Hiob 23 | 11. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

„Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ – Es ist fast auf die Stunde genau 80 Jahre her, dass Adolf Hitler vor dem Reichstag mit dieser Lüge den deutschen Überfall auf Polen und damit den Beginn des Zweiten Weltkriegs rechtfertigte. Unendliches Leid hat dieser Angriff und das, was darauf folgte, mit sich gebracht. Die monströsen Zahlen, die man hierfür nun zur Erläuterung anführen könnte, vermögen nicht angemessen das Leid zu umschreiben, das jedem Einzelnen der vielen Millionen Betroffenen in der Folgezeit widerfahren ist. Polen war nicht zuletzt die Heimat vieler Millionen Juden, die in der Folgezeit in Ghettos eingesperrt und schließlich vernichtet wurden.

Es gibt nur noch wenige Glieder unserer Gemeinde, die sich an diesen Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs noch persönlich erinnern können. Doch Menschen, die in ihrem Leben selber unfassliches Leid erfahren haben, die sitzen auch heute Morgen in großer Zahl hier in unserem Gottesdienst: Menschen, die am eigenen Leibe in Afghanistan erlebt haben, was Krieg heißt, was es bedeutet, wenn eigene Familienangehörige in diesem Krieg getötet werden. Menschen, die es im Iran erlebt haben, wie ein Regime, das den Holocaust leugnet oder gar verherrlicht, sie oder andere Familienangehörige eingesperrt und mit dem Tod bedroht hat. Nein, es geht nicht darum, jetzt das eine mit dem anderen zu vergleichen oder gar das eine oder das andere zu relativieren. Wenn wir heute an diesem 1. September 2019 hier in dieser Kirche, die in der Folge dieses Krieges wenige Jahre später vollkommen zerstört wurde, der Opfer dieses Krieges und der Opfer anderer Kriege und Terrorregime gedenken, dann drängt sich uns dabei natürlich unweigerlich die Frage nach Gott auf: Was ist das für ein Gott, der dieses entsetzliche Leid des Krieges, diese Vernichtung von Millionen von Menschen zuließ, was ist das für ein Gott, der auch das unfassliche Leid im Leben so vieler Glieder unserer Gemeinde zuließ und zulässt?

Und damit sind wir nun schon mitten drin in der Predigtlesung dieses heutigen Sonntags aus dem Buch Hiob. Hiob, wir wissen es, war ein Mensch, dem es in seinem Leben richtig gut ging – bis ihm Gott in kurzer Zeit alles raubte, was er hatte: seine Familie, seinen Besitz, seine Gesundheit. Und dann kamen seine Freunde und versuchten zu erklären, was ihm da widerfahren war, versuchten es damit zu erklären, dass Hiob in seinem Leben doch irgendwo schwer gesündigt haben müsste, weil Gott einem Menschen in seinem Leben doch immer das widerfahren lässt, was er sich selber mit seinen bösen Taten eingebrockt hat. Karma nennt man das heute. Doch Hiob protestiert: Das stimmt nicht. Ich habe diese schwere Sünde nicht begangen; euer Denken stimmt nicht, dass Gott jedem das gibt, was er verdient! Und im Verlauf seiner heißen Diskussion mit seinen Freunden bringt Hiob seine tiefe Sehnsucht danach zum Ausdruck, von Gott selber freigesprochen, gerechtfertigt zu werden, ja, von Gott selber eine Erklärung dafür zu bekommen, warum er all dies durchleiden musste, was ihm in seinem Leben widerfahren ist.

Doch Gott meldet sich nicht; er lässt sich nicht finden. Er schweigt und lässt Hiob in seinem Unglück, in seiner Verzweiflung allein. Und das wirft Hiob Gott nun in der Predigtlesung des heutigen Sonntags vor den Kopf: Dass er sich nicht finden lässt, dass er ihm das Recht nicht gibt, das ihm doch zusteht, dass er für Hiob nur noch wie eine Fratze erscheint, vor der er nur noch erschrecken kann. Doch eines macht Hiob nicht: Er gibt nicht auf in seinem Protest gegen Gott: Was ich auch an Finsterem werde erfahren müssen: Ich werde weiter mein Recht bei Gott einfordern!

Was für eine bewegende, aktuelle Lesung an diesem 1. September! Da ringt ein Mensch angesichts des unsäglichen Leides, das er erfahren hat, mit Gott – und erhält keine schöne, einfache, passende Antwort.

