Hebräer 4,14-16 | Invokavit | Pfr. Dr. Martens

In den vergangenen zehn Tagen musste ich gleich zweimal anfangen, alle Facebook-Kontakte, die ich hier in der Gemeinde und darüber hinaus gesammelt hatte, wieder neu anzulegen. Einmal war unsere Facebook-Seite zunächst geblockt und später gelöscht worden, einmal wurde mir der Zugang zu unserer Seite verwehrt, weil ich sie nicht nur als Privatperson, sondern auch für unsere Gemeinde genutzt hatte. Und das war und ist dann gar nicht so einfach, all die vielen hundert Kontakte wiederzufinden. Und als ich nun die verschiedenen Kontakte, die ich hatte, wieder neu mit einer Freundschaftsanfrage beglückte, da stieß ich immer wieder einmal auch auf Bilder von Gliedern unserer Gemeinde, die ich nun schon längere Zeit nicht mehr live hier bei uns gesehen habe. Gewiss, es sind vergleichsweise nur einige wenige – aber es schmerzte mich dann doch jedes Mal, wenn ich daran dachte, mit was für einer Begeisterung diese Menschen vor einiger Zeit noch hier in unserer Gemeinde aktiv gewesen waren, und wie wenig von dieser Begeisterung nun noch übriggeblieben war. Ja, das ist eine Gefahr, eine Versuchung, in der wir alle miteinander immer wieder stehen, dass wir in unserem Glauben müde werden, dass wir den Kontakt zu Christus vielleicht ganz unmerklich allmählich verlieren, dass uns das, was uns noch vor gar nicht langer Zeit so wichtig war, allmählich aus den Augen gerät, vielleicht gar fremd wird.

In genau derselben Versuchung wie wir heute standen auch damals schon die Christen, an die der Verfasser des Hebräerbriefes seine Worte hier schreibt. Ach, was waren diese Christen voller Begeisterung gewesen über das, was sie im Glauben an Jesus Christus entdeckt und gefunden hatten, was für eine Einsatzbereitschaft, ja auch was für eine Leidensbereitschaft hatten sie da gezeigt! Aber nun war seitdem doch einige Zeit vergangen – und man konnte es in den Gottesdiensten der Gemeinde sehen, dass da Sitze frei blieben, dass so manche, die immer gekommen waren, die auch unter Schwierigkeiten immer am Glauben festgehalten hatten, sich nun nur noch seltener blicken ließen. Ja, solche geistlichen Erfahrungen machen Christen, machen Gemeinden zu allen Zeiten, und so ist es umso wichtiger, dass wir uns von dem Hebräerbrief dazu anleiten lassen, wie wir mit solchen Erfahrungen der Versuchung, der Ermüdung im Glauben in der rechten Weise umgehen können:

Nein, der Hebräerbrief droht hier denen nicht, die in der Gefahr standen, die Verbindung zu Christus, zur Gemeinde zu verlieren; er setzt sie nicht unter Druck. Er appelliert auch nicht an ihren guten Willen, fordert sie nicht dazu auf, sich nun endlich mal zusammenzureißen und so zu leben und zu handeln, wie man das von ihnen als getauften Christen doch erwarten sollte. Und er macht den Empfängern seines Briefes auch kein schlechtes Gewissen. Mit all dem, so zeigt es uns der Hebräerbrief, würde er doch nicht die Herzen derer erreichen, die er doch wieder neu für Christus, für das Evangelium gewinnen will.

Der Hebräerbrief weiß: Letztlich hilft nur eins, um Menschen, die in Versuchung stehen, die den Kontakt zur Gemeinde zu verlieren drohen, bei Christus und seiner Kirche festzuhalten: Immer wieder neu muss man ihnen klarmachen, wie gut sie es bei Christus haben, was Christus auch für sie, für ihr Leben bedeutet. Nur diese frohe Botschaft hat die Kraft, Menschen so zu prägen und zu verändern, dass sie tatsächlich fröhlich „am Bekenntnis festhalten“, wie es der Hebräerbrief hier formuliert.

