1. Johannes 1,5 – 2,6 | Dritter Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

„In die Gemeinde in Steglitz gehe ich nicht. Da sind mir zu viele Iraner.“ Schwestern und Brüder – wie oft habe ich diesen Satz in den vergangenen Jahren so oder so ähnlich gehört! Nein, ich habe ihn gar nicht so oft von einheimischen Deutschen gehört; ja, die gibt es natürlich auch, die hier um unsere Gemeinde einen Bogen machen, seit sich herumgesprochen hat, dass hier in unseren Gottesdiensten so viele Menschen aus dem Iran und Afghanistan sitzen und dass auf die sogar noch besonders Rücksicht genommen wird, indem manche Teile des Gottesdienstes auch in ihrer Muttersprache gehalten werden. Öfter schon habe ich solche Kommentare von Menschen gehört, die aus der früheren Sowjetunion stammen und die ihre Informationen über unsere Gemeindeglieder aus dem Iran und Afghanistan nicht aus der Begegnung mit diesen Menschen haben, sondern oftmals nur aus irgendwelchen russischsprachigen Medien, die sehr deutlich machen, dass alle Flüchtlinge ja ohnehin nur Terroristen und Gewaltverbrecher sind. Ich habe diese Kommentare auch kaum einmal von afghanischen Gemeindegliedern gehört, auch wenn vielen von ihnen noch die Behandlung als Menschen dritter Klasse in den Knochen steckt, als sie als Flüchtlinge im Iran leben mussten. Nein, ich habe diesen Kommentar „Da sind mir zu viele Iraner“ am häufigsten von Iranern selber gehört, deren Liebe zu den eigenen Landsleuten sich oftmals doch sehr in Grenzen hält und die die Anwesenheit anderer Iraner tatsächlich mitunter zum Anlass nehmen, sich hier aus der Gemeinde zu entfernen.

Doch nun sehe ich heute Morgen hier eben nicht leere Kirchbänke vor mir, sondern ich sehe Menschen aus den verschiedensten Ländern vor mir sitzen: Jawohl, viele Iraner, die sich von der Anwesenheit anderer Iraner nicht abschrecken lassen, ja, erstaunlich viele Menschen aus Afghanistan, die sich hier in jedem Gottesdienst einfinden, Amerikaner, für die politisch gesehen die Iraner doch die Feinde schlechthin sein müssten, eine ganze Reihe von Finnen, Russlanddeutsche, die unsere Gemeindeglieder persönlich kennengelernt haben und festgestellt haben, dass ja wohl doch nicht alle Mörder und Terroristen sind, und auch noch ein paar einheimische Deutsche. Ja, wie geht das, dass sich hier in unserer Kirche ein so bunter Haufen von Menschen einfindet, von Menschen, die doch gar nicht zusammenzupassen scheinen, von Menschen, denen doch von allen Seiten Misstrauen gegenüber den anderen, die hier in der Kirche sind, gepredigt worden ist? Wie geht das, dass wir als solch eine bunte Gemeinde zusammenleben, in Frieden zusammenleben? Ja, was hält uns eigentlich zusammen?

Genau darum geht es in der Predigtlesung des heutigen Sonntags. Der Apostel Johannes macht uns in ihr sehr eindrücklich deutlich, dass wir hier als Gemeinde nicht zusammenleben, weil wir alle denselben sozialen und kulturellen Background haben, und auch nicht, weil wir alle miteinander so nette und gute Menschen sind. Wer das erwartet, dass wir hier als Gemeinde so gut zusammenhalten, weil wir als Christen nun mal bessere Menschen sind als andere, der irrt sich gewaltig, so zeigt es uns der Apostel hier. Dreierlei ist es vielmehr, was uns als Christen in dieser scheinbar so unmöglichen Gemeinde in Steglitz zusammenleben lässt:

Wir werden zusammengehalten

 

  • dadurch dass wir gemeinsam unsere Sünden bekennen
  • dadurch dass Christus für uns alle gestorben ist
  • dadurch dass Christus in uns allen lebt

 

I.

Es gibt viele Vereine und Vereinigungen, in denen das Zusammenleben dadurch ganz gut funktioniert, dass die Mitglieder voreinander eine gute Show abziehen, dass sie sich selber gegenüber den anderen im besten Lichte darstellen und gleichzeitig verschweigen, was sie in Wirklichkeit von den anderen in ihrem Club halten. Da gibt es dann in solchen Vereinen feste Spielregeln, und an die hält man sich, lügt einander etwas vor, um den Verein zusammenzuhalten.