Ach, Schwestern und Brüder, was wir hier bei Hiob lesen, ist etwas ganz, ganz anderes als der heute hier in unserem Land so gängige Salon-Atheismus, der den Verweis auf das Leid in der Welt als billigen Vorwand nimmt, um sich nicht weiter im Leben mit Gott beschäftigen zu müssen: „Ich kann nicht an einen Gott glauben, der so viele Menschen in dieser Welt leiden lässt“, sagte die Dame und stieg in ihren SUV, um am Sonntagmorgen zum Golfspielen zu fahren. Nein, das ist keine Auseinandersetzung mit Gott, das ist einfach nur Bequemlichkeit und Denkfaulheit. Für das, was wir hier im Buch Hiob lesen, haben eben auch so viele Entscheider des Bundesamtes und Verwaltungsrichter keinerlei Verständnis, die einfach nicht begreifen können, warum jemand, der schlechte Erfahrungen mit dem Islam gemacht hat, nicht einfach religionslos bleibt. Das ist doch scheinbar die viel einfachere, logischere Lösung!

Doch Hiob widerspricht: So einfach lässt sich Gott nicht entsorgen, so einfach bin ich nicht dazu bereit, das Thema „Gott“ zu den Akten zu legen, wie dies heute oft genug in unserer westlichen Dekadenz geschieht. Aber Gott lässt sich eben auch nicht so einfach zu einem Kuschel-Gott verharmlosen, wie dies heutzutage leider auch in kirchlichen Kreisen immer wieder geschieht: Da wird gerade in scheinbar frommen Kreisen genau das verkündigt, was die Freunde Hiobs dem armen Hiob an den Kopf werfen, aufgepeppt mit etwas positivem Denken: Du bekommst genau das, was du willst! Du musst nur fest genug an Jesus glauben, dann geht es dir immer gut, dann hast du in deinem Leben Erfolg, dann wirst du gesund, dann verschwinden deine Probleme! Was für ein Irrsinn! Hier in Berlin hat ein Prediger in einer solchen Gemeinde allen Ernstes behauptet, die verfolgten Christen seien selber schuld an ihrem Geschick, weil sie nicht fest genug an Jesus geglaubt hätten! Und solche Irrlehrer ziehen überall die Menschen an sich, weil es ja eine so schöne, nette Botschaft ist, die sie verkündigen: Du hast es selber in der Hand, ob es dir in deinem Leben gut geht! Nein, hast du nicht, sagt Hiob: „Gott hat’s beschlossen, wer will ihm wehren? Und er macht’s, wie er will. Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hat noch mehr derart im Sinn. Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht.“

Schwestern und Brüder: Wenn wir besser verstehen wollen, was Hiob hier sagt, können uns gerade die Zeugnisse von Juden aus der entsetzlichen Zeit des Nationalsozialismus eine Glaubens- und Verstehenshilfe sein. Ich denke an die Worte, die man nach dem Krieg an der Wand eines Kellers in Köln gefunden hat, in dem sich während des Krieges einige Juden versteckt hatten: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.“ Und ich denke vor allem an das bewegende Meisterwerk des jüdischen Schriftstellers Zvi Kolitz, der in einer fiktiven Erzählung das Vermächtnis eines Juden namens Jossel Rakover kurz vor der endgültigen Zerstörung des Warschauer Ghettos beschreibt. Ich zitiere: „Ich bin Ihm, Gott, nachgegangen, auch wenn Er mich von sich gestoßen hat. Ich bin Seinen Geboten gefolgt, auch wenn Er mich dafür geschlagen hat. Ich habe Ihn lieb gehabt, ich bin in Ihn verliebt gewesen und geblieben, auch wenn Er mich bis in den Staub erniedrigt, zu Tode gepeinigt, Gespött und Schande preisgegeben hat. Mein Rabbi pflegte mir immer wieder die Geschichte von einem Juden zu erzählen, der mit Frau und Kind der spanischen Inquisition entkommen war und sich auf einem kleinen Boot über stürmische See zu einer steinigen Insel durchgeschlagen hatte. Da zuckte ein Blitz auf und erschlug die Frau. Da kam ein Sturmwind und wirbelte sein Kind ins Meer. Allein, elend, hinausgeworfen wie ein Stein, nackt und barfuß, vom Sturm gepeitscht, von Donnern und Blitzen geschreckt, die Haare zerzaust und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude seinen Weg weitergegangen auf die wüste Felseninsel und hat sich so an Gott gewandt: "Gott Israels", sagte er, "ich bin hierher geflohen, dass ich Dir ungestört dienen kann: um Deine Gebote zu tun und Deinen Namen zu heiligen. Du aber tust alles, dass ich an Dich nicht glauben soll. Wenn Du aber meinen solltest, dass es Dir gelingen wird, mich mit diesen Versuchungen vom richtigen Weg abzubringen, ruf ich Dir zu, mein Gott und Gott meiner Eltern, dass es Dir alles nicht helfen wird. Magst Du mich auch beleidigen, magst Du mich auch züchtigen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich habe auf der Welt, und mich zu Tode peinigen - ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer lieb haben, immer - Dir selbst zum Trotz!" Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender. Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit Seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert. "Schma Isroel! - Höre Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr ist Einer! In Deine Hände, o Herr, empfehle ich meinen Geist!"“

