1. Johannes 3,1+2 | Heiliges Christfest | Pfr. Dr. Martens

Diese Ansprache am Morgen des Christfestes wird nicht auf Farsi übersetzt, sondern richtet sich einmal ganz an die deutschsprachigen Gemeindeglieder. In den anderen farsisprachigen Gottesdiensten werde ich nachher wieder über die Weihnachtsgeschichte predigen. Doch ihr, Schwestern und Brüder, die ihr euch heute Morgen nun in diesem deutschsprachigen Gottesdienst eingefunden habt, bekommt an diesem Weihnachtsmorgen vom Apostel Johannes geistliches Schwarzbrot serviert: Keine Krippe, kein Engel, keine Hirten – noch nicht einmal der Name Jesus Christus wird genannt. Es geht allein um das Thema, dass wir Gottes Kinder sind. Dass das eine Menge mit Weihnachten zu tun hat, das werden wir im Weiteren noch bedenken.

Ja, ich betone das, dass die heutige Ansprache in besonderer Weise an die deutschsprachigen Gemeindeglieder gerichtet ist, denn gerade zu Weihnachten spüren wir besonders deutlich, dass wir auch, wenn wir alle miteinander gemeinsam Christen sind, doch ganz unterschiedliche Erfahrungen mit dem christlichen Glauben hier in unsere Gemeinde einbringen. Für unsere Gemeindeglieder aus dem Iran und Afghanistan ist in aller Regel die Feier von Weihnachten noch etwas sehr Neues; sie erleben diese Feier jetzt hier in Deutschland, haben sie vielleicht schon vorher in einem anderen europäischen Land erlebt. Aber die Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle, die diejenigen unter uns mit Weihnachten verbinden, die dieses Fest seit Kindheit gefeiert haben, die bleiben unseren neuen Gemeindegliedern doch erst einmal fremd.

Ja, Weihnachten ist wohl für die meisten von uns, die wir hier in Deutschland aufgewachsen sind, immer wieder sehr intensiv mit Erinnerungen an die eigene Kindheit verbunden. Es gibt wohl nur wenige unter uns Deutschen, denen bei der Feier von Weihnachten nicht Bilder aus vergangenen Zeiten vor Augen stehen, wie sie selber Weihnachten als Kinder erlebt haben. Mir selber geht es jedenfalls so, dass ich zu Weihnachten immer wieder an meine Kindheit zurückdenke. Da war am 24. Dezember das Wohnzimmer für uns Kinder gesperrt. Allein die Eltern bauten alles auf und bereiteten alles vor – den Weihnachtsbaum und natürlich auch die Geschenke, die, damit es kein Durcheinander zwischen den Kindern gab, für jedes Kind in einem extra-blauen Müllsack untergebracht waren. Und dann saßen wir nach der Christvesper zusammen im Kinderzimmer und warteten sehnsüchtig darauf, dass irgendwann aus dem Wohnzimmer eine kleine Glocke erklang – und dann gingen wir Kinder dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum entgegen, mussten dann erst einmal noch einige Weihnachtslieder singen, was sich nach unserem Empfinden fürchterlich lang hinzog, bis dann schließlich die blauen Müllsäcke zur Erkundung im Kerzenschein freigegeben wurden. Ja, sehr intensiv habe ich das als Kind und auch als Jugendlicher erfahren, dass Weihnachten das Fest ist, an dem die Eltern alles machen und man selber nichts, das Fest, an dem man einfach nur beschenkt wird.

Ja, solche Weihnachtserfahrungen können helfen zu verstehen, was der heilige Johannes hier schreibt, wenn er davon spricht, welch eine Liebe uns der Vater erwiesen hat, dass wir Gottes Kinder heißen sollen. Ja, das ist eigentlich in der Tat unfasslich, dass der Schöpfer der ganzen Welt uns adoptiert hat, dass der König der Welt uns zu seinen Kindern gemacht hat und wir darum tatsächlich die Würde von Königskindern haben. Doch umgekehrt haben wir uns an diesen Gedanken schon so sehr gewöhnt, dass uns die Aussage, dass wir Gottes Kinder sind, zumindest als geborene Deutsche zumeist nicht mehr sonderlich vom Hocker haut. Seit den Zeiten der Aufklärung wurde das Wunder, das sich ganz konkret in unserem Leben in unserer Taufe ereignet hat, dann ja auch noch einmal verallgemeinert und auf alle Menschen, ganz unabhängig von ihrer Taufe, bezogen: „Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“

Doch gerade die Erinnerung an Weihnachten kann uns noch einmal besser zu verstehen helfen, was es bedeutet, Kind zu sein: Kind bedeutet: Ich brauche gar nichts zu machen, mein Vater macht alles für mich. Er beschenkt mich – und ich darf mich einfach nur darüber freuen. Dass auch ich Kind Gottes bin, verdanke ich nicht meinem guten Benehmen, ist kein Ehrentitel, der mir aufgrund meiner intensiven Religiosität verliehen worden ist. Sondern dass ich ein Kind Gottes bin, verdanke ich einzig und allein der Liebe des Vaters, der mich in seiner Liebe zu dem gemacht hat, was ich selber von mir aus niemals werden könnte: Kind Gottes, jawohl: Kind Gottes!