Dann gibt es natürlich auch Gruppierungen, die funktionieren tatsächlich nur so lange, wie die Mitglieder sich persönlich gut verstehen. Wenn das nicht mehr der Fall ist, fliegt alles auseinander, und die Gruppierung hört auf zu bestehen. Und es gibt Gruppierungen, die funktionieren so lange, wie alle einen gemeinsamen Feind haben oder ein gemeinsames Ziel, das man erreichen will. Und wenn das Ziel dann erreicht ist oder wenn der gemeinsame Feind wegfällt – dann fallen solche Gruppierungen oft auch sehr schnell in sich zusammen.

Das Zusammenleben in der christlichen Gemeinde hingegen funktioniert vollkommen anders, so macht es uns St. Johannes hier deutlich: Es beruht nicht darauf, dass wir voreinander eine Show abziehen und uns gegenseitig belügen, und es beruht auch nicht darauf, dass wir uns alle gegenseitig so sympathisch finden. Sondern als christliche Gemeinde werden wir ganz entscheidend dadurch zusammengehalten, dass wir gemeinsam unsere Sünden bekennen, dass es keinen gibt, der auf den anderen in der Gemeinde herabschauen kann, weil jeder genug damit beschäftigt ist, seine eigenen Sünden Gott hinzuhalten, dass er sie wegnehme.

Schwestern und Brüder, das kann man gar nicht oft genug betonen: Unser Zusammenleben in der Gemeinde gründet sich ganz entscheidend auf das gemeinsame Bekenntnis der Sünden. Weil es niemanden in der Gemeinde gibt, der behaupten könnte, er bräuchte Gottes Vergebung nicht, brauchen wir uns nicht zu belügen, brauchen wir nicht voreinander Theater zu spielen, können wir ehrlich miteinander umgehen.

Ich habe gelernt, wie wichtig es gerade in der iranischen Kultur ist, dass man vor anderen nicht sein Gesicht verliert. Eher geht man aus der Gemeinde weg, als dass man Gefahr läuft, das eigene Gesicht, die eigene Ehre zu verlieren. Doch als Christen haben wir die Möglichkeit, tatsächlich anders miteinander umzugehen. Wir brauchen keine Angst davor zu haben, was andere über uns denken können, weil die anderen doch genauso vor Gott stehen und ihre eigene Sünde bekennen, wie wir dies auch tun. Der Beichtgottesdienst am Sonntagmorgen – er ist eben nicht bloß eine nette Tradition, die wir hier in unserer Gemeinde pflegen. Sondern er ist eine ganz entscheidende Grundlage für das Zusammenleben von so unterschiedlichen Menschen in unserer Gemeinde: Alle miteinander knien wir hier am Sonntagmorgen am Altar, alle miteinander zeigen wir damit, dass wir andere nicht richten können und wollen, weil wir selber ganz auf Gottes Vergebung angewiesen sind. Was für eine befreiende Grundlage für unser Leben hier in der Gemeinde! Ja, was sollten wir da noch wegen anderer Leute weggehen, wenn die anderen mich doch auch als Sünder ertragen!


II.

Doch das Sündenbekenntnis allein würde als Basis für das Zusammenleben in einer Gemeinde noch nicht reichen. Das gab es auch schon zu Zeiten des Kommunismus, dass Menschen dazu gezwungen wurden, öffentlich Selbstkritik zu zeigen – in der Hoffnung, dass sie auf diesem Wege allmählich zu besseren Menschen würden. Doch genau darum geht es in der christlichen Gemeinde nicht, dass Menschen darum ihre Sünden bekennen, weil das nun einmal ein Ritual ist, das von ihnen erwartet wird, oder weil durch das Sündenbekenntnis selber schon alles gut würde.

Sondern das gemeinsame Sündenbekenntnis hat in der christlichen Gemeinde nur darum solch eine Kraft, weil es schon getragen ist von dem, was ihm schon vorausgegangen ist, getragen von der Hingabe des Sohnes Gottes am Kreuz, getragen von ihm, dem Versöhner für unsere Sünden, der nicht nur unsere Sünden getragen hat, sondern die der ganzen Welt.

