1. Johannes 4, 16b -21 | 1. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens
Wenn ich mit Menschen aus dem Iran spreche, die hierher in unsere Gemeinde kommen, um sich taufen zu lassen, und sie frage, warum sie sich taufen lassen wollen, dann höre ich in der Antwort immer wieder ein Wort: mohabat. Mohabat heißt Liebe, und Mohabat TV ist zugleich auch der bekannteste christliche Fernsehkanal, der auf gewissen Umwegen auch im Iran selber empfangen werden kann. Es ist kein Wunder, dass sich dieser Fernsehsender gerade Mohabat, also Liebe, nennt. Offenbar ist es das, was für einen Menschen im Iran, der vorher den christlichen Glauben nicht kannte, diesen Glauben so anziehend macht: Es geht im christlichen Glauben um Liebe. Und entsprechend berichten mir andere Menschen, dass sie sich darum im Iran dem christlichen Glauben zugewendet hätten, weil sie bei Christen und von Christen eine Liebe erfahren hätten, die sie ansonsten in dieser Form überhaupt nicht kannten.
Um Liebe geht es ganz offenkundig auch in der Epistel des heutigen Sonntags. „Gott ist die Liebe“ – dieses Wort gehört gewiss zu den bekanntesten Worten der ganzen Heiligen Schrift überhaupt. Doch gerade weil es so bekannt ist, ist die Gefahr groß, dass es so abgedroschen klingt, dass man geneigt ist, überhaupt nicht mehr genauer hinzuhören auf das, was damit gemeint ist. Doch Dietrich Bonhoeffer hat es in einer Taufansprache für seinen Neffen auf den Punkt gebracht: „Es gehört zu der Bestimmung der Kirche, dass sie solche Dinge zum Menschen sagen muss, die diese entweder als gutgemeinte Phrase und als Unwahrheit oder als Selbstverständlichkeit empfinden.“ Davon, dass Gott die Liebe ist, soll also in dieser Predigt die Rede sein, ganz klar. Aber es soll so davon die Rede sein, dass deutlich wird: Hier geht es eben nicht um eine gutgemeinte Phrase, nicht um ein bisschen Gefühlsduselei, sondern in der Tat um eine hochaktuelle, aufregende Botschaft, um die beste Botschaft der Welt.
Was ist mit der Liebe gemeint, von der Johannes hier sagt, dass Gott eben diese Liebe ist? Johannes erläutert es in seinem Brief sehr klar: Liebe ist nicht ein unbestimmtes Gefühl, dass Gott die Liebe ist, bedeutet nicht, dass er alles okay findet, was Menschen machen, und für alles Verständnis hat. Sondern Liebe bedeutet für Johannes Hingabe bis in den Tod hinein. Dass Gott die Liebe ist, wird am deutlichsten erkennbar in dem Tod des Sohnes Gottes am Kreuz. Gott ist die Liebe – darin lässt sich das Bekenntnis der christlichen Kirche zusammenfassen, dass Gott der dreieinige Gott ist: Der Vater will nicht für sich sein, sondern sendet aus Liebe den Sohn in diese Welt. Vater und Sohn senden den Heiligen Geist, um den Menschen an der göttlichen Liebe Anteil zu geben. Der Heilige Geist führt Menschen zu Jesus Christus, und Jesus Christus führt die Menschen in die Gemeinschaft mit Gott dem Vater. Es ist eine einzige große Liebesbewegung, in der Gott selbst sich auf die Menschen zubewegt und sie in seine Gemeinschaft, ja, an sein Herz zieht. Ja, Gott ist die Liebe.
