der doch auch für den gekreuzigten Gottessohn selber letztlich kein Platz mehr bleibt.

Ja, natürlich werden wir auch weiter unsere Stimme dort erheben, wo wir können, werden vor allem für die eintreten, die selber keine Stimme haben und in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, zuerst und vor allem natürlich für unsere Glaubensgenossen. Und wir werden natürlich auch unsere Stimme dafür erheben, dass der Empfang des Sakraments für uns als Kirche und Christen unverzichtbar ist, dass auch eine noch so gelungene Videopräsentation die Teilhabe an Leib und Blut Christi nicht ersetzen kann. Doch dass wir jetzt so wenig gehört werden, ist nur der Beginn einer Erfahrung, die wir auch in Zukunft in unserem Land, ja hier in Europa immer mehr machen werden, dass wir eben nicht dazugehören, dass wir als Christen eher nur stören.

Der Hebräerbrief wusste es damals schon genau: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Als Christen sind und bleiben wir immer Migranten, Menschen, die hier auf Erden nirgendwo einen festen Wohnsitz haben. Wir kämpfen nicht darum, mitten in der Gesellschaft zu stehen, wir kämpfen nicht um unsere Reputation, ja, wir klammern uns noch nicht einmal daran, so lange wie möglich hier auf Erden zu bleiben. Solange wir hier auf Erden sind, tun wir, was uns von Christus aufgetragen ist, dienen denen, die uns brauchen. Dabei haben wir als Christen keine Angst, etwas in unserem Leben zu verpassen. Was wir auch erleben, und seien es nun auch die Wochen, die wir ganz in unseren Wohnungen verbringen müssen: Alle Tage unseres Leben sind doch nur Schritte hin auf das Ziel unseres Lebens, auf Gottes neue Stadt, auf das himmlische Jerusalem, dort, wo wir einmal niemals isoliert sein werden, sondern für immer in großer Gemeinschaft feiern werden, dort, wo uns keine Angst vor Viren, vor Krankheit und Tod plagen wird, dort, wo Gott selber keinen 2-Meter-Sicherheitsabstand von uns einhalten wird, sondern persönlich alle Tränen von unseren Augen abwischen wird.

Ja, Migranten sind wir – und dieser Weg kann sich manchmal ganz schön lang hinziehen. Umso wichtiger ist es, dass wir auf diesem Weg immer wieder auch schon auftanken können, auch hier auf Erden schon einen Vorgeschmack dieser zukünftigen Stadt bekommen können. Und darum sehnen wir uns natürlich danach, auch jetzt schon hier auf Erden hoffentlich nicht mehr lange vor verschlossenen Kirchentüren stehen zu müssen, sehnen uns danach, dort auch wieder hereinzukommen, wo wir schon eintreten dürfen in die himmlische Stadt bei jeder Feier des Heiligen Mahls. Wir sehnen uns danach, dass die Zeit der Notverpflegung bald ein Ende hat und wir wieder nach Hause kommen können, ganz gewiss. Aber bis dahin halten wir durch, gemeinsam mit Christus, ja, auch draußen vor dem Tor. Amen.

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