Hebräer 4,12+13 | Sexagesimae | Pfr. Dr. Martens

Er hatte sich immer kerngesund gefühlt. Seine Frau hatte ihn richtig dazu drängen müssen, sich mal einer gründlichen medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Wie gut, dass sie so gedrängt hatte! Denn bei diesen Untersuchungen war auf einem Röntgenbild deutlich ein Tumor zu erkennen. So schnell wie möglich musste der entfernt werden. Eine Operation blieb ihm nicht erspart. Ganz nackt musste sich der Mann vor der Operation ausziehen. Und dann öffnete der Chirurg mit einem scharfen Messer seinen Körper und entfernte den Tumor, indem er ihn ganz exakt herausschnitt. Die Operation gelang – und rettete dem Mann das Leben.

Solch eine ähnliche Geschichte erzählt uns der Hebräerbrief in der Epistel des heutigen Sonntags Sexagesimae. Von einem ganz scharfen Schwert ist da die Rede, das hindurchdringt bis in die tiefsten Tiefen eines Menschen. Ja, auch von einer Art von Operation ist da die Rede, von einer Operation, die schmerzhaft sein kann und doch keinen anderen Zweck hat, als Leben zu retten.

Das Messer, das Skalpell, von dem der Hebräerbrief hier spricht, ist allerdings noch viel, viel schärfer als jedes Instrument eines Chirurgen; das dringt noch viel tiefer in uns ein, als es ein Arzt mit noch so großer Kunstfertigkeit jemals könnte. Und dieses Messer ist das Wort Gottes.

Schwestern und Brüder: Genau darum geht es heute an diesem Sonntag Sexagesimae, das ist es, was dieser Sonntag uns Jahr für Jahr vor Augen stellt und ans Herz legt: Glaube doch ja nicht, das Wort Gottes sei einfach nur eine Ansammlung von Buchstaben, die man mit mehr oder weniger großem Interesse lesen kann! Glaube doch ja nicht, das Wort Gottes sei einfach nur eine Sammlung von netten Sprüchen für das Poesiealbum, ein nettes religiöses Hintergrundgeräusch! Dieses Wort Gottes, das hat eine Kraft, die du ihm zunächst einmal gar nicht zutrauen magst. Doch immer wieder erweist es diese Kraft im Leben von Menschen.

Das Wort Gottes ist ja auch unendlich mehr als einfach nur ein Trostpflaster in irgendwelchen schwierigen Lebenssituationen. Es ist gerade für die ganz entscheidend wichtig, die sich eigentlich richtig gut und normal fühlen und gar nicht auf die Idee kommen, dass da bei ihnen etwas nicht in Ordnung sein könnte. Ja, das Wort Gottes wirkt da ähnlich wie ein Röntgengerät. Es leuchtet ganz tief in uns hinein – viel tiefer, als wir es selber jemals könnten. Du kannst noch so viel meditieren, du kannst noch so tief in dich hineinhorchen – du wirst trotzdem kaum eine Ahnung davon haben, wer du wirklich bist. Wer du wirklich bist, das erkennst du erst im Licht des Wortes Gottes. Und das macht dir klar, dass du in Wirklichkeit gar nicht so gut und normal dastehst, wie du dich fühlen magst. Das macht dir klar, dass du dich in einer tödlichen Gefahr befindest, dass dringendst etwas geschehen muss, um dich noch zu retten. Da steckt dir etwas in den Knochen, was du nicht loswirst und dich ins Verderben stürzt, wenn keiner eingreift. Und das, was dir da in den Knochen steckt, das ist deine Sünde, nein, das sind nicht bloß ein paar blöde Gefühle und Gedanken; was dir da in den Knochen steckt, ist der ganz tiefe Wunsch, selber Gott zu sein, ist das ganz tiefe Misstrauen Gott gegenüber, dass er es wirklich gut meint in dem, was er uns sagt und was er mit uns macht. Ja, diese Sünde trennt dich von Gott, verschließt dir deine ganz weitere Lebensperspektive, ja, die muss weg, dringendst weg, wenn du auf Dauer leben sollst und willst.