Und diese Liebe ist nun gleichsam wie ein Raum, der uns umgibt. Es geht im christlichen Glauben gerade nicht darum, dass wir etwas tun müssen, um uns Gottes Liebe zu verdienen oder zu erwerben. Es geht einzig und allein darum, dass Gott selber uns mit seiner Liebe umhüllt und wir in dieser Liebe nun bleiben sollen, ja, einfach nur bleiben. Gott umhüllt uns mit seiner Liebe – genau das ist in unserer Taufe geschehen, dass wir Christus angezogen haben wie ein Gewand, dass wir seitdem in ihm leben, der die Liebe in Person ist. Und während wir bei diesem bekannten Satz aus der Bibel so leicht geneigt sind, immer nur auf die ersten Worte zu hören, in denen davon die Rede ist, dass Gott die Liebe ist, überhören wir viel leichter die letzten Worte dieses Satzes: Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Du bleibst in Gott und Gott in dir – Hast du dir das schon einmal richtig klargemacht, was das heißt: Du bist in deinem ganzen Leben umfangen von Gott, der die Liebe ist. Du magst in deinem Leben schon so viel verloren haben: deine Heimat, deine Familie, geliebte Menschen, die gestorben sind, deine Gesundheit, ja vielleicht auch das Vertrauen in andere Menschen. Doch eins auf der Welt kann dir niemand nehmen: Dass du in Gott geborgen bist, dass er dich trägt und umhüllt, dass er dir so nahe kommt, dass er in dir lebt. Ja, Gott lebt in dir – der Herr und Schöpfer des Universums lebt in dir, der Herr, der sich für dich am Kreuz in den Tod gegeben hat, der lebt in dir. Darum kann man das Heilige Abendmahl in der Tat als ein Mahl der Liebe bezeichnen, weil Gottes Liebe sich darin so zeigt, dass Gottes Sohn leibhaftig in uns Wohnung nimmt: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm.
Gott ist die Liebe – warum ist dieser Satz so wichtig für uns? Johannes macht es sehr klar: Dass Gott die Liebe ist, ist darum so wichtig für uns, weil vor uns der Tag des Gerichts liegt. „Tag des Gerichts“ – das klingt für uns erst einmal sehr unangenehm und bedrohlich, und das sicher nicht ohne Grund. Wer von uns könnte denn an diesem Tag des Gerichts allen Ernstes von sich aus bestehen mit all dem, was er in seinem Leben gedacht, gesagt, gemacht und nicht gemacht hat? Normal wäre es in der Tat, dass wir uns vor diesem Tag fürchten, dass wir mit Strafe rechnen müssten an diesem Tag, dass wir vielleicht auch darüber nachdenken müssten, wie wir es schaffen könnten, an diesem Tag vielleicht doch noch der Höchststrafe zu entkommen. Doch dass Gott die Liebe ist, macht in der Tat alles, wirklich alles anders. Weil wir von seiner Liebe umfangen und in ihr geborgen sind, können wir allen Ernstes ohne Furcht diesem Tag des Gerichts entgegenblicken, brauchen keine Angst zu haben, dass uns an diesem Tag die Strafe, ja die Hölle droht.
Schwestern und Brüder, was für eine wunderbare Botschaft das ist, das können vor allem diejenigen unter uns erahnen, denen ihr Leben lang mit der Hölle, mit dem Tag des Gerichts, mit der Ankündigung von furchtbaren Strafen Angst eingejagt worden ist: Du brauchst keine Angst zu haben. Christus hat die Strafe auf sich genommen, damit du frei von Furcht leben darfst, getröstet und getragen von der Liebe deines Herrn. Ach, dass wir das doch ja niemals eine Selbstverständlichkeit, als einen Allgemeinplatz ansehen mögen!
Dass Gott die Liebe ist, dass wir von dieser Liebe umhüllt sind, hat dann allerdings auch ganz praktische Konsequenzen: Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wir lieben nicht die anderen, damit Gott uns auch liebt, sondern weil Gott uns zuerst geliebt hat, ja, wir können überhaupt nur so lieben, wie wir lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat.
