Hesekiel 34,1-16+31| Misericordias Domini | Pfr. Dr. Martens
„Vor dreißig Jahren waren die Menschen Schafe und Khomeini war ihr Hirte“, so erklärte ein bekannter iranischer demokratischer Aktivist voller Hoffnung während der Grünen Revolution im Iran. „Heute haben wir keinen Hirten, aber die Menschen sind keine Schafe mehr.“ Ja, voller Hoffnung war dieser Mensch: Die Zeit der Hirten, die uns wie dumme Schafe behandeln, ist vorbei. Jetzt sind wir frei und bestimmen unser Schicksal selber. Doch es dauerte nicht lange, da musste auch dieser Aktivist leidvoll erfahren: O doch, es gibt sie immer noch, die Hirten, wie sie auch hier in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags Misericordias Domini beschrieben werden: die Hirten, die nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind und dafür auch bereit sind, ihre eigene Herde abzuschlachten. Der Traum vom endgültigen Verschwinden der Hirten, von einer Gesellschaft, in der die Schafe aufhören, Schafe zu sein und es selber schaffen, alle Ungerechtigkeit zu überwinden, er zerplatzte nicht nur am Ende der Grünen Revolution im Iran, er erweist sich leider auch immer wieder als ziemlich realitätsfern, wo auch immer in dieser Welt Herrschaft ausgeübt wird.
Ja, erschreckend aktuell ist die Kritik des Propheten Hesekiel, die er damals in der Vollmacht Gottes an den religiösen und politischen Führern des Volkes Israel übte, die ihr Volk schließlich in die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems und der Deportation nach Babylon geführt hatten. Hirten – Menschen in politischer, religiöser und gesellschaftlicher Verantwortung, die sich selber als Wohltäter und Menschenfreunde darstellen und in Wirklichkeit doch gar kein Interesse daran haben, das Schwache zu stärken, das Kranke zu heilen, das Verwundete zu verbinden, Menschen, denen es nur um den Machterhalt geht und nicht um diejenigen, die ihrer Verantwortung anvertraut sind, die sind auch zweieinhalbtausend Jahre später immer noch an allen Ecken und Enden Realität.
Mit Menschen, die unter der Herrschaft ihrer religiösen Führer kaputtgegangen sind, die krank und verwundet sind an Leib und Seele, haben wir tagtäglich hier in unserer Gemeinde zu tun, mit Menschen, die umhergeirrt sind auf hohen Bergen und weiten Meeren, nur um diesen Hirten zu entkommen. Ja, mit Menschen haben wir zu tun, die davon berichten können, wie diejenigen, die sie führten, ihre Position immer wieder nur dazu genutzt haben, sich selber zu bereichern, und keine Rücksicht genommen haben auf die, für die sie doch eigentlich da sein sollten.
Doch wie aktuell ist das, was Hesekiel hier beschreibt, gerade auch in Bezug auf das, was eben diese Menschen nun auch in unserem Lande erleben. Da habe ich sie gerade am vergangenen Sonntag vor mir gesehen, die Verwundeten, im ganz wörtlichen Sinne: Fünf Christen aus unserer Gemeinde, die in einem Asylbewerberheim von einem radikalen Islamisten angegriffen und zum Teil schwer verletzt wurden. Seit Jahren haben wir die, die in unserem Land politische Verantwortung tragen, darauf hingewiesen, wie sehr gerade konvertierte Christen in den Heimen unseres Landes zu leiden haben. Doch die, die die Verantwortung haben, die mitunter auch noch gerne von den christlichen Traditionen unseres Landes reden, interessiert dieses Leid in Wirklichkeit nicht im Geringsten. „Niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.“ – Was Hesekiel damals im Auftrag Gottes verkündigte, beschreibt genau die Situation der bedrängten Christen in unserem Land, die von denen im Stich gelassen werden, die ihnen helfen, die für sie sorgen könnten. Doch die verbinden das Verwundete nicht, stärken das Schwache nicht, sondern sind darauf bedacht, ihren eigenen Vorteil, ihre eigene Wiederwahl zu sichern, und wenn es sein muss, eben auch auf Kosten der bedrängten Christen. Nein, die haben keine Lobby, auch wenn es darum geht, sie vor einer Abschiebung in die Heimat zu schützen, wo ihnen Verfolgung und Tod droht. Da isst man lieber ihr Fett und kleidet sich mit ihrer Wolle, sammelt Wählerstimmen damit, dass man sie als Lügner und Betrüger diffamiert. Ja, das gibt es immer noch: das Missverhältnis zwischen denen, die das Sagen haben und denen die Schwachen und Kleinen herzlich unwichtig sind, und denen, die keine Chance haben, sich gegen die zu wehren, die nur sich selber weiden und denen die Schwachen und Verwundeten egal sind, da sie eh nicht wählen dürfen.
Ja, was Hesekiel hier verkündigt, ist eine ganz aktuelle und moderne Ethik für die Hirten, für diejenigen, die Verantwortung tragen in der Politik, in der Gesellschaft, in den Medien: Sie sollen ihre Macht und ihre Möglichkeiten nutzen, um das Schwache zu stärken und das Kranke zu heilen, sollen ihre Macht gerade nicht dazu gebrauchen, um das Starke mit Gewalt niederzutreten. Einsatz für die Schwachen, für die Verwundeten – das ist es, was Gott von den Verantwortungsträgern in der Gesellschaft, von denen, die die Macht haben, erwartet.