Schwestern und Brüder: Solch eine Diagnose ist nicht schön. Sie passt nur sehr begrenzt zu unserer Selbstwahrnehmung, sie widerspricht unserer Einstellung, dass wir eigentlich schon selbst alles im Griff haben oder lösen können. Das mögen wir überhaupt nicht, ganz bloß und aufgedeckt dazuliegen, nichts selber mehr machen zu können, ganz darauf angewiesen zu sein, dass ein anderer uns hilft, ja rettet. Doch die Richtigkeit der Diagnose hängt ja nicht davon ab, ob wir sie schön und bequem finden. Was wäre das für ein schlechter Arzt, der einem kranken Patienten nicht die Wahrheit sagen würde, sondern ihn in der falschen Sicherheit wiegen würde, er sei kerngesund! Gott ist ein guter Arzt, der redet nicht um die Probleme herum, benennt sie in seinem Wort ganz klar beim Namen: Wenn nichts mit dir passiert, wenn da keine Operation durchgeführt wird, dann endet dein Leben im Tod, im ewigen Tod. Und du kannst dich nicht selber operieren. Es ist nicht dein Wort, mit dem du dich retten kannst, es ist allein Gottes Wort, das diese Kraft hat, wirkliche Heilung zu bringen.

Die Heilung beginnt auch bei dir damit, dass Gottes Wort an Dinge herangeht in dir, in deinem Leben, die du eigentlich gar nicht gerne behandelt haben möchtest. Es ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Es zeigt dir unerbittlich, wie sehr du auf Hilfe und Rettung angewiesen bist. Martin Luther übersetzt hier, dass alles in unserem Leben vor den Augen Gottes „aufgedeckt“ sei. Das Wort beschreibt die Situation eines Ringkämpfers, der auf dem Boden liegt, mit beiden Schultern auf dem Boden, und keine Chance mehr hat, sich aus dieser Lage zu befreien. Ja, genau dahin führt uns Gottes Wort, dass wir keine Ausflucht mehr haben, dass wir doch eigentlich ganz nette Menschen sind, die doch so viel Gutes tun, die jedenfalls so viel besser sind als andere – jedenfalls sehr viel besser als die meisten anderen hier in der Gemeinde! Genau dahin führt uns Gottes Wort, dass wir erkennen: Wir haben keine Chance – wir brauchen die rettende Operation.

Doch an diesem Punkt fängt nun der Vergleich mit der Krebsoperation an zu hinken: Wenn man eine Tumoroperation hat und die gut verläuft, dann ist das Problem erledigt, dann ist vielleicht noch einige Nachsorge nötig, aber keine weitere Operation. Doch mit unserer Sünde ist das anders: Die lässt sich nicht ein für allemal mit einer Operation ganz entfernen, dass wir danach sündenfrei und heilig sind. Die steckt so tief in uns drin, dass wir sie nicht einfach loswerden. Doch Gott hat ein Verfahren entwickelt, dass uns diese Sünde nicht mehr schaden kann, dass wir nicht mehr mit Schrecken dem Tag entgegenblicken müssen, an dem wir einmal Gott werden Rechenschaft geben müssen über alles, was wir in unserem Leben gesagt, getan, gedacht haben. Und bei diesem Verfahren verwendet er nun eben auch wieder sein Wort: Genauso, wie er mit seinem Wort aufdeckt, wie dringend wir auf sein Erbarmen angewiesen sind, genauso wirkt er mit seinem Wort die Heilung: Er spricht uns durch sein machtvolles, lebendiges Wort frei, ledig und los von aller unserer Schuld, nimmt der Sünde damit die Kraft, uns noch weiter schaden zu können. Und dieses Wort wirkt dann noch weiter, wirkt dann tatsächlich auch tief in unserem Herzen Veränderung, drängt die Sünde allen Ernstes in unserem Leben auch zurück. Aber das Wichtigste ist und bleibt das Wort der Vergebung, das Wort des Freispruchs, das uns rettet, das uns bewahrt vor dem ewigen Tod.

Denke daran, wenn du hierher zum Gottesdienst kommst: Es geht nicht darum, dass du hier eine gewisse Zeit bis zum Mittagessen absitzt. Erwarte etwas von Gott, dass er zu dir spricht, dass er an dir wirkt, dich operiert – auch jetzt in dieser Predigt und in jeder Predigt, die du hörst! Denke daran, wenn du selber in der Bibel liest: Gott spricht darin zu dir, arbeitet an dir, deckt auf und heilt! Gottes Wort trägt eine Kraft in sich, von der man erst einmal gar nichts ahnt. Doch wer sie einmal kennengelernt hat, will sie nicht mehr missen, wird immer wieder hierher zu dieser heilsamen, rettenden Operation in der Beichte kommen, wird immer wieder hierher kommen, um zu erfahren, was für eine Macht Gottes Wort hat – Brot und Wein zu dem Leib und dem Blut Christi werden zu lassen. Ja, so lebt Christus in dir, arbeitet an dir und in dir, rettet dich zum ewigen Leben. Und das alles ganz ohne Krankenschein, ohne Krankenkassenkarte – ganz umsonst! Amen.

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