1. Johannes 4, 7-12 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Pfr. Dr. Martens

Er hatte auf seiner Flucht Schreckliches erfahren – und nun sollte er aus Deutschland wieder abgeschoben werden. Eigentlich war diese Abschiebungsankündigung ein offenkundiges Versehen; eigentlich hatte und hat er das Recht dazu, sein Asylverfahren hier in Deutschland durchzuführen. Doch bevor dieser Irrtum korrigiert werden konnte, wollten die Verantwortlichen Fakten setzen und ihn loswerden, bevor die Gerichte ihnen Einhalt gebieten konnten. Und so stand der junge Mann aus Eritrea am Donnerstag bei uns vor der Tür. Keine Gemeinde in der evangelischen oder in der römisch-katholischen Kirche hier in Berlin war bereit gewesen, ihm zu helfen und ihn aufzunehmen. Und so rückten die, die hier bei uns in den Gemeinderäumen wohnen, noch ein wenig dichter zusammen, damit auch er endlich wieder ohne Angst und Furcht schlafen konnte.

Wenige Stunden später bekomme ich einen Anruf: Ein afghanischer Flüchtling, der schon seit Jahren Christ ist, ist hier in Berlin am Bahnhof angekommen. Aus Norwegen musste er fliehen, weil man dort seine Hinwendung vom Islam zum christlichen Glauben nicht als Asylgrund anerkannte, wie in so vielen anderen Fällen auch. Und so rückten die, die hier bei uns in den Gemeinderäumen wohnen, noch ein wenig dichter zusammen, damit er die erste Nacht in Deutschland nicht auf der Straße verbringen musste.

Schwestern und Brüder, ich habe diese Predigt ganz bewusst mit zwei Berichten von dem Tag begonnen, an dem ich diese Predigt geschrieben habe. Es geht ja in der Epistel dieses heutigen Sonntags unüberhörbar um die Liebe, und das klingt alles so schön und einleuchtend und harmonisch, was wir in der Predigtlesung gehört haben – so schön und einleuchtend, dass wir uns gar nicht mehr klarmachen, was der heilige Johannes uns hier denn nun eigentlich deutlich machen will. Nein, ihm geht es gerade nicht darum, ein paar nette Sprüche für fromme Poesiealben zu produzieren; sondern er macht uns hier deutlich, dass Liebe unendlich mehr ist als einfach nur ein schönes Gefühl, als ein nettes Miteinander, als eine moralische Forderung, der man schwerlich widersprechen kann. Die Liebe, von der St. Johannes hier spricht, die wird ganz konkret erfahrbar – im Zusammenleben der christlichen Gemeinde, im Zusammenleben der Schwester und Brüder.

Was erfahren wir hier im Zusammenleben der christlichen Gemeinde über die Liebe? Wir erfahren zunächst einmal aus Gottes Wort, dass sie nie und nimmer eine moralische Forderung ist, die wir zu erfüllen haben: „Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat.“ Die Liebe, die wir als Christen in der christlichen Gemeinde erfahren, hat ihren Ursprung immer in Gott; sie ist und bleibt zuerst und vor allem immer Gottes Liebe. Ja, das ist ganz elementare, grundlegende christliche Glaubenslehre, dass nicht wir irgendetwas tun können oder müssen, um uns Gottes Liebe zu verdienen, dass Gottes Liebe nicht die Reaktion auf unser menschliches Wohlverhalten, auf unsere Einhaltung von Geboten, auf unsere menschliche Liebe ist. Das ist ganz elementare, grundlegende christliche Glaubenslehre, dass Gottes Liebe unserer Liebe immer schon vorausgeht und dass Gottes Liebe eben nicht bloß eine Idee oder eine Theorie ist, sondern sich ganz konkret darin gezeigt hat, dass Jesus Christus für uns am Kreuz gestorben ist, um all das wegzunehmen, was uns am Leben in der Gemeinschaft mit Gott hindern könnte.

Nein, auf diese Idee würde kein Mensch von sich aus kommen, dass nicht wir uns den Weg in den Himmel verdienen müssen, sondern Gottes Liebe längst getan hat, was wir nie hätten tun können. Von dieser Liebe erfahren wir wirklich nur in der Gemeinschaft der christlichen Gemeinde, im Gottesdienst, ganz besonders, wenn wir den Leib und das Blut unseres Herrn im Heiligen Mahl empfangen, wenn wir dort in unüberbietbar dichter Weise erfahren, was es heißt, dass Gott die Liebe ist.

Liebe heißt: Hingabe bis in den Tod, Verzicht auf eigenes Recht, Verzicht darauf, durchzusetzen, was einem zusteht und eigene Vorteile verschafft. Genau so erkennen wir es staunend, wenn wir auf den gekreuzigten Christus blicken, genau so erkennen wir, wie und warum es unser Heil und unsere Rettung ist, dass Gott die Liebe ist: Er, unser Herr, stirbt für uns, damit uns auch unser Versagen in der Liebe zu Gott und dem Nächsten nicht vom Himmel ausschließt.