Ich wiederhole es noch einmal: Liebe ist in der Bibel kein schönes Gefühl. Sondern Liebe bedeutet: Hingabe, Verzicht auf den eigenen Vorteil, Schauen auf das, was dem anderen dient. Genau darum geht es in der christlichen Gemeinde; genau das ist ein immer wieder neues aktuelles Thema auch in unserer Gemeinde. Dass wir in der Gemeinde einander lieben, das heißt in der Tat, dass wir uns nicht aus der Gemeinde ausklinken, weil es da Leute in unserer Mitte gibt, die wir nicht mögen, oder weil wir so viele Brüder und Schwestern nun auch wieder nicht haben oder zumindest nicht dauernd sehen wollen. Dass wir in der Gemeinde einander lieben, das heißt in der Tat, dass wir Respekt zeigen vor dem, was andere uns sagen, und uns nicht selber für den Mittelpunkt der Gemeinde halten. Dass wir in der Gemeinde einander lieben, das heißt in der Tat, dass keine Worte über unsere Lippen kommen, die andere verletzen. Dass wir in der Gemeinde einander lieben, das heißt in der Tat, dass wir uns freuen, wenn wir sehen, dass der Glaube anderer in der Gemeinde gestärkt wird, auch wenn wir selber davon vielleicht nicht so viel haben. Ja, das geschieht in unserer Gemeinde, ich weiß, und darüber freue ich mich. Und trotzdem schreibt der Apostel zugleich auch: Lasst uns lieben, argumentiert, wirbt, ermutigt die Christen dazu, tatsächlich diese Liebe zu üben, die sie selber doch von Christus empfangen haben. Ja, er macht sehr deutlich: Ein Christ, der die Geschwister in der Gemeinde nicht liebt, der meint, ihm würde seine persönliche Beziehung zu Jesus reichen, der ist ein Lügner. Ich kann nicht Gott lieben und meinen Bruder, meine Schwester in der Gemeinde nicht lieben. Wenn ich meine Schwester, meinen Bruder in der Gemeinde nicht liebe, wenn ich nicht danach frage, was sie brauchen, was ihnen dient, wenn mir ihr Geschick nicht am Herzen liegt, dann stimmt etwas grundsätzlich nicht mit meiner Beziehung zu Gott, mit meiner Liebe zu Gott. Dann habe ich es dringend nötig, dass Gott mich verändert, dann habe ich es dringend nötig, wieder neu zu bedenken, was es für mich und mein Leben heißt, dass Gott die Liebe ist.
Vom Bruder ist hier in unserer Lesung die Rede, wobei die Schwestern grammatisch dabei immer mit eingeschlossen sind. Jedenfalls macht Johannes hier sehr eindrücklich deutlich, dass die christliche Gemeinde der erste Bewährungsort für unseren Glauben ist und dass denen, die unsere Geschwister sind, in ganz besonderer Weise unsere Liebe gelten sollte. Das schließt die Liebe zu allen anderen Menschen gerade nicht aus; aber ich kann eben nicht nur irgendwelche fernen Menschen lieben und diejenigen übergehen, mit denen ich unmittelbar zu tun habe und mit denen ich durch die gemeinsame Bindung an Christus verbunden bin.
Dies zu betonen, ist leider keine Selbstverständlichkeit, so haben wir es gerade in den Diskussionen der vergangenen Tage und Wochen um das Schicksal christlicher Asylbewerber in den Aufnahmeeinrichtungen unseres Landes erlebt. Nein, es ist nicht unanständig oder gar unchristlich, in besonderer Weise für die eigenen Geschwister im Glauben einzutreten und auf ihre Nöte aufmerksam zu machen. Wer die Nöte der eigenen Geschwister im Glauben herunterspielt oder sie gar als Lügner diffamiert, wie wir dies leider auch kirchlichen Kreisen in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder erlebt haben, der zeigt damit, dass er herzlich wenig von dem verstanden hat, was Johannes hier schreibt. Wer vor den Nöten der eigenen Glaubensgeschwister die Augen verschließt, dem gelten die Worte des Apostels in besonderer Weise: Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Augen zu gilt nicht – Hinschauen ist angesagt, und dann auch Hingabe, auch wenn man sich damit vielleicht nicht besonders beliebt macht. Denn gerade die, die in ihrem Leben ganz neu entdeckt haben, was der christliche Glaube für sie bedeutet, haben ein Recht darauf, von uns zu erfahren, was den christlichen Glauben ausmacht: eben Liebe, Mohabat! Amen.