1. Johannes 1,1-4 | 2. Sonntag nach dem Christfest | Pfr. Dr. Martens
In diesem vergangenen Jahr 2021 gab es hier in Berlin eine große Aufregung um das Berliner Stadtschloss. Da hatte man sich doch dafür entschieden, das Schloss zumindest nach außen hin wieder einigermaßen originalgetreu aufzubauen – und dann hatte man in diesem Zusammenhang auch die Kuppel des Schlosses wieder so gestaltet, wie sie einmal ursprünglich bis zur von Walter Ulbricht befohlenen Sprengung des Schlosses nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesehen hatte. Doch, o Schreck! Da hatte der fromme König Friedrich Wilhelm IV. doch damals oben an der Kuppel ein Spruchband anbringen lassen mit den Bibelworten:
„Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“
Als dieses Spruchband nun zu sehen war, war die Aufregung groß – wie kann man denn solche Worte heute noch der Öffentlichkeit zumuten! Der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Christian Stäblein, brachte die Kritik an diesem Spruchband auf den Punkt: „Intolerante Exklusivitätsansprüche sind – auch als historische Zitate – gefährlich und brauchen Gegenbilder.“ Bibelzitate sind gefährlich und brauchen Gegenbilder – Der Bischof bringt es auf den Punkt, was heutzutage wohl die breite Mehrheit der Bevölkerung denkt. Und so sollen nun Tafeln am Humboldt Forum aufgestellt werden, auf denen es heißt: „Alle Institutionen im Humboldt Forum distanzieren sich ausdrücklich von dem Alleingültigkeits- und Herrschaftsanspruch des Christentums, den die Inschrift zum Ausdruck bringt.“
Nun mögen wir als Lutheraner König Friedrich Wilhelm IV. eigentlich ganz gerne, war er doch der König, der die Verfolgungsmaßnahmen seines Vorgängers gegen die Lutheraner in Preußen beendete. Doch es hat andere Gründe, warum wir als lutherische Christen uns nicht von diesen Bibelworten aus der Apostelgeschichte und aus dem Philipperbrief distanzieren oder sie gar für gefährlich halten. Die heutige Predigtlesung aus dem 1. Johannesbrief liefert uns dazu auch gleich die nötigen Argumente.
Ist es nicht in der Tat völlig intolerant und altmodisch, wenn eine Religion behauptet, sie sei die einzig wahre Religion? Leben wir nicht in einem Zeitalter, in dem wir längst erkannt haben, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit in sich trägt und keiner dem anderen vorschreiben kann, was für ihn denn wahr zu sein hat? Ja, ist der Schritt zu Religionskriegen nicht sehr klein, wenn eine Religion von sich behauptet, sie würde eine Wahrheit vertreten, die auch für andere Menschen gelte?
Doch wer so argumentiert, hat von vornherein einen grundlegenden Fehler gemacht: Er geht nämlich davon aus, dass es im christlichen Glauben um „das Christentum“ oder gar, noch schlimmer, um die „christliche Religion“ gehe, die ihren Gedanken in der Bibel Ausdruck verleihe. Sobald wir uns mit unserer Argumentation auf dieser Ebene bewegen, ist alles verloren, können wir am Ende nur noch mehr oder weniger peinliche Rückzugsgefechte führen.
Doch St. Johannes macht uns in der Predigtlesung des heutigen Tages deutlich, dass es im christlichen Glauben um etwas ganz anderes geht: Nicht um „das Christentum“, sondern um das, „was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben“. Warum betont St. Johannes dies hier so nachdrücklich? Als er seine Briefe schrieb, da war eine Bewegung auf dem Vormarsch, die immer weiter auch in die christlichen Gemeinden eindrang, auch in die Gemeinden des Johannes, eine Bewegung, die behauptete, jeder Mensch könne den Funken der göttlichen Wahrheit in sich selber, in seinem Inneren entdecken, und Jesus sei als Lehrer in diese Welt gekommen, um die Menschen dazu anzuleiten, diesen Funken der göttlichen Wahrheit in sich zu finden. Das klang alles sehr fromm – und doch war das eine Botschaft, die der Botschaft der Apostel diametral entgegenstand: In dieser Botschaft dieser neuen Bewegung, die man „Gnosis“ nannte, spielten geschichtliche Ereignisse überhaupt keine Rolle, musste sich der Mensch am Ende selber erlösen, indem er diesen göttlichen Seelenfunken in sich erkannte und sich darum bemühte, sich aus den Bindungen dieser Welt, also von allem Leiblichen zu befreien.
Doch Johannes betont hier: Das Entscheidende im christlichen Glauben ist einzig und allein das einmalige Kommen Gottes in diese Welt, das einmalige Ereignis, dass Gott selber Mensch geworden ist, jawohl, wirklich Mensch, zu hören, zu sehen, zu berühren. Gott hat sich ein für alle Mal ganz festgelegt, in einem geschichtlichen Menschen – und dabei geht es nicht nur darum, dass wir von diesem Menschen interessante Informationen über Gott und unser Leben erhalten, sondern in diesem Menschen ist nicht weniger als das göttliche Leben, an dem auch wir Anteil gewinnen können. Es geht nicht darum, dass wir Menschen uns über Gott Gedanken machen und uns dann mit anderen darüber streiten, wessen Gedanken wohl richtig oder besser oder schöner sind. Es geht einzig und allein darum, dass wir uns dem Selbstanspruch dessen stellen, der das Leben, ja Gott selber in Person ist.