Ja, das schließt uns als christliche Gemeinde zusammen, dass wir wissen dürfen, dass Christus nicht nur für ein paar ganz besonders fromme Leute gestorben ist, sondern auch für die Gemeindeglieder, die uns ganz fürchterlich auf den Geist gehen und von denen wir vielleicht sogar annehmen, dass sie doch gar keine richtigen Christen sein können. Wir können in der Tat keinem Menschen ins Herz sehen. Doch eines steht fest: Christus ist auch für diesen anderen Menschen, mit dem wir unsere Schwierigkeiten haben mögen, am Kreuz gestorben. Keine Ausnahme gibt es bei Christus: Er ist die Versöhnung nicht nur für unsere Sünden, sondern für die der ganzen Welt. Christus hat auch die Sünden von Ayatollah Khomeini auf sich genommen; er hat auch die Sünden der Taliban auf sich genommen; er hat – man kann es kaum aussprechen – auch die Sünden von Adolf Hitler getragen und sich für sie am Kreuz strafen lassen. Unfasslich ist es, wie weit die Liebe unseres Herrn Jesus Christus reicht!

Und das lässt uns nicht nur die Menschen in unserer Gemeinde noch mal mit anderen Augen ansehen, dass wir erkennen: Für die alle ist Christus am Kreuz gestorben. Sondern das lässt uns eben auch all die Leute noch einmal anders anschauen, die noch gar nicht zur Gemeinde gehören und von denen wir es uns auch beim besten Willen nicht vorstellen können, dass auch sie einmal in unsere Gemeinde kommen könnten. Für uns sind von daher auch Muslime nicht als erstes eine Bedrohung, sondern ebenfalls Menschen, für die Christus am Kreuz gestorben ist und die es so dringend nötig haben, dass sie davon erfahren. Ich kann nicht einen Menschen hassen, für den Christus sein Leben in den Tod gegeben hat. Und erst recht kann ich nicht aus einer Gemeinde weggehen, weil mir die anderen Menschen, für die Christus gestorben ist, nicht passen. Damit würden wir tatsächlich das Opfer Jesu Christi am Kreuz verhöhnen.


III.

Doch damit ist der Gedankengang des heiligen Johannes hier noch nicht zu Ende. Es geht nicht bloß darum, dass Christus damals am Kreuz für uns gestorben ist. Sondern Christus lebt, will in uns leben, will uns mit seinem Licht durchleuchten und durchstrahlen. Derselbe Christus, der für uns am Kreuz gestorben ist, nimmt in dir und in mir Wohnung mit seinem heiligen Leib und Blut hier im Heiligen Abendmahl. Das schließt uns unendlich enger zusammen, als es eine gemeinsame Sympathie oder ein gemeinsames Hobby jemals könnten, dass wir durch die Gemeinschaft mit Christus in ihm sind und er in uns. Ohne die gemeinsame Feier des Heiligen Altarsakraments wäre uns diese Gemeinde wohl schon längst um die Ohren geflogen. Doch weil Christus uns mit sich und gerade so auch untereinander verbindet, stiftet er eine Gemeinschaft, die viel tiefer reicht und prägt – eine Gemeinschaft von Sündern, die durch das Blut Jesu Christi gereinigt sind, das sie hier am Altar aus dem Kelch empfangen.

Ja, all das hat dann auch Konsequenzen in unserem Zusammenleben in der Gemeinde, das lässt uns dann tatsächlich auch liebevoll miteinander umgehen. Da haben Lügen und böse Worte in der Tat keinen Platz mehr. Ja, das stimmt, und das erleben wir auch. Doch wir werden eben auch immer wieder das andere erleben, dass wir bis zu unserem Tod immer wieder neu werden bekennen müssen, dass wir Sünder sind und Christi Vergebung so dringend nötig haben. Aus dieser Spannung kommen wir nicht heraus, aus dieser Spannung, bei der es keinerlei Unterschied gibt, ob jemand Deutscher, Iraner, Afghane oder Amerikaner ist. Hauptsache, wir wissen, dass wir unsere Schuld ehrlich bekennen können, weil Christus sich darüber freut, wenn wir aufhören, vor ihm und den Menschen eine Show abzuziehen! Hauptsache, wir wissen, dass Christus für uns alle gestorben ist. Hauptsache, wir wissen, dass das Blut Christi uns fester miteinander verbindet als das Blut der gemeinsamen Volkszugehörigkeit! Dann werden wir eben gerade nicht weggehen, sondern dort bleiben, wo uns dieses Blut Christi Woche für Woche immer wieder gereicht wird. Nein, es geht hier doch nicht bloß um ein nettes menschliches Miteinander. Es geht darum, dass du gerettet, dass du selig wirst – allein um Christi willen, allein durch seine Vergebung! Ach, dass wir das in unserem Leben niemals, wirklich niemals aus den Augen verlieren mögen! Amen.

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