Christus, den Sohn Gottes, stellt der Hebräerbrief also ganz ins Zentrum seiner Argumentation mit denen, die in der Versuchung standen abzufallen. Und genau darum soll es eben auch heute in dieser Predigt gehen: Dass wir unseren Blick wieder neu ganz klar auf Christus ausrichten, auf das, was er für uns getan hat und tut. Genau darum geht es doch auch in dieser Fastenzeit in ganz besonderer Weise, dass wir diese Ausrichtung auf Christus wieder neu vollziehen, uns von dem prägen und stärken lassen, was er für uns getan hat und tut.

Als Hohepriester bezeichnet der Hebräerbrief Jesus Christus hier. Das ist eine Bezeichnung, ein Titel, der im Neuen Testament tatsächlich nur im Hebräerbrief auf Christus angewandt wird. Was machte solch ein Hohepriester damals im Tempel in Jerusalem? Einmal im Jahr ging er im Tempel bis hinter den Vorhang des Allerheiligsten, um dort das Blut der Opfertiere zu versprengen und so die Versöhnung des ganzen Volkes Gottes zu vollziehen. Und nun wird dies auf Jesus Christus angewendet: Ja, er hat ein Versöhnungsopfer dargebracht, nein, er hat nicht irgendwelche Schafe und Rinder geschlachtet und geopfert; er hat tatsächlich sich selber geopfert, sich selber in den Tod dahingegeben. Und nun ist er, wie der Hohepriester damals auch, bis ins Allerheiligste durchgedrungen, bis vor den Thron Gottes, hat die Himmel durchschritten, wie es der Hebräerbrief hier formuliert – und nun macht Christus dort genau das, was ein Hohepriester zu tun hat: Er tritt vor Gott ein für sein Volk, um für sein Volk Vergebung und Heil zu erwirken.

Was für ein wunderbarer Trost! Da magst du manchmal den Eindruck haben, dass dein Glaube doch sehr wackelig geworden ist, dass du selber kaum noch die Kraft hast, diesen Glauben auch weiter zu praktizieren und durchzuhalten. Doch es geht eben nicht um deine Kraft, um dein Durchhaltevermögen. Wichtig ist allein Christus, der Sohn Gottes, der auch jetzt in dieser Stunde vor seinem Vater steht und für dich bittet, für dich eintritt. Daran hängt alles, dass Christus dies tut. Für alle Menschen ist er am Kreuz gestorben – und darum tritt er auch für alle Menschen vor seinem himmlischen Vater ein. Er bittet für dich, wenn du zu schwach zum Beten, wenn du zu schwach zum Glauben bist. Und er bittet nicht nur für dich, er bittet auch für all diejenigen in unserer Gemeinde, die die Verbindung zu ihm, Christus, längst verloren haben. Er bittet für deine Kinder, die vom Glauben nichts mehr wissen wollen, er bittet für all diejenigen, die wir auch hier in unserer Gemeinde schmerzlich im Gottesdienst vermissen. Wir mögen sie allmählich vielleicht schon aufgeben, mögen schon festgestellt haben, dass das wohl doch keine richtigen Christen waren. Christus gibt sie nicht auf, betet auch für sie – und für dich eben auch!

Und wenn Christus für dich, für mich und für all die vielen anderen auch betet, dann weiß er genau, was er tut, weiß genau, wie es dir und mir, wie es auch den anderen geht, für die er vor seinem Vater eintritt. Er, der ewige Gottessohn, ist wirklich ganz und gar Mensch geworden, so sehr und so ganz Mensch geworden, dass er mit uns, mit unserer Schwachheit mitleiden konnte, so formuliert es der Hebräerbrief hier. Christus weiß, was es heißt, schwach zu sein, was es heißt, einsam, enttäuscht und traurig zu sein, er weiß, was es heißt, Angst zu haben, Schmerzen zu haben. Er weiß auch, was es heißt, ein Flüchtling zu sein. Er weiß auch, was es heißt, einer Pogromstimmung ausgesetzt zu sein wie so viele von euch auch. Er hat all dies selber durchgemacht. Wenn du traurig und einsam bist, wenn du glaubst, von Gott ganz verlassen zu sein, dann schau auf deinen großen Hohepriester, schaue auf Christus, und sage es ihm: Du weißt, wie es mir geht, du kannst mich verstehen. Hilf mir eben darum, weil du selber genauso schwach geworden bist wie ich auch!