Nein, natürlich geht es nicht darum, dass der, der dieses göttliche Leben in Person ist, diesen Selbstanspruch mit Gewalt, vielleicht gar mit militärischer Gewalt durchsetzen würde. Er hat diesen Selbstanspruch darin zum Ausdruck gebracht, dass er sich für diesen Anspruch hat ans Kreuz nageln lassen. Und entsprechend geht es auch für die, die diesen Anspruch des Einen bezeugen, nicht darum, dass sie diesen Anspruch mit Gewalt durchsetzen, sondern dass sie ihn allein verkündigen, dass sie mit ihrem Wort zu diesem göttlichen Leben in der Person von Jesus Christus einladen.
Natürlich kann man kritisch hinterfragen, ob es die Aufgabe von Königen ist, diese Verkündigung zu betreiben; doch verstand sich Friedrich Wilhelm IV. damals ja auch oberster Bischof seiner Kirche. Dass diese Vermengung von staatlicher Macht und kirchlicher Autorität problematisch ist, haben wir gerade als lutherische Kirche im Verlaufe der letzten 200 Jahre erfahren. Doch niemals hereinfallen dürfen wir auf den Trugschluss, als ob die Verkündigung, dass Gott in Jesus Christus und eben nur in Jesus Christus Mensch geworden ist, Ausdruck von Intoleranz sei und entsprechend relativiert werden müsse.
Es geht doch nicht um Rechthaberei – es geht, so betont es St. Johannes hier so eindrücklich, um das Leben, um das Leben, das ewig ist und uns erschienen ist. Hier fällt auch heute im Jahr 2022 die Entscheidung zwischen christlicher Botschaft und Gnosis: Wer die Botschaft, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist, nur für einen schönen religiösen Gedanken hält, den jeder Mensch für sich selber in eigener Weise weiterspinnen kann, ja, wer auch die Botschaft des Johannes selber nur für einen schönen religiösen Gedanken neben vielen anderen schönen religiösen Gedanken hält, der begibt sich in die Gefolgschaft der Gnosis, von der St. Johannes einige Kapitel weiter schreibt: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn viele falsche Propheten sind hinausgegangen in die Welt.“ Wer dagegen der Botschaft des Johannes folgt, der kann gar nicht anders als zu bekennen, dass Jesus Christus tatsächlich der einzige Weg zu Gott, der einzige Retter ist, weil in ihm Gott selber sichtbar, hörbar, anfassbar geworden ist, weil in ihm allein das Leben zu finden ist.
Ja, letztlich geht es darum, so führt es St. Johannes hier abschließend aus, ob wir den Dreieinigen Gott selber nur für einen netten menschlichen theologischen Gedanken halten oder für die letzte Wirklichkeit dieser Welt und unseres Lebens. Denn genau darum geht es Johannes in seiner Verkündigung, dass „ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.“ Darin besteht unser Heil, unsere Rettung: Dass wir in die ewige Liebesgemeinschaft des Dreieinigen Gottes hineingezogen werden. Und da möchte ich wahrlich kein „Gegenbild“ zu diesem Heil und seiner Verkündigung haben, wie es Bischof Stäblein gefordert hat.
Es geht in der Tat um das Knien, wie es auch in der Inschrift auf der Schlosskuppel steht. Es geht in der Tat darum, vor wem ich eigentlich niederknie. Nein, als Christen zwingen wir niemand auf die Knie; aber wenn wir vor Jesus Christus niederknien, dann bringen wir in der Tat zum Ausdruck: In ihm allein ist das Leben, das ewig ist; das kann ich nicht relativieren, das ist nicht nur Gedanke, sondern Realität, die auch ganz unabhängig von meinen persönlichen Gedanken gilt.
Und darum ist das Heilige Abendmahl gleichsam der Lackmus-Test dafür, auf welcher Seite wir eigentlich stehen: Auf der Seite des Johannes oder auf der Seite der Gnosis. Für die Gnosis spielte das Heilige Abendmahl keine Rolle; in ihr geht es ja nur um Gedanken. Und in ähnlicher Weise wird das Heilige Abendmahl auch heute in vielen Kirchen nur als Ausdruck unserer menschlichen religiösen Gedanken verstanden: Wir denken an Jesus, wir bringen unseren Glauben damit zum Ausdruck. Doch da gibt es eigentlich nichts, wovor man niederknien kann. Doch wir knien hier am Altar nieder, wenn es uns denn orthopädisch möglich ist, weil wir wissen: Hier sind nicht nur Brot und Wein, über die wir uns fromme Gedanken machen. Sondern hier ist er selber, der Mensch gewordene, anfassbare Gott, mit seinem Leib und Blut, vor dem ich wirklich nur auf die Knie sinken kann, weil in ihm das Leben ist. Und wir knien nieder in der Vorfreude darauf, dass eines Tages in der Tat einmal alle Menschen ohne Ausnahme vor ihm niederknien werden, weil er eben der Herr, Gott selber, ist und es keinen Gott außer ihm gibt. Nein, wir sind gerade nicht altmodisch, wenn wir uns mit unserem Knien zu Christus bekennen, wir sind unserer Zeit voraus, machen jetzt schon, was einmal am letzten Tag dieser Welt alle Menschen machen werden, ja, auch die, die sich jetzt über die Worte oben an der Schlosskuppel so inbrünstig empören. Vor Christus werden wir alle einmal niederknien, nicht vor dem Christentum – an dem Tag, an dem Christus uns dann auch einmal einen neuen Leib geben wird, ohne verschlissene Gelenke, an dem Tag, an dem unsere Freude tatsächlich einmal endgültig vollkommen sein wird. Ja, das wirst auch du erfahren – am eigenen Leibe! Amen.