Hebräer 13,8-9b | Altjahrsabend | Pfr. Dr. Martens

Na, seid ihr noch alle da? Das ist hier in unserer Gemeinde eine mehr als berechtigte Frage. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass am Ende dieses Jahres 2019 immer noch alle Gemeindeglieder hier in Deutschland sind, dass keiner in sein muslimisches Heimatland abgeschoben worden ist. Gefährlich genug war dieses Jahr 2019 allemal. Und es ist alles andere als selbstverständlich, dass in diesem Jahr kein einziges Gemeindeglied, das älter als 66 Jahre ist, gestorben ist, dass tatsächlich alle immer noch hier bei uns sind, wenn auch die jugendliche Frische bei einigen, sicher auch bei mir, allmählich etwas gelitten hat.

Wenn wir heute am Silvesterabend hier in der Kirche zusammenkommen, dann ist einer der Gründe dafür ganz sicherlich, dass wir Gott am Ende dieses Jahres danken wollen, danken für alle Bewahrung, die wir in unserem Leben in diesem vergangenen Kalenderjahr erfahren haben. Für viele von uns war es ein schweres Jahr, ein Jahr, in dem so viele Glieder unserer Gemeinde unter der Christenfeindlichkeit so vieler Verantwortlicher in unserem Staat gelitten haben, ein Jahr, in dem sie gelitten haben unter unfasslichen Abschiebebescheiden und zynischen Gerichtsurteilen, ein Jahr, in dem so viele Glieder unserer Gemeinde gelitten haben unter Depressionen und Verzweiflung, unter Angst um die eigene Zukunft und auch um die Zukunft ihrer Familie. Nicht wenige unter uns waren in diesem Jahr krank, haben sich Operationen unterziehen müssen oder wissen, dass ihnen Operationen bevorstehen. Und dennoch: Gott hat uns auch durch alle tiefen und dunklen Täler hindurchgeführt bis auf diesen Tag. Ja, so stellt es uns der Hebräerbrief in der Predigtlesung dieses heutigen Abends vor Augen: Jesus Christus ist es gewesen, der bei uns gewesen ist, uns geleitet hat gestern und dieses gesamte vergangene Jahr. Er hat seine schützende Hand über uns gehalten, hat Menschen, die unmittelbar vor der Abschiebung in den Tod standen, auf oft wundersamen Wegen bis hierher in unsere Gemeinde geführt, hat uns unsere Kirchenasylarbeit trotz aller Schikanen des Staates auch in diesem Jahr wieder ermöglicht, hat uns allen auch in diesem Jahr wieder gegeben, was wir brauchten: Essen und Trinken, Kleidung, ein Dach über dem Kopf – und in aller Regel sogar noch eine Menge mehr. Nein, das ist nicht selbstverständlich; dafür wollen wir Gott danken, wollen Christus, unseren Herrn, preisen, der sich in unserer Mitte immer wieder als der lebendige Herr erwiesen hat. Ja, Wunder hat unser Herr in unserer Mitte gewirkt in diesem Jahr, hat nicht nur das irdische Leben von Menschen in unserer Mitte geschützt, sondern hat auch in diesem Jahr wieder so viele Menschen den Weg zum lebendigen Glauben an ihn, ihren Retter, geführt. Ja, wieviel Grund haben wir zur Dankbarkeit, wenn wir an die Gottesdienste hier in unserer Gemeinde in diesem Jahr zurückdenken! Wie reich war der Tisch des Wortes Gottes und der Heiligen Sakramente auch in diesem Jahr wieder hier bei uns gedeckt; wie oft konnten wir uns hier stärken lassen mit dem Leib und Blut unseres Herrn! Und wie viele haben tatsächlich auch davon Gebrauch gemacht – wohl wieder über 20.000 Abendmahlsgäste konnten wir in diesem Jahr wieder bei uns verzeichnen. Ja, Christus, der Herr der Kirche, ist in unserer Mitte in diesem vergangenen Jahr so kräftig am Werk gewesen, so wollen wir es heute Abend dankbar bekennen.

