Hebräer 5,7-9 | Judika | Pfr. Dr. Martens
Vor einiger Zeit hatten wir in unserem Kirchenvorstand eine interessante Diskussion. Wir sprachen darüber, wie denn wohl ein Kruzifix aussehen sollte und könnte, das wir an der Rückwand hinter dem Altar anbringen könnten. Und da merkten wir in der Diskussion, wie unterschiedlich die Erwartungen sind, die Christen aus dem Iran und Afghanistan einerseits und Christen aus Deutschland andererseits beim Anblick eines solchen Kruzifix haben: die iranischen und afghanischen Christen hätten am liebsten ein Kruzifix gehabt, das das Leiden Jesu, seine blutenden Wunden möglichst deutlich und drastisch vor Augen stellt. Dagegen bevorzugten die Christen aus Deutschland lieber ein Bild von Christus als dem erhöhten König am Kreuz, ein Bild, in dem das Leiden Christi in seiner Brutalität doch lieber ein bisschen in den Hintergrund rückt. Bisher haben wir noch kein Kruzifix gefunden, in dem sich alle Beteiligten hätten wiederfinden können – und das zudem dann auch noch groß genug wäre, um an die Rückwand des Altars zu passen. Und so mag es sehr wohl sein, dass wir es noch über eine längere Zeit bei dem jetzigen Kreuz belassen werden.
Woran mag diese unterschiedliche Erwartungshaltung gegenüber einem Kruzifix liegen? Könnte es sein, dass unsere Geschwister aus dem Iran und Afghanistan sehr viel direktere auch körperliche Leidenserfahrungen gemacht haben, dass sie mit dem brutalen Leid, das sich auch in der Kreuzigung Jesu widerspiegelt, sehr viel unmittelbarer vertraut sind als wir, die wir zu solchem Leid höchstens einen Zugang durch die Kunst haben? Ich nehme das beispielsweise auch auf Facebook wahr, wo Christen aus dem Iran und Afghanistan Fotos vom Leid in ihrer Heimat posten, die für uns Deutsche in ihrer Härte und Brutalität kaum erträglich sind.
Entsprechend unterschiedlich mögen wir auch heute Morgen die Epistel dieses Sonntags Judika wahrnehmen: Für deutsche Ohren mögen ihre Worte fast unerträglich krass klingen, kaum zum Aushalten in der Intensität, in der das Leiden Christi hier beschrieben wird. Und für viele unserer neuen Gemeindeglieder mögen sie dagegen zutiefst tröstlich klingen, weil sie sich in dieser so krassen Schilderung des Leidens Jesu sehr viel eher wiederfinden. Schauen wir uns also genauer an, was hier über Jesus gesagt wird:
- Er schreit.
- Er lernt.
- Er rettet.
I.
Zu den schrecklichsten Erfahrungen, die Menschen machen müssen, die unter einem Unrechtsregime ins Gefängnis geworfen werden, gehört es, die Schreie von Mitgefangenen anhören zu müssen, die gleich nebenan in der Zelle misshandelt, geschlagen und gefoltert werden. Solche Schreie verfolgen die, die sie anhören mussten, oft ein ganzes Leben lang bis in die Träume. Wir haben nicht wenige Glieder unserer Gemeinde, die solche Schreie selber auch gehört haben oder aber selber schon so geschrien haben. Sie hören natürlich diese Worte unserer Predigtlesung noch einmal mit ganz besonderen Ohren: Jawohl, Jesus Christus hat geschrien, laut geschrien. Er hat geschrien vor Angst, er hat geschrien vor Schmerz, er hat geschrien vor Verzweiflung. Jawohl, er, Jesus Christus, hat so geschrien, er, der Sohn Gottes, so betont es der Hebräerbrief ausdrücklich. Ja, wir glauben an einen schreienden Gott, einen Gott, der sein Leid nur noch laut hinauszuschreien vermag.
Wie tröstlich ist dies für all diejenigen, die schon geschrien haben wie er, Jesus, selbst! Wie tröstlich ist das für alle, die selber schon tiefstes Leid erlitten haben, die Gott so gar nicht verstehen können, warum er sie so in ihrem Leben geführt hat! Er, der Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrhaftiger Gott vom wahrhaftigen Gott ist, schreit selber in seiner Verzweiflung. Er weiß, wie denen zumute ist, die selber in ihrem Leid schreien, er hat ihr Leiden geteilt bis in die tiefste Tiefe. Jesus schreit zu Gott, bittet und fleht ihn an, ihn vom Tod zu erretten. Er hat nicht nur scheinbar gelitten, er hat sein Leiden auch nicht mit stoischer Gleichgültigkeit ertragen. Er macht die Erfahrung, dass Gott auf seine Bitten nicht so reagiert, wie er es erfleht, nicht so schnell, ja, so hat es den Anschein, überhaupt nicht. Gott erspart ihm nicht das Leiden, nicht das Kreuz, nicht den Tod. Und doch schreibt der Verfasser des Hebräerbriefs: Er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. Gott hört das Schreien Jesu, er rettet ihn – nicht so, dass er ihm das Leiden erspart, sondern so, dass er ihn durch das Leiden hindurch zur Auferstehung führt.
Wie tröstlich ist auch dies für uns zu wissen: Wenn wir zu Gott schreien in unserer Not, dann mögen wir manchmal auch den Eindruck haben: Der hört uns überhaupt nicht, und wenn wir uns die Seele aus dem Leib rufen! Doch wenn wir auf ihn, den schreienden Jesus, blicken, erkennen wir: Gott hört uns, jawohl, doch gerade nicht so, dass er uns das Leid erspart, sondern so, dass er uns durch das Leid hindurch zur Vollendung, zum Leben führt. Unsere Schreie und Rufe sind nicht vergeblich. Er selber, Jesus, hört sie, er, dem auch dein Schreien, dein Rufen, dein Flehen durch Mark und Bein geht.