Und dann geht der Hebräerbrief hier sogar noch einen Schritt weiter. Er sagt allen Ernstes: Christus ist in allem versucht worden wie wir. Das können wir kaum erahnen, was das eigentlich bedeutet: Er, der in ewiger Gemeinschaft mit seinem Vater im Himmel lebt, wird vom Teufel versucht, ganz ernsthaft versucht. Das war ein Kampf für ihn, diesen Versuchungen nicht nachzugeben, sich von den Einflüsterungen des Teufels nicht beeindrucken zu lassen. Ja, das war ein Kampf für ihn, keine Selbstverständlichkeit. In allem ist Christus versucht worden – keinen Bereich seines Menschseins hat es gegeben, in dem er von Versuchungen frei geblieben wäre. Doch in einem unterscheidet sich Christus dann eben doch von uns: Er ist in diesen Versuchungen ohne Sünde geblieben, hat in diesem entscheidenden Kampf gesiegt und kann uns gerade so Anteil geben an seinem Sieg über die Sünde und den Teufel. Jesus ist eben unendlich mehr als bloß ein Prophet, der uns Anweisungen dazu gibt, wie wir uns in welcher Lebenssituation zu verhalten haben. Er hat die tiefsten Tiefen unseres Menschseins erfahren – und ist doch seinen Weg zum Kreuz unbeirrt immer weiter gegangen. Dort hat er auch dein Versagen in den Versuchungen, in denen du gestanden hast und stehst, auf sich genommen, hat die Strafe dafür getragen, damit du als ein freier Mensch leben kannst, damit du die Kraft hast, in den Versuchungen, die dir auferlegt werden, zu bestehen.

Ja, er hat’s getan, für dich und für mich – und so lädt der Hebräerbrief uns alle miteinander nun ein: Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade. Was meint er damit? Er meint: Christus hat dir den direkten Zugang zu Gott geschenkt; und in seiner Gegenwart bekommst du nun alles geschenkt, was du brauchst, um als Christ, um in seiner Gemeinschaft leben zu können. Was für eine großartige Einladung: Du darfst dich Gott nähern ohne Angst, darfst in seine Gegenwart treten, darfst dich von ihm beschenken lassen.

Um nichts anderes geht es doch in jedem Gottesdienst, den wir feiern: Derselbe Christus, der in der Wüste den Kampf mit dem Teufel ausgefochten hat, derselbe Christus, der in seinem Leben genau erfahren hat, was es heißt, versucht zu sein, derselbe Christus, der jetzt für dich vor Gott steht und für dich bittet, derselbe Christus ist zugleich auch hier und jetzt in unserer Mitte gegenwärtig. Dieser Altar, er ist der „Thron der Gnade“, der Ort der leibhaftigen Gegenwart Gottes, der Ort, an dem du Rettung findest zu der Zeit, wenn du Hilfe nötig hast. Ja, hier betrittst du selber das Allerheiligste, hier wird dir die Vergebung geschenkt, wenn du im Unterschied zu Christus in deinen Versuchungen nicht ohne Sünde geblieben bist, wenn dich dein Weg doch wieder von Christus und seinem Wort weggeführt hat.

Nein, du musst es nicht als Schicksal hinnehmen, wenn du die Verbindung zu Christus verloren hast, wenn Menschen, die dir lieb und wichtig sind, offenbar diese Verbindung verloren haben. Christus wartet auf dich, wartet auch auf sie, nicht um dich oder sie fertigzumachen, nicht um dir oder ihnen eine Moralpredigt zu halten. Er wartet auf dich, damit du wieder neu anfangen kannst in deinem Leben, damit dich die Last deiner Schuld nicht erschlägt. Er wartet auf dich und lädt dich immer wieder neu ein durch das Wort seiner Boten: Kommt näher, kommt ganz dicht an mich heran; ich will in euch leben mit meinem Leib und Blut! Das wird dich stärken in der neuen Woche, das wird dich bei mir festhalten; das ist die größte und stärkste Hilfe im Kampf gegen die Versuchung, gegen die Gefahr, wieder zu verlieren, was dir doch in der Taufe schon längst geschenkt worden ist. Kommt, lasst uns hinzutreten zum Thron der Gnade – Gott geb’s, dass wir diese Einladung immer wieder vernehmen und unser Herz vor ihr nicht verschließen! Es geht hier in der Tat – um unser Leben! Amen.

Zurück