Aber nun geht unser Blick an diesem Abend zugleich natürlich auch nach vorne: Was wird dieses neue Jahr 2020 bringen? Werden alle Glieder unserer Gemeinde am Ende dieses kommenden Jahres noch hier bei uns sein, oder werden wir am Ende dieses kommenden Jahres vielleicht schon die ersten Märtyrer aus unserer Gemeinde zu verzeichnen haben? Wird der Druck auf konvertierte christliche Flüchtlinge in unserem Land in diesem kommenden Jahr gerade vonseiten derer, die so gerne etwas von einem „christlichen Menschenbild“ heucheln, immer noch weiter ansteigen und Glieder unserer Gemeinde immer weiter in die Verzweiflung treiben? Werden wir auch in diesem kommenden Jahr erleben, wie der Staat sich anmaßt, den Glauben von Christen mit geradezu irrsinnigen Maßstäben zu beurteilen? Werden wir es erleben, wie die christenfeindliche Grundstimmung in unserem Land sich immer stärker durchsetzen wird und wir als Christen immer mehr mit Verleumdungen zu leben haben? Wird der Hass auf Geflüchtete in unserer Gesellschaft immer weiter zunehmen und es den Gliedern unserer Gemeinde immer schwerer machen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben? Werden unsere Versuche, mit unserem Einsatz für konvertierte Christen bei den verantwortlichen Politikern Gehör zu finden, Erfolge zu verzeichnen haben, oder werden wir am Ende dieses kommenden Jahres noch frustrierter sein, als wir es jetzt am Ende dieses Jahres sind? Und wie wird es mit unserer Gesundheit, mit unserer wirtschaftlichen Absicherung in diesem kommenden Jahr bestellt sein? Fragen über Fragen – und in dem allen die eine Frage: Worauf sollen wir in diesem kommenden Jahr hoffen?

Ich merke, wie es Glieder unserer Gemeinde gibt, die sich mit ihrer Hoffnung sehr an mich, an meine Person klammern. Doch ich bin ganz sicher kein Hoffnungsträger, keiner, der eure Zukunft zu sichern vermag. Ich merke, wie es Glieder unserer Gemeinde gibt, die ihre Hoffnung darauf setzen, mit Protesten und Demonstrationen etwas verändern zu können. Doch sehr viel Hoffnung habe ich nicht, dass wir auf diesem Wege auch nur irgendwie weiterkommen. Ja, es gibt andere, die ihre Hoffnung immer noch darauf setzen, dass die verantwortlichen Politiker vielleicht doch noch zur Einsicht kommen, was für ein Irrsinn der gegenwärtige Umgang mit konvertierten Christen in unserem Land ist. Doch auch hier gilt wohl eher das Psalmwort: „Verlasset euch nicht auf Fürsten, sie sind Menschen und können ja nicht helfen!“

Und dann gibt es eben auch diejenigen, die so leicht auf die mancherlei und fremden Lehren hereinfallen, von denen der Hebräerbrief hier spricht. Ja, da gibt es so verlockende, christlich klingende Versprechungen, die per Video mit farsisprachigen Untertiteln gerade auch aus den USA zu uns herüberschwappen: Du musst einfach nur fest genug an Jesus glauben, du musst einfach nur richtig positiv denken, dann wird Gott dir schenken, was du willst: Reichtum, Erfolg, Aufenthalt in Deutschland, Gesundheit. Ja, das klingt so fromm – und ist doch in Wirklichkeit das Gegenteil der christlichen Botschaft. Christus ist nicht in diese Welt gekommen, um uns Erfolg und Wohlstand zu schenken. Er ist nicht in diese Welt gekommen, damit wir uns selber mit unserer eigenen Glaubenskraft retten. Glaubt darum nicht den falschen Propheten, den fremden Lehren, die euren Blick von dem gekreuzigten Christus abzuwenden versuchen, die euch vorgaukeln, auf dem Weg in der Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus würden wir nur von Erfolg zu Erfolg, von Glücksgefühl zu Glücksgefühl eilen! Nein, es mag sehr wohl sein, dass uns Christus in diesem kommenden Jahr das Leiden nicht erspart, dass er uns Erfahrungen von Ungerechtigkeit nicht erspart, dass er uns Krankheiten und Anfeindungen nicht erspart, dass er uns vielleicht sogar den Tod nicht erspart.

