Hesekiel 2,1 – 3,3 | Sexagesimae | Pfr. Dr. Martens

Vor kurzem hat in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland der sogenannte „Synodale Weg“ begonnen. Ausgehend von den entsetzlichen Missbrauchsskandalen in der Kirche wollen sich Bischöfe und engagierte Gemeindeglieder gemeinsam daran machen, über die Strukturen der Kirche nachzudenken und sie, wenn nötig, zu verändern. Doch auffallend war schon zu Beginn dieses Weges, wer denn alles seinen Senf zu diesem Synodalen Weg dazugeben zu müssen meinte: Politiker und Journalisten fühlten sich dazu berufen, der römisch-katholischen Kirche mit ihren Einsichten auf den rechten Weg zu helfen, damit ihr die Leute nicht weiter weglaufen, sondern sie wieder Erfolge zu verzeichnen hat.

Nun teilen wir nicht unbedingt alle offiziellen Positionen der römisch-katholischen Kirche, was etwa den Zölibat angeht. Doch was auch uns zu denken geben sollte, ist die Selbstverständlichkeit, mit der heute in der kirchlichen und weltlichen Öffentlichkeit davon ausgegangen wird, dass die Kirche natürlich das zu tun und zu lehren habe, was die Mehrheit der Leute heute für richtig hält und gerne hören möchte. Zu denken geben sollte uns die Selbstverständlichkeit, mit der davon ausgegangen wird, dass die Kirche so etwas wie eine religiöse Partei ist, die zusehen muss, dass sie ihr Programm an die Erwartung ihrer Anhänger anpasst, damit sie auch in Zukunft noch gewählt wird. Meinungsumfragen sollen der Kirche den Weg weisen – denn eines kann sich die Kirche ja nun überhaupt nicht leisten: Dass sie etwas verkündigt, was die Leute nicht gut finden, worüber sie sich vielleicht sogar aufregen.

In der Predigtlesung des heutigen Sonntags finden wir uns in einer völlig anderen Welt wieder als der, der wir hier in Deutschland in unseren Medien begegnen. Da schildert uns der Prophet Hesekiel seine Berufung zum Propheten. Nein, Hesekiel wurde nicht in einer Stichwahl durch das Volk Israel zum Propheten gewählt. Sondern es ist Gott allein, der Hesekiel zum Propheten beruft und ihm von Anfang an deutlich macht, mit wem er es zu tun hat: Gott lässt Hesekiel seine Herrlichkeit schauen, sodass Hesekiel nichts anderes übrigbleibt, als vor diesem lebendigen Gott niederzufallen. Und dann hört Hesekiel die Stimme Gottes, der mit ihm redet und ihm einen nicht gerade erfreulich klingenden Auftrag gibt: Gott sendet Hesekiel zu seinem Volk Israel, zu einem Volk, von dem Gott selber sagt, dass es sich von ihm abgewandt hat, dass es nicht bereit ist, auf Gottes Wort zu hören. Dem soll Hesekiel predigen – ohne jegliche Erfolgsgarantie, dass seine Zuhörer das auch akzeptieren werden, das auch gut finden werden, was er ihnen im Auftrag Gottes zu sagen hat. Zuhörern mit einem harten Kopf und verstockten Herzen zu predigen, das klingt nicht gerade nach einem Traum-Job, das wünscht sich kein Prophet, das wünscht sich auch kein Pastor. Doch Hesekiel bleibt nichts anderes übrig als zu tun, womit er beauftragt wird. Doch Gott spricht ihm dabei zugleich auch Mut zu: „Du sollst nicht vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten.“ Es sind doch nicht deine Worte, es geht doch nicht um deinen Erfolg oder Misserfolg. Wichtig ist für dich einzig und allein, dass du genau das dem Volk ausrichtest, womit ich dich beauftrage. Und dann macht Gott noch etwas Ungewöhnliches: Er zeigt dem Hesekiel eine Schriftrolle, von vorne bis hinten beschrieben – wohl mit der Botschaft, die Hesekiel verkündigen soll. Es ist eine harte Botschaft, eine Botschaft von Klage, Ach und Weh, so formuliert es Hesekiel hier selber. Und diese Schriftrolle soll sich der Hesekiel nicht nur anschauen, sondern er soll sie essen, sie sich einverleiben, sodass sein Inneres damit erfüllt wird. Die Botschaft, die Hesekiel verkündigt, soll er nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sie soll ihn selber bis in die letzten Fasern seines Seins erfülle und prägen. Hesekiel nimmt sie und isst sie tatsächlich – und diese schwer verdauliche Botschaft wird in seinem Mund süß wie Honig. Das Wort, das er zu verkündigen hat, und er selber, der Prophet, werden so sehr eins, dass da nichts mehr an diesem Wort ist, das ihn abstoßen würde, zu dem er nicht selber auch ganz Ja sagen könnte.