Doch nun stehe ich heute Morgen hier nicht vor den Verantwortungsträgern der Gesellschaft, nicht vor denen, die die Macht haben, die auch die Macht hätten, euer Geschick zu ändern. Ich stehe heute Morgen hier vor den Schwachen und Kranken, vor den Verwundeten, vor denen, die vielleicht einmal stark und voller Hoffnung waren und nun erfahren mussten, wie sie niedergetreten wurden mit Gewalt. Was kann ich euch zum Trost, euch zur Hoffnung sagen?
Soll ich euch sagen, dass ich versuche, was mir möglich ist, um meinen Mund aufzutun für die Stummen, für die, nach denen keiner fragt und auf die keiner achtet? Ach, Schwestern und Brüder, das wäre doch nur ein allzu schwacher Trost. Ich bin ganz gewiss nicht eure Hoffnung. Aber von einer anderen Hoffnung spricht Hesekiel selber hier, ja, mehr noch: spricht Gott selber hier durch den Mund seines Propheten:
Die Hoffnung, von den er spricht, besteht nicht darin, dass Gott seinem Volk nun bessere Hirten schickt, dass er ein wenig mehr Vernunft und Herz vom Himmel regnen lässt und künftig Menschen unser Land oder auch den Iran und Afghanistan regieren, die tun, was Gott der Herr von ihnen erwartet. Hesekiel selber ist in Bezug auf die Hirten des Volkes reichlich illusionslos. Wer auch immer das Volk führt – er wird die Hoffnungen enttäuschen, die gerade die Schwachen und Verwundeten in ihn setzen.
Gott selber lenkt unsere Hoffnungen in eine andere Richtung: „Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen“, so verkündigt er hier. Gott selber übernimmt den Hirtendienst und kümmert sich um die, die von den anderen Hirten so sehr im Stich gelassen worden waren. Gott selber übernimmt den Hirtendienst – ja, machen wir uns klar, was das heißt: Hirte zu sein, das war damals kein idyllischer Job. Wer diesen Dienst mit Ernst versah, der musste Knochenarbeit leisten, der musste seine Herde mit seinem eigenen Leben verteidigen, wenn sie angegriffen wurde, der konnte diesen Dienst nur dann recht versehen, wenn er mit seiner Herde ganz eng verbunden war.
Gott übernimmt einen Knochenjob, um die, die zu ihm gehören, zu retten, zu bewahren, zu stärken und zu heilen. Ja, Gott selber setzt sein Leben ein für uns, weil wir ihm so wichtig sind, weil er an uns gerade nicht seinen eigenen Vorteil sucht, sondern nur auf unsere Heilung, auf unsere Stärkung, auf unser Leben aus ist. Genau so haben wir es eben auch im Heiligen Evangelium dieses Sonntags gehört. Da spricht er selber, der lebendige Gott, zu uns, spricht als der gute Hirte, der sein Leben lässt für die Schafe. Während andere Hirten schon bald von ihren Versprechen so wenig wissen wollen, steht Gott zu seinem Wort, hat es erfüllt in seinem Sohn Jesus Christus.
Dieser gute Hirte Jesus Christus fragt nach euch, achtet auf euch. Dieser gute Hirte sucht euch, lässt euch nicht aus dem Blick, nicht in euren Asylbewerberunterkünften, nicht in euren Betten, in denen ihr nachts schlaflos liegt, weil ihr nicht mehr wisst, wie es mit eurem Leben noch weitergehen soll. Für diesen guten Hirten seid ihr so wichtig, dass er für euch sein Leben in den Tod gegeben hat, dass er für euch am Kreuz gestorben ist. Der lebt nicht auf eure Kosten, sondern lässt euch leben ganz und gar auf seine Kosten. Dieser gute Hirte will euch geben, was sonst kein Hirte euch geben kann: Leben in Fülle, Speise, die euch satt macht nicht nur für ein paar Stunden, sondern für alle Ewigkeit. Er sammelt euch auch heute wieder hier an seinem Altar, weidet euch mit der Gabe seines heiligen Leibes und Blutes, stärkt euch, richtet euch auf, ja heilt damit auch eure Verwundungen.
Verlasst euch nicht auf andere Hirten, auf andere politischen Führer und Meinungsführer; sie werden euch enttäuschen. Verlasst euch allein auf den, der in seinem Hirtendienst in den Tod gegangen ist für euch, der euch niemals enttäuscht, der euch niemals allein lässt. Bei ihm seid ihr geborgen, bei ihm werdet ihr Ruhe finden; er wird an eurer Seite bleiben, ganz gleich, welche Wege ihr auch geht. Bei ihm dürfen wir gerne Schafe sein, weil er uns nicht für dumm verkauft, weil er uns wertschätzt, weil er sich für uns einsetzt bis in den Tod. Wie gut, dass ihr euch nicht auf andere Hirten verlassen müsst, wie gut, dass von ihnen eure Zukunft nicht abhängt! Bleibt darum bei dem einen guten Hirten, setzt eure Hoffnung ganz auf ihn! Bei ihm, Christus, werdet ihr für immer zu Hause sein, für immer ein Bleiberecht haben – schon hier und jetzt, und dann auch einmal in alle Ewigkeit! Amen.