Hiob 14,1-6 | Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres | Pfr. Dr. Martens

Wenn es Nacht wird, ploppen sie bei mir fast jeden Tag auf meiner Facebook-Seite hoch: Nachrichten von Gemeindegliedern, die ans Ende ihrer Kräfte gelangt sind, die einfach nicht mehr können, die sich nur noch wünschen, tot zu sein. Menschlich gesprochen haben sie doch eigentlich noch ihr Leben vor sich – aber für sie gibt es keine Zukunft, keine Zukunftsperspektive mehr. Da hatten sie um ihres christlichen Glaubens willen alles, was sie in ihrem Leben hatten, riskiert und aufgegeben, waren hierher nach Deutschland gekommen in der Hoffnung, nun endlich ihren christlichen Glauben praktizieren zu können. Doch hier in unserem Land erlebten sie nun, wie der deutsche Staat alles unternahm, was er konnte, um sie so bald wie möglich loswerden, wieder abschieben zu können. Sie erlebten, wie ihre Hinwendung zum christlichen Glauben von staatlichen Behörden verhöhnt wurde, wie ihnen das Leben von rassistischen Mitarbeitern in anderen Behörden zur Hölle gemacht wurde, wie sie in die Mühlräder von Verwaltungsvorgängen hineingerieten, aus denen es oft viele Jahre kein Entkommen gab, sie erlebten, wie Gerichtsverhandlungen hier in Berlin mittlerweile zum reinen Glücksspiel mutiert sind – mit oftmals nicht viel größeren Chancen als beim Lottospiel. Sie erlebten, wie die Angst davor, am Ende doch wieder abgeschoben zu werden, sie lähmte, sie so sehr blockierte, dass sie kaum dazu in der Lage waren, noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar etwas zu lernen. Ja, sie erlebten, wie ihnen ihre Lebenszeit unter den Fingern zerrann und sie am Ende keine andere Hoffnung mehr zu haben schienen als die, durch den eigenen Tod endlich diesen Kreisläufen des Schreckens entkommen zu können.

Als wir neulich mit dem Jugendkreis uns die Ausstellung über die Arbeit der Stasi in der früheren Stasi-Zentrale in der Runden Ecke in Leipzig anschauten, da gab es dort auch Schautafeln über das Thema „Zersetzung“, wie der Staat es versucht hatte, Menschen mit allen möglichen Tricks psychisch so kaputt zu machen, dass sie schließlich aufgaben. Was ich da las, war beklemmend aktuell, erinnerte mich so sehr an das, was so viele unserer Brüder und Schwestern in der Gemeinde vonseiten der staatlichen Behörden erleben – möglicherweise mitunter sogar von denselben Leuten, die das Vorgehen beim Thema „Zersetzung“ früher selber einmal von der Pike auf gelernt hatten.

Und was unsere Schwestern und Brüder besonders mitnimmt, ist eben dies, dass sie doch um Christi willen so viel auf sich genommen, so vieles zurückgelassen haben, dass sie dies doch getan haben im Vertrauen darauf, dass ihr Herr sie nicht fallen lässt. Und nun sitzen sie da und fragen sich: Warum lässt Gott all dies Unrecht, das ich in meinem Leben erfahre, zu, warum lässt er es zu, dass staatliche Behörden meinen Glauben in den Dreck ziehen und sich zu Richtern über diesen Glauben aufspielen? Warum lässt Gott das zu, dass ich hier in Deutschland allmählich vor die Hunde gehe, wo ich doch um seinetwillen hier bin? Hat mich Gott am Ende doch im Stich gelassen, war all das, was ich erlebt und erlitten habe, am Ende doch vergeblich? War mein Leben vergeblich, sollte ich es nicht tatsächlich am besten abkürzen, weil ich es einfach nicht mehr aushalte und ertrage?

Menschen kommen an ihr Ende, gehen kaputt, können einfach nicht mehr – und da ist es immer wieder meine Aufgabe, sie zu trösten, sie aufzurichten, ihnen irgendwelche Hoffnung zuzusprechen, damit sie ihren letzten Wunsch nicht umsetzen, damit sie nicht verzweifeln, sondern weitermachen. Ja, da muss ich diesen Menschen Mut machen, obwohl ich selber diesen Mut und diese Hoffnung oft genug verloren habe, selber nicht erkennen und verstehen kann, warum unsere Geschwister nun auch hier in Deutschland so viel zu erleiden haben, warum Gott dieses schreiende Unrecht zulässt, das ihnen immer und immer wieder hier in unserem Land widerfährt. Ja, da muss ich diesen Menschen Mut machen und komme doch selber immer häufiger an meine Grenzen, an denen auch ich nur noch aufgeben und resignieren möchte, mich frage, wozu ich immer noch versuche, gegen die Übermacht eines immer offener christenfeindlichen Staates anzugehen, wenn die, die mir anvertraut sind, und damit auch ich selber am Ende doch immer wieder nur den Kürzeren ziehen.

