Hiob 19,19-27 | Judika | Pfr. Dr. Martens

„Der liebe Gott hat mich in meinem Leben immer beschützt und es mir immer gut gehen lassen!“ – So stellt die Seniorin beim Geburtstagsbesuch des Pastors dankbar im Rückblick auf ihr Leben fest. Ja, da kann und will ich als Pastor ihr nicht widersprechen, wenn sie dankbar im Rückblick auf ihr Leben die Segensspuren Gottes in ihrem langen Leben wahrnimmt. Nein, wer wollte da schon behaupten, dass das alles nur Zufall war? Schwein gehabt ... Nein, natürlich ist Gott da der richtige Adressat für den Dank im Rückblick auf das Leben.

„Seit ich an Jesus glaube, läuft alles in meinem Leben richtig gut. All die Probleme, die ich früher hatte, hat er jetzt beseitigt: Er hat mir einen Aufenthalt in Deutschland gegeben, eine Wohnung, eine gute Arbeit. Ja, ich habe es erfahren, dass es sich wirklich lohnt, an Jesus zu glauben!“ Immer wieder höre ich solche Rückmeldungen in meiner Arbeit in der Gemeinde. Sollte ich diesen Menschen widersprechen, ihnen sagen, dass man das so einfach nicht sagen kann, dass man am Erfolg im Leben nicht ablesen kann, dass sich ein Leben mit Jesus lohnt? Aber wenn es denn gut im Leben läuft – ist es dann nicht völlig richtig, dies alles als ein Geschenk von Jesus anzusehen?

Ja, natürlich dürfen wir dankbar für alles Gute sein, das wir in unserem Leben erfahren. Und doch sollte dieser Dank nie die Gestalt annehmen, als sei dies gleichsam das Normale, sei nachgerade ein geistliches Gesetz: Wenn ich an Jesus glaube, wenn ich immer zum Gottesdienst gehe, wenn ich ganz bewusst mein Leben als Christ gestalte, dann muss es doch so sein, dass ich von Gott gesegnet werde, dass er mir seine Liebe darin erweist, dass er es mir in meinem Leben gutgehen lässt und mich vor allem Bösen und Schlechten bewahrt: Ja, an meinem Wohlergehen kann ich ablesen, dass Gott mich wirklich liebt!

Der Hiob, der hatte früher einmal vielleicht auch so gedacht, in Zeiten, als es ihm richtig gut ging, als er reich war, als er Kinder hatte, als er gesund war. Doch dann wurde ihm das alles mit einem Mal aus seiner Hand geschlagen, ohne dass er darin irgendeinen Sinn erkennen konnte: Warum nahm ihm Gott mit einem Mal alles, was sein Leben bisher ausgemacht hatte, warum nahm er ihm sogar seine Familie, ja seine Gesundheit? Das war doch einfach nur ungerecht von Gott, von diesem Gott, nach dessen Geboten er sich in seinem Leben immer so sehr und so treu gerichtet hatte!

Es gibt Menschen, die ihren Glauben verlieren, wenn ihnen in ihrem Leben etwas Schreckliches passiert, es gibt Menschen, die ihren Glauben so sehr daran gehängt hatten, dass es ihnen in ihrem Leben um ihres Glaubens willen immer gut gehen wird, und die dann erleben müssen, wie dieser Glaube gleichsam vor ihren Augen zerbricht: Lohnt es sich etwa doch nicht, an Jesus Christus zu glauben, wenn ich eines Tages die Nachricht erhalte, dass ich unheilbar erkrankt bin, dass ich nie wieder gesund werde? Lohnt es sich etwa doch nicht, an Gottes Fürsorge zu glauben, wenn Gott mir in meinem Leben einen lieben Menschen entreißt? Lohnt es sich etwa doch nicht, an Jesus Christus festzuhalten, wenn der deutsche Staat am Ende doch nicht anerkennen will, dass ich ein ernsthafter Christ bin?

Es gibt andere Menschen, die einfach alle Schicksalsschläge in ihrem Leben gleichmütig hinnehmen – wenn der liebe Gott das in meinem Leben so macht, dann wird das schon wichtig sein! „Gott ist groß“ – ja, diesen Satz höre ich immer wieder aus dem Munde unserer iranischen und afghanischen Brüder und Schwestern, die Christen geworden sind.

