1.Johannes 1,1-4 | Tag des Evangelisten St. Johannes | Pfr. Dr. Martens
Da sitzen sie mit ihren elektronischen Geräten unten bei uns in den Gemeinderäumen und zum Teil eben leider auch hier oben in der Kirche und spielen: Alle möglichen elektronischen Spiele haben sie auf diesen Geräten geladen, und wenn man erst einmal anfängt, diese Spiele zu spielen, dann kommt man sehr schnell nicht mehr von ihnen los, versinkt in einer ganz eigenen Welt, die mithilfe moderner Technik immer realistischer erscheint, immer dichter an das herankommt, was wir für das normale Leben halten. Leben in virtuellen Welten – das ist für so viele Menschen heute schon normal, zum Teil so normal, dass sie Schwierigkeiten haben, überhaupt noch richtig zwischen der Alltagsrealität und dieser künstlichen Realität unterscheiden zu können. Ja, was ist dann eigentlich noch das wahre Leben?
Wenn der Apostel und Evangelist St. Johannes hier in seinem ersten Brief von dem Leben, das erschienen ist, von dem wahren Leben, spricht, dann hinterfragt er mit seinen Worten jedoch nicht nur all diejenigen, die immer mehr in irgendwelchen virtuellen Welten versinken. Sondern er bestreitet auch, dass das Leben, das so viele Menschen in unserem Land auch ganz ohne Computerspiele führen, etwas mit dem wahren Leben zu tun hat, von dem er, der Apostel, zu berichten weiß. Nein, das wahre Leben, das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, ist nicht schon da zu finden, wo man sich zu Weihnachten im gemütlichen Familienkreis zum Gänsebraten versammelt. Das wahre Leben, das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, ist nicht schon da zu finden, wo Menschen uns für das, was wir in unserem Leben tun und leisten, Bescheinigungen ausstellen und Belohnungen verteilen. Das wahre Leben, das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, habe ich nicht dort, wo ich endlich meine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in den Händen halte oder das Zertifikat für die Sprachprüfung oder meine Gehaltsabrechnung oder meinen Rentenbescheid. Das wahre Leben, das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, finde ich nicht dort, wo ich meine Hobbys betreibe, wo ich mich gut unterhalte. All das ist schön und gut und ganz gewiss auch ein Geschenk von Gott, gar keine Frage. Aber es ist eben nicht das wahre Leben, nicht das Leben, das ewig ist, wie St. Johannes es hier formuliert. All das, was Menschen als das Leben bezeichnen und erfahren mögen, erweist sich früher oder später als vergänglich, ist irgendwann vorbei, wertlos, vergessen.
Doch nun berichtet uns St. Johannes in der Epistel des heutigen Festtags von einem ganz anderen Leben. Dieses Leben ist nicht bloß eine Idee oder Fantasie. Es ereignet sich nicht bloß kurz einmal in dem einen oder anderen Glücksmoment. Sondern dieses Leben hat völlig andere Dimensionen als all das, was wir sonst in unserem Leben erfahren. Es war von Anfang an und führt bis in die Ewigkeit. Aber es befindet sich nicht einfach im Himmel, sondern es ist zu uns gekommen, für uns ganz direkt erfahrbar geworden. Geradezu stammelnd berichtet St. Johannes von dem, was er selber erlebt hat: Was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben – das verkündigen wir euch! Das Leben, das diesen Namen wirklich verdient, das ewig ist, dieses Leben ist keine Idee, sondern eine Person, die man finden, betrachten, anfassen konnte – in einem Futtertrog in Bethlehem, angenagelt an ein Kreuz vor den Stadttoren in Jerusalem und schließlich auch ebenso sichtbar und anfassbar nach seiner Auferstehung.
Das wahre Leben findest du also nur in der Verbindung mit ihm, Jesus Christus. Der schenkt dir dieses Leben, das er selber in sich trägt, dieses Leben, das nicht bloß virtuell ist, das nicht wieder weg ist, wenn der Akku leer ist, das nicht wieder weg ist, wenn die Familienfeier zu Ende geht oder wenn man krank wird, das wahre Leben, das selbst dann noch bleibt, wenn wir auf dem Sterbebett liegen.
Wie gesagt: Dieses wahre Leben ist nicht bloß ein schöner Gedanke oder eine schöne Vorstellung. Es ist ganz real, so bezeugt es St. Johannes. Er hat damals Jesus noch mit eigenen Augen sehen können – und hat zugleich doch tiefer geblickt, hat viel mehr gesehen und erkannt, als so viele Menschen in seiner Umgebung damals sehen und erkennen konnten. Und so leitet er uns auch zum Sehen dieses neuen Lebens an. Ja, vom Sehen des wahren Lebens singen wir jetzt gleich wieder, wenn es in der Feier des Heiligen Altarsakraments heißt: „Sichtbar schauen wir Gott, der in uns die Liebe zu den unsichtbaren Güter entzündet.“ Und nach dem Empfang des Leibes und Blutes des Herrn singen wir es dann alle miteinander: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Ja, ich weiß, du hast nur eine kleine weiße Hostie gesehen. Aber du hast zugleich doch viel mehr geschaut: deinen Herrn, der sich in der Krippe von Bethlehem so klein gemacht hat für dich und der sich hier im Heiligen Mahl nun auch wieder so klein macht. Deinen Herrn hast du geschaut, wenn du vom Altar wieder an deinen Platz zurückkehrst, ja mehr noch: Du hast ihn berührt, mit deinen Lippen betastet, bist genauso dicht an ihm drangewesen wie St. Johannes damals auch. Und damit hast du es auch: das wahre, das ewige Leben, trägst es in dir, auch in deinem ganz normalen Alltag, in den du nun zurückkehrst. Ach, was ist das spannendste Computerspiel, was ist der gemütlichste Familienabend im Vergleich zur leibhaftigen Begegnung mit dem, der von Ewigkeit her war und dich in die Ewigkeit führt!