II.
Eine weitere ganz erstaunliche Aussage macht der Hebräerbrief hier über Jesus. Er behauptet allen Ernstes, Jesus habe erst noch lernen müssen.
Es gibt Dinge im Leben, die kann man nicht einfach nur theoretisch lernen. Die lernt man nur dadurch, dass man sie gleichsam durchlebt. Ich lerne Schwimmen nicht dadurch, dass ich Bücher über das Schwimmen lese, sondern dadurch, dass ich im Wasser bin. Ich lerne auch Deutsch nicht dadurch, dass ich Bücher über die deutsche Sprache lese, sondern dadurch, dass ich es spreche und anwende. Und wie schwer dieses Lernen ist, davon können so viele hier in unserer Gemeinde berichten. Und doch führt an diesem Lernen kein Weg vorbei, selbst wenn das alte Sprichwort sich immer wieder bewahrheitet: „Das Leben ist viel zu kurz, um Deutsch zu lernen.“
Jesus hat auch gelernt. Gewiss, er ist Gottes Sohn, vom Vater in Ewigkeit geboren. Und doch war es eine wirkliche Erfahrung für ihn, nicht bloß etwas, was er ohnehin schon längst wusste, was es heißt, wirklich leiden zu müssen und in diesem Leiden nichtsdestoweniger Gott treu zu bleiben. Ja, das war für ihn ein Kampf, das war für ihn mühsam, nicht bloß Lehrer zu sein, sondern zugleich auch Lernender. Doch Jesus hat sich diesem mühsamen Lernprozess nicht entzogen, hat weiter gelernt, was Leiden heißt, bis zum letzten Atemzug.
Wie tröstlich ist es, auch dies zu wissen: Wenn wir dies auch selber so mühsam lernen müssen, an Gott dranzubleiben, auch wenn in unserem Leben alles dagegen zu sprechen scheint, dass es sich lohnt, an Gott festzuhalten, wenn wir dies auch selber so mühsam lernen zu müssen, Gott gehorsam zu sein, auch wenn dies all unseren Wünschen und Erfahrungen zu widersprechen scheint, dann dürfen wir uns daran erinnern: Auch Jesus hat solchen Gehorsam mühsam lernen müssen. Der weiß, was Lernen heißt. Der versteht uns in diesem Kampf – ja, der versteht uns überhaupt, wenn wir merken, wie schwer das Lernen ist. Er hat selber dazugelernt – und weiß eben darum so gut über uns, über unsere Lage Bescheid!
III.
Ja, zutiefst tröstlich ist es für uns, einen Herrn zu haben, der selber unser menschliches Leid bis in die tiefste Tiefe erfahren hat, der uns verstehen kann, ja, in dessen Erfahrungen wir uns wiederfinden können. Von daher kann ich den Wunsch unserer neuen Gemeindeglieder, dieses Leid auch möglichst plastisch anschaulich werden zu lassen, sehr gut verstehen. Der Blick auf den leidenden Christus kann eine ganz wichtige Glaubensstärkung, ein ganz wichtiger Trost sein. Und doch wäre es zu wenig, wenn wir Christus nur als einen Menschen ansehen würden, mit dessen Leid wir uns identifizieren können und der uns umgekehrt in unserem Leiden versteht und es gerade darin ernst zu nehmen vermag.
Denn es geht beim Leiden und Sterben Jesu Christi, das wir nun in diesen beiden Wochen der Passionszeit in besonderer Weise bedenken, noch um unendlich mehr als darum, dass wir uns mit einem Menschen identifizieren können, der Ähnliches durchgemacht hat wie wir auch und uns deshalb gut verstehen kann. Sondern entscheidend wichtig ist das Leiden und Sterben Jesu Christi für uns deshalb, weil er eben darin der Urheber des ewigen Heils für uns geworden ist, wie es der Hebräerbrief hier formuliert. Sein Tod ist unsere Rettung, unser Leben, unser Zugang zu Gott. Sein Tod ist der Sieg über die Macht des Todes über uns, über unser Leben. Sein Tod ist der Sieg über die Macht der Sünde, die uns versklaven und gefangen halten will. Sein Tod ist der Sieg über die Macht des Teufels, dem es nicht gelungen ist, Jesus von seinem Weg ans Kreuz abzubringen und der auch bei uns kapitulieren muss, wenn wir in der Gemeinschaft mit ihm, unserem Herrn, leben.
Ja, beides finden wir darum wieder in den Worten unserer heutigen Predigtlesung: Den leidenden Christus, dessen Leid so tief reicht, dass wir den Anblick kaum ertragen können, und der uns in den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben, vielleicht gerade darum so besonders nahe erscheint, und auch den Christus, der als Urheber des ewigen Heils der Sieger ist über die Mächte, die uns von Gott trennen wollen. Der Hebräerbrief bringt beides zusammen – und lenkt gerade so unseren Blick ganz auf ihn, Christus, den Herrn. Möge auch alles, was wir hier in der Gemeinde tun und bedenken, ja, möge nicht zuletzt auch die Gestaltung des Kirchraums allein dazu dienen, dass uns dieser Jesus Christus immer größer und klarer vor Augen steht, und das, was er erlitten und gelernt hat – für uns! Amen.