Wichtig ist doch nur eins: Dass wir in all den Stürmen unseres Lebens, die auf uns zukommen mögen, einen festen Halt haben, der uns durch diese Stürme hindurchträgt. Mit den Worten unserer Predigtlesung: Wichtig ist, dass das Herz fest werde. Wo bekommen wir diese Festigkeit, diesen festen Halt? Der Hebräerbrief spricht es deutlich aus: Es geschieht durch Gnade. Es geschieht nicht dadurch, dass wir in uns irgendwelche Gefühle hervorrufen, dass wir uns anstrengen, möglichst intensiv zu glauben. Es geschieht nicht dadurch, dass wir irgendwelche Gebete nachsprechen, die angeblich besonders wirksam sind. Fest wird unser Herz überhaupt nicht durch unser Tun, durch unsere Bemühungen, sondern allein durch Gnade, allein dadurch, dass Gott unser Herz fest werden lässt. Und das geschieht natürlich dadurch, dass er unser Herz in Jesus Christus befestigt, in ihm, der doch derselbe ist, gestern und heute und auch in Ewigkeit. Wenn dein Herz, wenn dein Leben in Jesus Christus gegründet ist, kannst du dem neuen Jahr 2020 getrost entgegenblicken. Kein Bundesamt, kein Verwaltungsgericht, kein Abschiebebescheid, kein Fremdenhass, keine Krankheit, keine Depression sind stärker als Jesus Christus. In ihm bleibst du verwurzelt und fest gegründet, so gewiss du getauft bist. Und dieser Jesus Christus – er ist eben nicht nur gestern und in Ewigkeit derselbe. Er ist es eben gerade auch heute. Wenn deine Knie zu schlottern beginnen, wenn du an deine Zukunft denkst, dann komme hierher an seinen Altar, empfange auch im neuen Jahr immer und immer wieder den Leib und das Blut deines Herrn. Das macht dein Herz richtig fest in Christus, dass dich keine Macht der Welt von ihm trennen kann.

Lass dich darum niemals verleiten, dein Vertrauen auf dich selber oder auf andere Menschen zu setzen. Lass dein Herz allein in Christus fest werden! Höre auf sein Wort, empfange seine Vergebung, lass dich mit ihm leibhaftig verbinden! Dann mögen noch so viele Stürme in deinem Leben um dich toben, dann mag so vieles dich in deinem Leben erschüttern. Dann wirst du fest bleiben, fest auf dem Weg zum Ziel deines Lebens. Denn das Ziel deines Lebens ist ja nicht der Aufenthalt in Deutschland. Das Ziel deines Lebens ist auch nicht, 100 Jahre alt zu werden – und erst recht nicht, möglichst reich zu werden. Das Ziel deines Lebens ist einzig und allein, dass du bei Jesus Christus bleibst in alle Ewigkeit, dass du an seiner Ewigkeit für immer Anteil hast. Darum, jawohl darum geht es im Jahr 2020. Es mag wohl sein, dass am Ende dieses kommenden Jahres nicht mehr alle hier bei uns sind, die heute Abend hier in der Kirche sitzen. Doch wichtig ist nur eins: Dass wir schließlich alle vollzählig da sind, wo Christus ist. Dass wir schließlich alle vollzählig dort ankommen werden, wo Gott einmal alle unsere Tränen von unseren Augen abwischen wird. Gott geb’s, dass das Jahr 2020 für euch alle miteinander ein Schritt zu diesem Ziel sein möge! Amen.

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