Doch nun besteht tatsächlich ein entscheidender Unterschied zwischen unseren Weihnachtserfahrungen und dem, dass wir Kinder Gottes sind. Unsere intensiven Weihnachtserfahrungen als Kinder gehören der Vergangenheit an; im Laufe der Zeit hat sich unser Verhältnis zu den Eltern naturgemäß verändert; wir sind nicht mehr die Kleinen, für die die Eltern alles machen – auch wenn es mitunter für Eltern noch schwerer ist als für ihre Kinder, dies im Laufe der Jahre einzusehen. Wir begegnen uns im Laufe der Zeit auf Augenhöhe, bis schließlich die Zeit kommt, in der wir dann an unsere Eltern nur noch zurückdenken können, endgültig hier auf Erden keine Kinder mehr sind. Doch in unserem Verhältnis zu Gott gibt es diese Entwicklung nicht: Kind Gottes zu sein ist nicht eine schnulzige Erinnerung an die Vergangenheit, sondern das bleiben wir unser Leben lang bis zum letzten Atemzug: Menschen, die ganz und gar davon leben, dass ihr Vater alles für sie macht, sie ganz und gar beschenkt, Menschen, die nicht im Laufe der Zeit ihr Kindsein hinter sich lassen oder die schließlich gar über Gott nur noch im Vergangenheitsmodus sprechen können. Nein, ich darf bei Gott immer das glückliche Kind bleiben, das ich selber an den Heiligen Abenden in meiner Kindheit war.

Nun macht der heilige Johannes hier allerdings eine feine, aber wichtige Unterscheidung: Er spricht davon, dass wir Kinder Gottes sind, aber er nennt uns nicht Söhne und Töchter Gottes. Der Titel des Sohnes Gottes bleibt einzig und allein dem vorbehalten, der nicht erst zum Sohn Gottes adoptiert wurde, sondern es schon in alle Ewigkeit war und ist: dem, dessen Geburt als kleines Baby im Stall von Bethlehem wir an diesem Christfest feiern. Ja, dieser Unterschied bleibt – und doch sagt Johannes hier zugleich etwas ganz Großartiges. Er kündigt allen Ernstes an, dass wir einmal am Ziel unseres Weges als Kinder Gottes ihm, Jesus Christus, gleich sein werden. Es wird einmal sichtbar zu erkennen sein, dass wir mit Jesus Christus verwandt sind, dass wir zur selben Familie gehören.

Wenn Johannes hier davon spricht, dass wir ihm, Jesus, gleich sein werden, ist damit natürlich nicht gemeint, dass wir einmal alle dieselbe Haar- und Augenfarbe wie Jesus haben werden. Sondern gemeint ist damit, dass wir durch unsere Zugehörigkeit zu Gottes Familie so sehr geprägt werden, dass wir tatsächlich einmal wie Jesus sein werden.

Schwestern und Brüder: Ja, darum geht es in unserem christlichen Glauben, darum geht es ganz besonders jetzt an diesem Weihnachtsfest: Unser Heil besteht in der Tat darin, dass wir mit Jesus Christus eins werden, so sehr eins werden, dass wir ihm am Ende tatsächlich gleich sein werden. Das bedeutet nicht, dass wir im Laufe unseres Lebens immer weniger sündigen und am Ende dann ganz sündlos wie Jesus dastehen. Nein, wir werden Jesus dadurch immer mehr gleich, dass eben dieser Jesus uns immer wieder die Sünden wegnimmt, uns immer mehr mit seiner Liebe, mit seiner Vergebung umkleidet, ja, prägt, ohne dass wir das selber vielleicht besonders wahrnehmen könnten. Ja, genau darum geht es auch bei jeder Feier des Heiligen Mahles: Da empfangen wir den Leib und das Blut dessen, der für uns Mensch geworden ist, Mensch aus Fleisch und Blut, da lebt dieser Jesus Christus in uns und prägt uns durch seine Gegenwart, durch sein Leben in uns. Derselbe Sohn Gottes, der sich so klein für uns gemacht hat, dass er in eine Krippe gepasst hat, macht sich für uns noch kleiner, dass er in ein Stück Brot und ein wenig Wein passt – damit wir dann, wenn wir ihn einmal am Ende unseres Weges sehen werden, erkennen werden: Wir sind ja tatsächlich gleich, Kinder unseres Vaters, ganz umfangen von seiner Liebe.

Ich erwähnte eben schon, dass zu meinen Kindheitserinnerungen zu Weihnachten auch dies gehört, dass ich als Kind das Warten kaum aushalten konnte, bis ich endlich mit eigenen Augen sehen konnte, was meine Eltern für mich vorbereitet hatten. Ja, auch in diesem Sinne sind wir Kinder Gottes: Menschen, die es kaum noch aushalten können, darauf zu warten, dass sie einmal Jesus sehen werden – ja, den Jesus, den wir jetzt schon kennen, von dem wir jetzt schon so viel wissen, und über den wir dann schließlich doch einmal für immer, in alle Ewigkeit voller Freude staunen werden: Ja, sogar noch viel mehr, als ich damals beim Öffnen der blauen Mülltüte. Amen.

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