Hesekiel 34,1-16.31| Misericordias Domini | Pfr. Dr. Martens

Es ist nun schon gut fünf Jahre her, dass ich von allen möglichen Parteien und Politikern zum Gespräch eingeladen wurde. Sie hatten meine Berichte vernommen, wie christliche Asylbewerber in den Asylbewerberheimen unseres Landes von radikalen Muslimen bedroht und schikaniert wurden und schienen an diesem Thema Interesse zu haben. Und so nahm ich auch die verschiedenen Einladungen wahr, damals noch in der Illusion, dass Politiker tatsächlich ernsthaft an dem Geschick dieser Menschen interessiert sein könnten, glaubte allen Ernstes, mit Gesprächen und Vorträgen etwas bewegen zu können. Es dauerte dann allerdings nicht lange, bis ich merkte, dass ich von denen, die mich da eingeladen hatten, nur für ihre Zwecke instrumentalisiert werden sollte, dass sie mich als Feigenblatt gebrauchten, um ein Interesse an diesem Thema vorzugaukeln, während man ernsthaft natürlich überhaupt keine Lust hatte, sich mit diesen Problemen tatsächlich näher zu beschäftigen. Und so zittern auch jetzt noch viele christliche Asylsuchende vor Angst in ihren Asylbewerberunterkünften, werden bedroht und tätlich angegriffen, ohne dass dies fünf Jahre später auch nur irgendjemand von denen, die mir gegenüber damals Interesse an diesem Thema geheuchelt hatten, auch nur im Geringsten noch bewegen würde. Fünf Jahre später hat sich die Situation der geflüchteten Christen immer noch weiter verschlechtert – aber mit diesem Thema kann man keine Wahlen gewinnen; also kümmert sich auch niemand um sie. In Wirklichkeit geht es im politischen Geschäft immer wieder nur um Machterhalt und nichts anderes – so habe ich es ernüchtert in diesen vergangenen Jahren erfahren müssen.

In der alttestamentlichen Lesung des heutigen Hirtensonntags Misericordias Domini übt Gott selber scharfe Kritik an den politisch Verantwortlichen der damaligen Zeit, die sich selber als Hirten ihres Volkes verstanden und doch, wie Gott selber es hier formuliert, nur sich selbst weiden: Statt sich um das Schwache, das Kranke, das Verwundete, das Verlorene zu kümmern, lassen sie die, die ihre Hilfe am ehesten nötig hätten, im Stich, kümmern sich nur um sich selber und ihren eigenen Vorteil. Ja, es legt sich natürlich nahe, diese Worte aus dem Buch des Propheten Hesekiel auf die Politiker unserer Tage zu beziehen, auf die, die mitten in der Corona-Krise sich noch am Maskenverkauf eine goldene Nase verdienen oder ohne einen Anflug an Scham sich gegen entsprechende Finanzdienstleistungen von Diktatoren in ihren Dienst nehmen lassen – von dem Desinteresse an geflüchteten Christen einmal ganz zu schweigen.

Und doch würden wir sachlich ziemlich schief liegen, wenn wir die Worte unserer heutigen Predigtlesung nun einfach als Anlass zur Politikerschelte nehmen würden. Gewiss, die Worte des Propheten machen auch Politikern heute deutlich, worauf Gott sein Augenmerk bei der Wahrnehmung politischer Aufgaben legt: Auf die Schwachen, Verwundeten, Verirrten, Verlorenen. Die sollen nicht unter die Räder der politischen Macht geraten – ganz klar. Und doch lassen sich die Worte Hesekiels nicht einfach auf unsere Politiker übertragen – und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Unsere Politiker, und auch und erst recht unsere Regierung sind nicht unsere Hirten – und wir sind nicht ihre Schafe. Wir sind nicht auf Gedeih und Verderb irgendwelchen Führern ausgeliefert, denen wir hinterhertrotten müssen, weil sie es uns nun einmal so befehlen. Wir beauftragen Menschen für einen begrenzten Zeitraum, Aufgaben wahrzunehmen – und wenn der Zeitraum vorbei ist, haben wir die Möglichkeit, sie auch wieder abzuwählen, und wenn wir das nicht tun, dann sind wir es allerdings selber schuld, ja, auch und gerade, wenn wir merken, dass die, die angeblich unser Bestes wollen, in Wirklichkeit nur an unserer Wolle und an unserem Fleisch interessiert sind.

Von Hirten ist allerdings auch heute noch die Rede: Hirte, auf lateinisch: Pastor: Das ist immer noch eine Beschreibung des Dienstes, der in der Kirche vollzogen wird. Und daran lässt sich auch nicht so leicht etwas ändern, eben weil dieser kirchliche Dienst als Hirtendienst biblisch begründet ist. Auch hier ist allerdings ganz wichtig festzuhalten, dass mit der Beschreibung des kirchlichen Dienstes als Hirtendienst gerade keine Herrschaftsverhältnisse beschrieben werden – und dass zugleich die Hirten in besonderer Weise von ihrem Auftraggeber, von Gott selber, danach gefragt werden, wie sie diesen Dienst versehen: Nichts könnte für sie schlimmer sein, als wenn Gott auch ihnen attestieren würde: Ihr weidet ja gar nicht die Herde, die euch anvertraut ist, ihr weidet euch selber!