Radikal ist die Liebe, die Gott in der Hingabe seines Sohnes zeigt, nicht wohltemperiert, keine halbe Sache. Und genau darum geht es nun auch im Zusammenleben der christlichen Gemeinde. Die christliche Gemeinde ist eben kein frommer Rotary Club. Da können wir uns nicht aussuchen, wer alles dazugehört, wer alles dazukommt, neben wem wir in der Kirche sitzen und wer denn unsere Hilfe und Zuwendung benötigt. Gott selber hat uns in die Gemeinschaft dieser Gemeinde gerufen, als er uns in der Taufe mit seiner Liebe umhüllt hat – und nun sitzen wir hier in dieser Gemeinschaft, und eben in dieser Gemeinschaft soll sich nun bewähren, was wir von Gott selber empfangen haben.

Es ist ziemlich leicht, Menschen in Afrika zu lieben. Es ist ziemlich leicht, auch andere Christen zu lieben, die man bei irgendeinem großen Kirchentreffen mal für ein paar Tage zu sehen bekommt. Doch die Liebe, um die es St. Johannes hier geht, ja, um die es Gott selber geht, die ist nicht bloß eine allgemeine Einstellung, sondern die bewährt sich, wenn einem der Bruder oder die Schwester mit ihrer Not, ja auch mit ihren Macken dichter auf die Pelle rückt, als man sich das selber zunächst einmal wünschen mag.

Die Liebe, von der Gottes Wort hier spricht, beschränkt sich nicht darauf, beim gemeinsamen gemütlichen Kaffeetrinken dem Nachbarn freundlich das Sahnekännchen weiterzureichen. Sie zeigt sich darin, dass ich in der Gemeinde bereit bin, auf das zu verzichten, was mir eigentlich zusteht, was immer mein Recht gewesen war. Sie zeigt sich darin, dass ich nicht zuerst danach frage, was mir das Zusammenleben in der Gemeinde bringt, sondern dass ich danach frage, wo die Schwester, der Bruder mich braucht. Sie zeigt sich darin, dass ich nicht auf Abstand zu den Geschwistern in der Gemeinde bleibe, sondern das Risiko eingehe, dass ich mit ihrem Leid und ihrer Not direkter konfrontiert werde, als ich es mir vielleicht zunächst einmal wünschen mag. Liebe zeigt sich darin, dass ich mich um des anderen willen vielleicht gar in Gefahr begebe, Nachteile riskiere, jedenfalls nicht wegschaue wie der Priester und der Levit im Heiligen Evangelium dieses Tages.

Ja, von solcher sehr konkreten Liebe, in der sich etwas widerspiegelt davon, dass Gott selbst die Liebe ist, kann man etwas erfahren, wenn man hier mal abends in unsere Gemeinderäume kommt, wenn man all die Menschen mit ihren Nöten und Lasten sieht, die sich hier in der Gemeinde einfinden und hier ganz handfest erfahren, was es für uns heißt, dass Gott die Liebe ist. Ach, es geht doch nicht darum, dass wir uns selber auf die Schulter klopfen und so tun, als würde es bei uns mit der Liebe besser klappen als anderswo. Johannes selbst macht uns hier deutlich, was für eine Verheißung dieses Leben aus der Liebe Gottes im Alltag der Gemeinde in sich trägt: Gemeinsam erfahren wir hier etwas von der Kraft, die Gottes Liebe in unserem Zusammenleben entfaltet. Gemeinsam erfahren wir etwas davon, wie wunderbar es ist, gemeinsam aus Gott geboren zu sein, gemeinsam Geschwister zu sein in dem einen Herrn, ganz gleich, wie unterschiedlich unser irdischer Geburtsort auch gewesen sein mag.

„Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.“ Was für ein großartiges Versprechen, das Johannes uns hier macht! Und was für eine Freude, dass wir genau dies in unserer Mitte immer wieder erleben dürfen. Gott in uns, mitten unter uns, zwischen durchgelegenen Matratzen, umgeben von reichlich herbem Männerschweiß. Gott in uns, mitten unter uns, in einem übervollen Kirchgebäude, in dem so mancher einfach nicht ruhig zu sitzen vermag, sich ganz anders verhält, als wir uns dies wünschen würden. Gott in uns, mitten unter uns, wenn wir uns mitunter auch mit Tränen in den Augen in den Armen liegen, weil all das Leid, das wir hier miteinander erfahren, mitunter kaum auszuhalten ist. Ja, da ist er mitten unter uns, er, der Herr, der selber für uns gelitten hat bis in den Tod, da dürfen wir seine Nähe erfahren, die ihren Ursprung doch immer wieder hat in seiner liebevollen Hingabe an uns hier am Altar.

Gott ist die Liebe – was für ein unglaublich schöner und tröstlicher Satz, was für eine unendlich tröstliche und schöne Wahrheit, aus der wir leben dürfen! Und was für eine wunderbare Erfahrung, die wir hier miteinander machen dürfen: Gottes Liebe trägt und prägt und verändert uns, wie wir es selber wohl nie erwartet hätten. Ach, wie reich sind wir von dieser Liebe beschenkt, gerade und besonders auch da, wo wir in unserer Hingabe an unsere Grenzen stoßen! Ja, Gott geb’s, dass wir diese Liebe immer mehr miteinander hier in unserer Gemeinde entdecken! Amen.

Zurück