Was für ein Umgang mit Gott, von dem wir uns mehr als nur eine Scheibe abschneiden können! Was für ein Ernstnehmen Gottes, ganz anders als der primitive Salon-Atheismus unserer Tage! Zeugnis eines Menschen, der bis zum letzten Atemzug weiß, dass ich Gott in meinem Leben niemals einfach so zur Seite packen kann wie ein schlechtes Buch, in dem ich einfach nicht weiterlese.

Und wenn wir solchen Glauben nicht aufbringen können? Wenn wir es einfach nicht schaffen, gegen allen Augenschein und gegen alle Erfahrung an Gott festzuhalten? Es stimmt ja, was Hiob hier sagt: „Gehe ich nach Osten, so ist er nicht da; gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht. Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht.“ Wir können Gott nicht finden, wie sehr wir ihn auch suchen mögen. Und wir finden ihn erst recht nicht, wenn wir versuchen, auf das Leid, das wir in dieser Welt erfahren, irgendeine Antwort zu finden!

Doch gottlob, dieser Gott, den wir im Geschick unseres Lebens und im Geschick unserer Welt zumeist so gar nicht verstehen und begreifen können, der hat sich uns zu erkennen gegeben, ist selber Mensch geworden in Jesus Christus. Nein, Jesus Christus ist nicht einfach die Antwort auf unsere Fragen nach dem Leid in dieser Welt, nach dem Leid in unserem Leben. Doch dieses eine dürfen wir eben wissen: In diesem Jesus Christus hat Gott das Leid dieser Welt zu seinem eigenen Leid gemacht, hat selber gelitten, hat selber gerufen: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diesem Gott ist unser Leid nicht fern, sind unsere Fragen nicht fern. Und in dem Antlitz des Gekreuzigten dürfen wir das Gesicht Gottes selber erkennen, das Gesicht eines Gottes, der, so unfasslich es erscheinen mag, in seinem tiefsten Wesen doch die Liebe ist und bleibt.

Damit sind für uns die Fragen nach dem Unrecht in dieser Welt nicht beantwortet, nicht die Fragen danach, warum damals die Verbrechen vor 80 Jahren geschehen konnten, nicht die Fragen danach, warum Gott all das Unrecht zulässt, das auch heute in unserem Land unseren Schwestern und Brüder zugefügt wird, warum Gott das zulässt, dass auch heute in unserem Land Menschen wieder Angst haben müssen vor ihrer Deportation in den Tod. Aber wenn wir uns denn so an Gott gegen alle Erfahrungen klammern, wie es einst Hiob getan hat, wie es Jossel Rakover getan hat, dann dürfen wir dabei in ein Gesicht blicken, das uns im Leiden liebevoll anblickt. Ja, dann greifen wir nicht einfach in ein Nichts, sondern haben etwas, woran wir uns in all unseren Fragen klammern dürfen: An den Leib und das Blut des gekreuzigten Christus. „Ach, dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seiner Stätte kommen könnte!“ – So rief Hiob damals. Schwestern und Brüder: Wisst ihr, wie gut ihr es habt, dass ihr zu dieser Stätte, zu diesem Altar kommen dürft, dass ihr auch heute hier Gott finden dürft? Amen.

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