Diese Wehrufe Gottes sollten durchaus auch den Kirchen hier in Deutschland in den Ohren klingen: Da erleben wir, wie die Zahlen der Glieder der Kirchen in Deutschland immer weiter sinken – und als Reaktion erleben wir immer wieder mehr oder weniger verzweifelte Versuche der Kirchen, sich selbst und ihre eigenen Strukturen auch in der Zukunft zu bewahren und zu sichern. Man möchte seinen gesellschaftlichen Einfluss behalten, man möchte seinen guten Ruf behalten, ja, man ist versucht, selbst die Mission noch wesentlich unter dem Gesichtspunkt der Mitgliederwerbung zu gestalten. Und da ist es natürlich ganz wichtig, sich in allem, was man tut, genau an der Erwartungshaltung der Menschen zu orientieren. Doch genau das möchte Gott nicht: Diejenigen, die seine Herde weiden sollen, sollen nicht an ihre eigene Existenzsicherung denken, sondern sollen allein darauf achten, das Verlorene zu suchen, das Verirrte zurückzubringen, das Verwundete zu verbinden und das Schwache zu stärken. Hirtendienst heißt: Den Menschen nachzugehen, um ihnen die Heilung zu bringen, die ihnen kein Arzt und erst recht kein Politiker zu geben vermag.

Doch die Wehrufe Gottes aus dem Mund des Propheten Hesekiel betreffen eben nicht allein kirchliche Organisationen, sondern sind zugleich auch ein Beichtspiegel für jeden einzelnen Hirten, für jeden einzelnen Pastor: Habe ich das gemacht, was Gott von mir erwartet? Bin ich den Verlorenen hinterhergegangen, habe ich die Verirrten zurückgebracht, habe ich die Wunden derer, die in ihrer Seele verletzt waren und sind, verbunden, habe ich mich um die Schwachen in der Gemeinde gekümmert, um die, die sich nicht gleich in den Vordergrund drängen? Habe ich das gerade jetzt in diesen Corona-Zeiten getan, in denen die Gefahr so besonders groß ist, dass sich die Herde Jesu Christi zerstreut, weil sie sich unter diesen Bedingungen nur so schwer sammeln lässt? Ja, wenn man als Pastor, als Hirte diese Worte aus dem Buch des Propheten Hesekiel bedenkt, dann ist die Antwort immer wieder klar: Nein, ich bin kein guter Hirte gewesen; ich habe versagt in meinem Hirtendienst, auch und gerade jetzt in diesen schwierigen Monaten, wenn nicht Jahren.

Doch gerade wenn wir uns das als Hirten, als Pastoren, und als Gemeinde gleichermaßen klarmachen, wie Menschen immer wieder an dem Hirtendienst, den sie versehen sollten, scheitern, dürfen wir die Ankündigung Gottes hier in unserer Predigtlesung als großen Trost vernehmen, auch wenn diese Worte ja ursprünglich einmal als Gerichtsankündigung an die Hirten des Volkes Israel gerichtet waren, denen Gott ihren Hirtendienst wegnehmen wollte und die Dinge allein in die Hand nehmen wollte: Ja, wie gut, dass es nicht an den Pastoren hängt, dass Gottes Herde gesammelt, zurückgebracht, verbunden und gestärkt wird! Wie gut, dass Gott selber diese Aufgabe selber übernimmt, dies alles in seine Verantwortung stellt. ES ist nicht meine Aufgabe als Hirte der Gemeinde, die Kirche zu retten. Es ist nicht meine Aufgabe als Hirte der Gemeinde, Menschen zum Glauben zu bringen und ihre Seele vor dem ewigen Tod zu bewahren. Dafür ist Gott allein zuständig, dafür ist allein der eine gute Hirte zuständig, der sich im Heiligen Evangelium dieses Sonntags selber mit diesem Titel und mit diesem Anspruch vorstellt: Was für eine Entlastung für alle menschlichen Hirten! Wir brauchen Jesus Christus nicht zu ersetzen. Der vollzieht seinen Hirtendienst selber in seiner Kirche, in seiner Herde, und dabei kann und will er dann durchaus auch Gebrauch von denen machen, die in einem ganz abgeleiteten Sinn ebenfalls den Namen eines Hirten haben, der seinen Sinn allein von dem einen guten Hirten Jesus Christus bekommt.

Ja, genauso erleben wir es eben auch hier in unserer Gemeinde, wie Christus ganz unterschiedliche Wege gebraucht, um Menschen, die in ihrem Leben vollkommen verlorengegangen sind, die in ihrem Leben so viele Verwundungen erfahren haben, die selber keine Kraft mehr haben, um ihren Weg noch weiterzugehen, um eben diese Menschen zu erreichen und ihnen das zu geben, was sie brauchen: Sein Wort, das ihnen den Weg zum Leben weist, sein Wort, das Vergebung und Leben schenkt, sein Leib und sein Blut, das Heilmittel des ewigen Lebens, das Menschen auch schon hier auf Erden mit ihren Verwundungen zu heilen vermag. Christus weidet seine Herde, sorgt für sie unendlich besser, als es je ein Mensch könnte.

Seid also nicht enttäuscht von Politikern, denen es nur um ihre eigene Macht und ihren eigenen Vorteil geht – Ihr könnt von ihnen nichts anderes erwarten. Sie sind keine Heilsbringer, und wir können schon froh sein, wenn sich ihr Zynismus gegenüber den Schwachen wenigstens in Grenzen hält. Seid nicht enttäuscht von Kirchenführern und Pastoren, die den Erwartungen, die an sie gerichtet werden, oft so wenig gerecht werden: Sie sind es doch nicht, die die Kirche erhalten, sie sind nicht die Hoffnung und die Zukunft der Christen. Richtet eure Hoffnung allein auf den einen guten Hirten, der euch nicht enttäuschen wird, auf ihn, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, auf ihn, der da erst gerade anfängt, wo wir mit unseren menschlichen Möglichkeiten an unsere Grenzen stoßen. „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen!“ – Gott sei Dank, dass er das übernommen hat! Das schenkt uns Hoffnung, auch und gerade in diesen Corona-Zeiten! Amen.

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