Was für ein ungewöhnlicher, einmaliger Bericht! Von solch einem besonderen Berufungserlebnis könnte ich euch als Pastor jedenfalls nicht erzählen. Wohl aber macht uns dieser Bericht gerade auch auf dem Hintergrund dessen, was wir in den öffentlichen Diskussionen heutzutage erleben, sehr deutlich, was ihr als Glieder der christlichen Gemeinde von der Kirche, von denen, die in ihr predigen, erwarten könnt und sollt. Das ist nämlich etwas ganz anderes, als was heute die Menschen in aller Regel von der Kirche erwarten. Ihr sollt und dürft in der Kirche erwarten,

  • dass euch Gottes Wort verkündigt wird.
  • dass euch verkündigt wird, was euch nicht passt.
  • dass euch diese Verkündigung verändert.


I.

Vorgestern wurde ich von einem Glied unserer Gemeinde angesprochen. Ein Freund aus einem anderen Bundesland hatte ihn um Rat gefragt: In dem für sein Asylverfahren zuständigen Verwaltungsgericht würde immer die Frage gestellt, welche Teile des christlichen Glaubens er denn kritisch sehen oder ablehnen würde. Aber ihm sei doch der ganze christliche Glaube lieb und wichtig; da gäbe es keine Teile, die er ablehnen würde. Was sollte er denn bloß antworten? Ja, genau diese Frage wird immer wieder auch Gliedern unserer Gemeinde hier im Berliner Verwaltungsgericht gestellt. Und wenn sie dann antworten, dass ihnen doch der ganze christliche Glaube wichtig sei, weil doch die Heilige Schrift für sie das Wort Gottes sei, dann wird ihre Klage abgewiesen mit der Begründung, sie hätten sich nicht kritisch genug mit ihrem Glauben auseinandergesetzt und seien darum keine ernsthaften Christen. Ein liberal-protestantisches Zerrbild von Glauben bildet als neue Staatsreligion den Maßstab, an dem der Glaube iranischer und afghanischer Christen gemessen wird. Es ist geradezu diabolisch: Von den Christen wird verlangt, dass sie ihr Bekenntnis zur Heiligen Schrift als dem Wort Gottes verleugnen, damit sie als ernsthafte Christen anerkannt werden.

Dass die Heilige Schrift Gottes Wort ist, ja, dass es die vornehmste Aufgabe eines Pastors ist, dieses Wort Gottes der Heiligen Schrift unverfälscht und unverkürzt der Gemeinde zu verkündigen, das ist ein Gedanke, der in der heutigen kirchlichen Landschaft geradezu exotisch klingt. Doch genau das ist der Auftrag, mit dem Gott damals den Hesekiel losschickte: „Zu denen sollst du sagen: So spricht Gott der HERR!“ In den Worten des Hesekiel sollen die Zuhörer die Stimme Gottes selber vernehmen – ganz gleich, ob ihnen das passt oder nicht. Und dies und nicht weniger sollt und dürft ihr eben auch von jeder Predigt erwarten, die in dieser Kirche gehalten wird: Meine Aufgabe ist es nicht, euch religiöse Gedankenanstöße zum eigenen Weiterdenken zu vermitteln. Meine Aufgabe ist es nicht, euch meine persönlichen religiösen Gedanken darzulegen, die ihr dann nach Belieben aufgreifen oder beiseitelassen könnt. Sondern meine Aufgabe ist in der Tat, auch zu euch zu sagen: So spricht Gott der HERR! Nein, das ist keine Anmaßung, sondern damit greife ich nur auf, was Christus selber seinen Boten zugesagt hat: „Wer euch hört, der hört mich!“ Ja, eine große Verantwortung ist mir damit auferlegt, denn weh mir, wenn ich euch etwas verkündige, was gerade nicht Wort Gottes ist, sondern nur das, was ihr gerne von mir hören möchtet! Ich habe mich als Bote einmal vor dem lebendigen Christus zu verantworten, ob ich tatsächlich nur sein Wort weitergetragen habe oder mich vielleicht doch lieber an dem orientiert habe, was mir Beifall und Zustimmung der Hörer in Aussicht stellt. Doch für euch, jawohl für euch ist es entscheidend wichtig, dass ihr die Predigt tatsächlich als Gottes eigenes Wort hört. Denn ihr braucht ja einen festen Grund, auf den ihr euren Glauben bauen könnt. Und dieser feste Grund sind nicht meine persönlichen Gedanken, sind nicht irgendwelche allgemeinen Gedankenanstöße. Sondern dieser feste Grund kann nur darin bestehen, dass ihr erkennt: Was ich hier höre, das sagt Gott selber mir. Daran kann ich in der Tat meinen Glauben hängen!

 

II.