So einer ist der Hiob nicht, der einfach gleichgültig hinnimmt, was ihm in seinem Leben alles an Schrecklichem widerfahren ist. Er ist allerdings auch nicht einer, der sich einfach von Gott abwendet und das Thema „Gott“ in seinem Leben einfach endgültig abhakt. Hiob wählt einen anderen Weg, einen Weg, der auch uns heutzutage helfen kann, mit der Erfahrung von bitterem Leid und bitterem Unrecht umzugehen:

Zunächst einmal beklagt sich Hiob hier ganz offen über seine Freunde, die ihn in seiner Lebenssituation mit frommen Sprüchen zugedonnert hatten und dabei der festen Überzeugung waren, dass Hiob doch irgendetwas Schlimmes in seinem Leben getan haben musste, weil Gott ihn doch sonst sicher nicht so sehr strafen würde. Das ist nun das Allerletzte, was ein Mensch, der von Krankheiten oder Schicksalsschlägen getroffen worden ist, gebrauchen kann: Dass ihm da irgendwelche gutmeinenden Menschen hinten durch die Brust oder ganz direkt von vorne erklären, dass man doch wohl nicht genug geglaubt hätte, sonst wären diese Dinge doch alle nicht passiert. Ja, solche Hiobsfreunde gibt es auch heute noch, auch im christlichen Gewand: Da gibt es Kirchen, die damit Werbung machen, dass bei ihnen in den Gottesdiensten immer wieder Heilungen stattfinden, Kirchen, die davon überzeugt sind, dass Gott jedem Menschen, der wirklich an ihn glaubt, Gesundheit und Reichtum schenkt. Doch dann werden auch Glieder dieser Kirchen von Schicksalsschlägen in ihrem Leben getroffen – und so mancher Kirchenvertreter bekommt es dann in der Tat fertig zu behaupten, dass die betreffende Person dann ja wohl nicht intensiv genug geglaubt haben muss – sonst wäre ihr das alles nicht widerfahren, sonst hätte Gott auch schon längst ihre Krankheit geheilt. Solches Denken bringt schon hier im Alten Testament den Hiob so richtig auf die Palme: Solche frommen Sprüche, dass man einfach nur fest genug an Gott glauben muss und dann alles im Leben gutgeht, die sind für ihn in seiner Lebenssituation unerträglich. „Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch?“ – So wirft er es hier seinen Freunden an den Kopf. Ja, lernen wir von Hiob, von einem Betroffenen, dass auch wir Menschen, die von Schicksalsschlägen getroffen sind, nicht dadurch trösten, dass wir versuchen, ihnen zu zeigen, dass das doch eigentlich an ihnen liegt, dass es ihnen jetzt so schlecht geht, dass sie einfach nur noch mehr glauben müssten.

Doch Hiob klagt hier nicht nur das unsensible Verhalten seiner Freunde an, für die das Denken, dass jeder Mensch das von Gott bekommt, was er vorher selber getan hatte, so sehr ihr Weltbild prägt, dass sie mit aller Gewalt daran festhalten. Sondern er wendet sich eine Etage höher an Gott selber, wirft ihm ganz offen an den Kopf, dass Gott ihn ungerecht behandelt, dass das nicht fair ist, wie er, Gott mit ihm umgeht. Unerträglich ist für Hiob der Gedanke, dass dieses Unrecht bis ans Ende seines Lebens weiterbestehen könnte und bis ans Ende seines Lebens der Eindruck bei den Menschen übrigbleibt, er, Hiob habe es vielleicht doch verdient, dass ihm das alles widerfahren ist. Und darum wünscht sich Hiob, dass seine Reden aufgeschrieben, in Stein gemeißelt werden, dass in aller Zukunft die Menschen, die das lesen, verstehen werden: Gott hat hier einen unschuldigen Menschen zu Tode gequält. Eine tiefe Sehnsucht nach Gerechtigkeit kommt in diesen Worten des Hiob zum Ausdruck. Es kann doch nicht sein, dass das Unrecht, das ich jetzt erfahre, das Letzte ist, was Bestand haben wird!

Ich erlebe solche Hiobs-Situationen immer wieder in meiner Arbeit in unserer Gemeinde: Menschen, denen in ihrem Leben so viel Unrecht zugefügt worden ist, dass einem fast der Atem wegbleibt, wenn man davon hört, Menschen, die allmählich schon die Hoffnung verloren haben, dass Gott dieses Unrecht noch einmal wenden wird. Ja, da kann ich dann auch oft nur gemeinsam mit diesen Menschen zu Gott klagen und ihn immer wieder fragen: Warum tust du mir, tust du diesem anderen Menschen an meiner Seite dies alles an? Ja, da kann sich das Verhältnis zu Gott schon richtig verdunkeln, dass man am Ende eigentlich gar nicht mehr mit ihm, Gott, überhaupt sprechen will.