Ach, wie sehr spricht der Hiob in der alttestamentlichen Lesung des heutigen Sonntags so vielen unserer Gemeindeglieder, wie sehr spricht er auch mir immer wieder aus der Seele! Menschen erleben, wie sie schon in jungem Alter ganz alt werden, erleben, wie sich ihre Lebenszeit immer mehr einengt, erleben es, wie sie Gott einfach nicht verstehen können: Warum tut er uns das an, was wir in unserem Leben erfahren? Warum erlaubt er es uns nicht, einfach mal ganz normal unser Leben in Ruhe zu führen? Und wenn er schon nicht all das wegnimmt, was uns so sehr zu Boden drückt – warum lässt er uns dann so lange zappeln, warum sorgt er nicht dafür, dass in unserem Leben endlich mal Feierabend ist und die ganze Quälerei ein Ende hat?

Ja, was Hiob hier zum Ausdruck bringt, das ist geradezu beklemmend aktuell. Ja, wie gut, dass wir auch diese Stimme des Hiob in der Heiligen Schrift finden, sein leidenschaftliches Ringen mit einem Gott, der ihn nach seiner festen Überzeugung zutiefst unrecht behandelt hat! Ja, wie gut, dass uns Hiob immer wieder die Möglichkeit gibt, seine Worte auch zu unseren Worten werden zu lassen!

Doch Hiob schließt sich in dem Buch, das von ihm und seinen Worten berichtet, am Ende eben nicht dem Humanistischen Bund der Gottesleugner an, er legt auch nicht Hand an sich selber an. Sondern er wendet sich an Gott im Gebet – nicht nett und freundlich, nicht voller Dankbarkeit, sondern mit einem ganzen Bündel von Vorwürfen. Ach, wie gut, dass gerade auch das hier im Buch Hiob und an vielen anderen Stellen in der Heiligen Schrift ausdrücklich beschrieben wird: Dass wir mit Gott schimpfen dürfen, dass wir ihm Vorwürfe an den Kopf werfen dürfen, ja, dass wir ihm gegenüber erklären dürfen, dass er uns endlich in Ruhe lassen soll! Denn in all dem, was wir Gott an Vorwürfen an den Kopf werfen, zeigen wir, dass wir diesen Gott doch ernst nehmen, so ernst nehmen, dass wir eben nicht von ihm loskommen, auch wenn wir es mitunter vielleicht sogar gerne täten.

Ja, klagen wir es Gott immer wieder, dass wir es einfach nicht verstehen können, warum er es zulässt, dass wir so ungerecht behandelt werden! Klagen wir es Gott immer wieder, dass wir es nicht verstehen können, warum er uns unsere Lebenszeit so sehr verkürzt und das, was davon übrigbleibt, letztlich nur Quälerei und Frustration ist! Klagen wir es Gott immer wieder – und halten wir gerade so an ihm fest! Ja, klagen wir es Gott immer wieder – und erlauben wir es dann Gott zugleich auch immer wieder, dass er unseren Blick hinlenkt auf den gekreuzigten Jesus Christus, der am Kreuz erfahren musste, wie auch seine Lebensperspektive sich immer weiter verkürzte, wie von seinem Leben hier auf Erden scheinbar nichts mehr übrig blieb. Ja, auch Jesus Christus hat am Kreuz eine Klage vor Gott angestimmt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ja, so hat Christus gerufen, damit wir nicht mehr so rufen müssen. Ja, so hat Christus gerufen, um uns zu retten, um unsere verengte Lebensperspektive doch noch einmal neu zu weiten – trotz all des Unrechts, das wir in unserem Leben erfahren. Ja, am Kreuz hat Jesus gehangen, er, der einzige, der selber keiner Vergebung bedurfte, sondern den tödlichen Kreislauf der Weitergabe unserer Schuld an einer entscheidenden Stelle durchbrochen hat. Ja, er, der Einzige, der nicht unter dem Gericht Gottes stand, sondern es freiwillig auf sich genommen hat, er blickt uns nicht strafend, sondern voller Liebe an, will nicht, dass wir verlorengehen, will auch nicht, dass wir kaputtgehen. Haben wir ihn darum immer wieder im Blick, wenn wir selber an unsere Grenzen stoßen und nicht mehr weiterkönnen! Er verspricht uns kein einfaches Leben in seiner Nachfolge. Aber er verspricht uns in der Tat Ruhe, Ruhe für unsere Seelen schon jetzt mitten in der Unruhe unseres Lebens, Ruhe in seiner Gegenwart in alle Ewigkeit. Eben dazu hat er das Sakrament seines Leibes und Blutes gestiftet, dass wir in ihm jetzt schon Ruhe finden, wenn wir diese Arznei der Unsterblichkeit empfangen. Ja, da bekommst du es immer wieder: Das Gegengift gegen deine Vergänglichkeit, das Gegengift auch gegen deine Verzweiflung. Du musst keine Angst haben, dass du am Ende deines Lebens ins Nichts fällst. Christus hat dich fest im Blick – und er steht zu dem, was er dir in deiner Taufe versprochen hat. Das lässt dich, das lässt auch mich durchhalten bis zu dem Tag, auf den wir uns in der Tat jetzt schon freuen dürfen, auf den Tag, an dem wir einmal endgültig in Gottes Ruhe eingehen werden. Und dann wird Gott mir in der Tat noch so manche Frage zu beantworten haben. Amen.

Zurück