Wenn ihr in der Predigt Gottes eigenes Wort vernehmt, dann bedeutet das aber eben darum gerade nicht, dass ihr euch durch das Wort der Predigt einfach nur bestätigt fühlt in dem, was ihr immer schon gewusst und gedacht habt, im Gegenteil. Als „Haus des Widerspruchs“ bezeichnet Gott die Israeliten hier, zu denen er den Hesekiel sendet. Und das gilt eben nicht nur für die Israeliten damals, das gilt auch für uns heute. Das steckt ganz tief in uns drin, dass wir uns durch die Predigt in der Kirche nur bestätigt sehen wollen. Doch Gott beauftragt seine Boten immer wieder damit, den Menschen gerade auch das zu verkündigen, was ihnen völlig gegen den Strich geht, was sie ärgert. Nein, es geht ihm nicht darum, in der Kirche Randale zu machen, sondern es geht ihm darum, dass wir immer wieder neu erkennen, wie sehr wir in unserem Leben seinen Willen verfehlt haben, ja wie sehr wir von daher auf seine Vergebung angewiesen sind. Es geht Gott nicht darum, uns kaputt zu machen, sondern es geht ihm darum, uns immer wieder von dem Weg abzubringen, der uns von ihm wegführt, ja uns gerade so immer wieder zur Umkehr zu rufen.

Das ist für Verkündiger nicht leicht, diesen Auftrag Gottes auszuführen. Wir wollen doch, dass alle Leute uns mögen, wir wollen doch, dass alle Leute gut finden, was wir sagen. Und dann fangen wir doch so leicht an, darauf zu schielen, wie wir bei den Leuten ankommen. Doch Gott sagt dem Hesekiel hier ganz klar gleich zweimal: „“du sollst ihnen meine Worte sagen, sie gehorchen oder lassen es.“ Hesekiel soll verkündigen, was Gott sagt; er soll nicht irgendwelche Beliebtheitsumfragen anführen. Man kann einen guten Pastor nicht unbedingt daran erkennen, dass seine Kirche voll ist und er von allen geliebt wird. Man kann Menschen auch mit falschen Botschaften anlocken, man kann Menschen auch an die eigene Person binden statt an Gottes Wort. Betet darum für mich, dass ich euch wirklich nichts anderes als Gottes Wort verkündige, dass ich mich nicht dazu verführen lasse, mich mehr am Erfolg als an dem Wort zu orientieren, das ich euch auszurichten habe!


III.

Und dann ist da noch die Sache mit der Schriftrolle, die der Hesekiel damals gegessen hat. Solch eine Erfahrung habe ich nicht gemacht, dass mir Gott eine Bibel zum Essen gegeben hat. Aber was der Hesekiel hier erfährt, ist doch etwas, was auch für uns im Umgang mit Gottes Wort ganz wichtig ist: Gott möchte, dass wir sein Wort nicht einfach nur oberflächlich zur Kenntnis nehmen, sondern dass wir es tief in uns selber aufnehmen, dass es uns in unserem ganzen Wesen und Leben durchdringt. Zur Zeit von Martin Luther nannte man das Meditieren der Heiligen Schrift auf Lateinisch „ruminare“, auf Deutsch: Wiederkäuen. Ja, das ist gut und hilfreich, wenn wir uns mit Worten der Heiligen Schrift so intensiv befassen, dass wir immer wieder darauf herumkauen, gerade wenn uns Worte erst einmal schwer verdaulich erscheinen. Und dann werden auch wir die Erfahrung machen dürfen, wie uns auch manche schwere Kost am Ende sehr süß und lecker erscheint, wenn wir uns denn nur intensiver mit ihr befasst haben.

In einer Anhörung beim Bundesamt wurde eines unserer Gemeindeglieder danach gefragt, ob es denn schon die ganze Bibel durchgelesen habe. Es antwortete: Nein, ich lese bewusst immer nur kleine Abschnitte und denke darüber intensiver nach. Das ist besser, als schnell die ganze Bibel durchzulesen. Beim BAMF fand dieses Gemeindeglied mit dieser Antwort kein Verständnis. Aber dieses Gemeindeglied hat genau verstanden, worum es auch in unserem Hören auf die Heilige Schrift geht: Nicht darum, möglichst viel Wissen anzusammeln, sondern zu entdecken, was für ein Reichtum sich uns erschließt, wenn wir genau auf dieses Wort hören. Dann werden auch wir erfahren, wie uns Gottes Wort durchdringen und verändern wird. Ja, es geht tatsächlich darum, Gottes Wort in uns aufzunehmen. Und genau das macht uns ja auch immer wieder die Feier des Heiligen Mahls deutlich. Da nehmen wir auch das Wort Gottes in uns auf, das Fleisch gewordene Wort Gottes, Jesus Christus, seinen Leib, sein Blut, da essen wir dieses Wort und lassen uns von diesem Wort verwandeln.

Ja, Schwestern und Brüder, genau darum geht es hier in jedem Gottesdienst – um unendlich mehr, als was Journalisten und Politiker sich unter Kirche vorstellen können. Hier redet Gott, hier verändert er unser Denken, hier treibt er uns mit seinem Wort in seine Arme und verwandelt uns. Und daran sollten wir wahrlich nichts verändern! Amen.

 

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