Doch dann erleben wir hier bei Hiob mit einem Mal einen Stimmungsumschwung: Mitten in seiner Verzweiflung spricht er mit einem Mal ein Bekenntnis, dessen Worte uns so vertraut sind: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Trotz aller schrecklichen Erfahrungen, die Hiob nur noch klagen lassen, hat Hiob doch diese Gewissheit, dass da am Ende seines Lebens einer stehen wird, der ihm Recht geben wird, der ihn erkennen lassen wird, was dieser ganze Irrsinn, den er in seinem Leben erfahren hat, letztlich doch für einen guten Sinn hatte. Die Ausleger des Buches Hiob streiten sich darüber, ob der Hiob hier in diesen Versen, die wir eben gehört haben, schon über ein Leben jenseits der Todesgrenze spricht, oder ob er in seiner letzten Verzweiflung doch noch seiner Hoffnung Ausdruck verleiht, dass Gott am Ende doch gar nicht anders kann, als ihm auf seine Fragen zu antworten.

Wie kann ein Mensch, dem sich das eigene Bild von Gott aufgrund von furchtbaren Erfahrungen in seinem Leben völlig verdunkelt hat, am Ende doch noch wieder Vertrauen schöpfen, Vertrauen auf eben diesen Gott, der ihn in seinem Leben so ungerecht behandelt hat? Als Christen wissen wir, was wir zu tun haben, wenn wir solche Erfahrungen in unserem Leben machen: Wir dürfen uns an Jesus Christus klammern, dürfen ihn unseren „Erlöser“ nennen, der für uns eintritt, wenn wir in unserem Glauben gar nicht mehr weiterkommen.

Ja, an diesen Erlöser dürfen wir uns klammern, wenn uns sonst nichts mehr hält, weil dieser Erlöser selber tiefstes Unrecht in seinem Leben erfahren hat, Unrecht, das schließlich bis zu seinem Tode Bestand hatte, ja ihn zu Tode brachte. „Judika“ heißt dieser heutige Sonntag, mit dem die Passionszeit im engeren Sinne beginnt. „Judika“ – das ist der Beginn des lateinischen Introituspsalms, in dem wir Jesus Christus selber klagen hören: „Schaffe mir Recht, Gott, und führe meine Sache wider das treulose Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten! Denn du bist der Gott meiner Stärke. Warum hast du mich verstoßen?“ Ja, so betet Christus selber; er weiß, wie es uns geht – und er tritt für uns vor seinem Vater im Himmel ein. Und dieser Erlöser hat zugleich meine Schuld und die Schuld aller Menschen auf sich genommen, als er für uns am Kreuz starb. Ja, dieser Erlöser ist dann am dritten Tag auferstanden und steht nun bereit, als Richter das letzte Urteil in unserem Leben zu sprechen. Ja, es wird noch einmal ein letztes Gericht geben, in dem alles Unrecht dieser Welt zur Sprache kommen wird, in dem auch die zur Verantwortung gezogen werden, die sich jetzt hier auf Erden noch ihrer Verantwortung haben entziehen können. Doch wir brauchen uns vor diesem Gericht nicht zu fürchten, denn die Hände dieses Richters sind von seinen Nägelmalen durchbohrt. Ja, dieser Christus wird einmal alles Leid, alles so unverständliche Leid in unserem Leben tausendfach aufwiegen, wenn wir ihn einmal mit eigenen Augen sehen werden. Was Hiob kaum ahnungsweise erfasst hat, dessen dürfen wir gewiss sein: Ich werde am Ende, nach meinem Tod, tatsächlich einmal Gott selber sehen, jawohl, ich selber, derselbe Mensch, der Gott jetzt noch so gar nicht verstehen kann. Ich werde ihn am Ende sehen, und in dem Augenblick, in dem ich ihn selber sehen werde, wird einmal alles, wirklich alles gut sein. Das allein, nein: Der allein, dieser Jesus Christus, lässt uns nicht verzweifeln. Sein Kreuz steht fest, selbst wenn uns alles, wirklich alles sonst in unserem Leben genommen wird. Ja, diesem Mensch gewordenen Gott, dem können wir in der Tat – vertrauen! Amen.

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