Und diese Erfahrung machst du, wie gesagt, nicht allein. Niemals geht es im christlichen Glauben einfach nur um die persönliche Beziehung zwischen Jesus und dir, so, als ob dies nur deine Privatangelegenheit, nur deine Privaterfahrung wäre. Ja, ganz besondere Erfahrungen mit Jesus hat auch der heilige Johannes damals gehabt. Aber er kann und will sie eben nicht für sich behalten, sondern verkündigt sie, schreibt sie nun auch auf in seinem Brief, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt, so formuliert und betont er es hier. Christlicher Glaube ist immer Glaube in einer Gemeinschaft, ist Glaube in der Gemeinschaft mit den Aposteln, mit denen, die zuerst ihn, Christus, gehört, geschaut, betastet, verkündigt haben, ist Glaube in der Gemeinschaft der Kirche aller Zeiten, die aus dem Wort der Apostel lebt und in diesem Hören auf das Wort der Apostel geeint ist.
Ja, genau so erfahren wir es auch hier in jedem Gottesdienst: Wir sind nicht für uns allein Christen. Und wir sind in Wirklichkeit sogar noch viel mehr, als wir hier im Augenblick sehen können. Unsere Gemeinschaft umfasst die Glaubenszeugen aller Zeiten. Als wir eben das Nizänische Glaubensbekenntnis gesprochen haben, als wir uns zu Jesus Christus als dem wahren Gott und dem wahren Leben bekannt haben, da haben wir dieses Bekenntnis gesprochen mit Christen aus all den Jahrhunderten vor uns, mit dem Bischof aus Herat in Afghanistan, der damals vor 1700 Jahren mit dabei war in Nizäa, als dieses Bekenntnis formuliert wurde, mit den Märtyrern und Heiligen aller Zeiten – und auch mit Christen überall auf der Welt, die jetzt in diesen Tagen dieses Bekenntnis mit uns sprechen. Wie wunderbar, dass wir es in dieser Gemeinschaft sprechen dürfen, dass wir von dieser Gemeinschaft in unserem Glauben getragen sind! Mein Glaube hängt nicht von meinen persönlichen Einsichten und Gefühlen ab. Ich habe eine Gemeinschaft, in der ich stehe, und diese Gemeinschaft verbindet mich nicht nur mit anderen Christen, sondern in dieser Gemeinschaft bin ich – man wagt es kaum auszusprechen – verbunden mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Ja, in der Gemeinschaft der Kirche, die am Leben von Jesus Christus Anteil hat, bin ich hier und jetzt schon hineingenommen in die Lebensgemeinschaft des dreieinigen Gottes. Ja, ganz real, nicht bloß virtuell, nicht bloß auf Knopfdruck im Computer!
Kein Wunder, dass der heilige Johannes hier abschließend von der Freude spricht, die ihm und uns in dieser Gemeinschaft geschenkt wird. Diese Freude ist noch einmal etwas ganz anderes als einfach bloß „Spaß“, um den es so vielen Menschen heute nur noch in ihrem Leben geht. Spaß vergeht sehr schnell wieder, Spaß kann niemals das Leben eines Menschen tragen. Unsere Gottesdienste machen vielleicht nicht unbedingt Spaß. Aber sie schenken Freude, Freude, die viel tiefer reicht als bloß Spaß, Freude, die auch dann noch trägt, wenn aller Spaß vorbei ist, wenn es in unserem Leben so viel gibt, was uns zu Boden drücken will. Ja, du hast unendlich mehr Grund, dich zu freuen, als nur darüber, dass du bei einem Computerspiel gewonnen hast, ja auch unendlich mehr Grund dich zu freuen, als nur darüber, dass du vielleicht einen festen Aufenthalt in Deutschland hast, dass du einigermaßen gesund bist, genug Geld zum Leben hast und ein paar Freunde dazu. Du hast allen Grund, dich zu freuen, weil du es hast, das wahre Leben in Christus, weil du es heute wieder in dir trägst, wenn du diese Kirche verlässt. Was heute hier am Altar geschieht, ist unendlich beglückender als alles, was dir sonst in dieser Welt angeboten werden mag. Du hast Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Das ist sie – die wahre Weihnachtsfreude! Amen.